VORBEMERKUNGEN, also, das ganze Zeug, das ich erklärenderweise gerne loswerden möchte - diese können auch ohne große Verluste übersprungen werden, nach der Linie geht's weiter.
Der DISCLAIMER gilt für die ganze Geschichte und beinhaltet: im Wesentlichen JK Rowling, und dann noch einen zuckerniedlichen Running Gag aus Terry Pratchetts "Witches Abroad", der hier mehr oder weniger deutlich verwurstet wurde, sowie einen Songtitel von den Einstürzenden Neubauten, der eher nicht auffallen wird, weil er nämlich, yay, ein ganz normaler, gebräuchlicher, grammatisch korrekter deutscher Satz mit drei Wörtern ist. Und eine Zeile aus Samuel Becketts "Warten auf Godot", die auf jeden Fall auch für Laien erkennbar ist. Ein oder zwei Formulierungen könnten evtl. von Max Goldt inspiriert sein.
Uh. Der Disclaimer wird gerade 'ne massive Werbekampagne. Hört Neubauten! Lest Max Goldt!
Den ENTSCHLUSS, das Ding hier zu schreiben, fasste ich im Übrigen endgültig, nachdem ich eine Kommilitonin unschuldig gefragt hatte, ob sie evtl. Sven Regener gelesen hätte. Die Antwort war ein leicht hochnäsiges "Ich lese keine Popliteratur", und in dem Moment dachte ich mir, na, das geht ja so nicht an, von jetzt an nur noch Popliteratur. Vielleicht findet man das ja ansatzweise.
Der SINN des Ganzen? Das hier ist so eine Art Vorgeplänkel zum Bürgerkrieg Ende der 70er Jahre, im Wesentlichen geht es um den Konsum von Kaffee, und mit Liliacea, also, dieser leicht überdramatischen ellenlangen FF, an der ich vor Jahren jahrelang geschrieben hab, hat's insofern was zu tun, als dass die gleichen Charaktere drin vorkommen. Prequel würd ich eigentlich nicht sagen wollen, und wenn schon Prequel, dann zu einer Liliacea, so wie ich sie heute schreiben würde, und im Zweifelsfall gewinnen eh die Fakten aus OotP. Sind allerdings ein paar Anspielungen und Verweise drin, damit die Liliacea-Leser auch ihren Spaß dran haben.
Der PLOT geht so: Lily verlebt sehr betuliche Ferien. Dann bekommt sie Besuch, und zu ihrer großen Zerknirschung ändert sich an der Betulichkeit nicht viel. Außer manches.
Das Ganze hat insgesamt vier ungefähr gleichlange Teile, die in den nächsten Tagen hochgeladen werden.
Das war's schon.
Coffee To Go, Teil 1
"Und überhaupt würde mich mal interessieren, was die Frage eigentlich soll", sagt Lily genervt. Sorgfältig reiht sie die Kaffeetasse und den Kaffeetrichter und den Kaffeefilterbeutel und die Dose mit dem Kaffeepulver und die Flasche Milch und die Tüte Zucker auf dem Küchentisch auf. "Die Kaffeepflanzer im Regenwald, die können dir doch egal sein."
"Jetzt lass sie doch mit diesem Kaffeepflanzerquatsch in Ruhe, Geoff", mischt sich ihre Mutter ein. "Ein Pfund sechzig kostet das inzwischen!" Lilys Vater lässt noch nicht einmal die Zeitung sinken.
"Ja, und die Kaffeepflanzer verdienen vielleicht einen Dollar im Monat. Oder noch weniger!" stellt er fest.
Lily findet auf ihrer Suche nach Streichhölzern mindestens zwei leere Schachteln und dann erst eine volle. Das erste Streichholz brennt nicht, das zweite bricht durch und kokelt fröhlich das Linoleum an, das dritte ist gut und sogar der Gasherd tut ihr den Gefallen, nicht in die Luft zu gehen. Nett vom Gasherd. Sie stellt den Wasserkessel auf die Flamme.
"Ihr solltet hier mal nicht so viel Zeug rumliegen lassen, wo wir doch Besuch bekommen", sagt Lily hilfreich und deutet auf die leeren Streichholzschachteln, die jetzt neben der Zuckertüte liegen, in der Hoffnung, dass ihr Vater endlich dieses dämliche Kaffeepflanzerthema loswird. Weia, ist das spät. Jetzt bloß nicht noch extra Eile machen, dann vertut man sich und dann wird der Kaffee nicht perfekt und dann Gute Nacht.
"Wann kommt denn dein Besuch? Solltest du dich nicht bald fertig machen?" fragt ihre Mutter.
Lily findet das ja selbst auch, aber es gibt nicht viel, das sie machen kann, während sie hier am Herd steht und darauf wartet, dass der Wasserkessel pfeift. Sie hat zur unteren Hälfte einen Schlafanzug und zur oberen Hälfte was normales an, und Socken wird sie noch anziehen müssen und vielleicht ihre Haare kämmen, obwohl, sie muss ja bloß bis zum Bahnhof, da muss man nicht extra Haare kämmen für. Aber föhnen. Föhnen sollte sie ihre Haare auf jeden Fall.
"Ach, ich hab da noch Zeit", wehrt sie ab. Ihre Mutter hat aber inzwischen schon den Brief auseinandergefaltet, den Justine an Lilys Eltern geschrieben hat und der klingt wie von der eigenen Mama diktiert. Eine Handvoll artige Dankesbekundungen und dazwischen die Information, man möge sie doch um vier Minuten nach neun am Bahnhof abholen kommen, bitteschön. Der Kessel pfeift.
"Hier steht, dass sie neun Uhr vier am Bahnhof ist. Das ist in einer halben Stunde!"
"Einen Dollar verdienen die im Monat. Manchmal auch weniger", wiederholt ihr Vater, der sich möglicherweise ignoriert fühlt. Lily hat inzwischen ganz andere Probleme. Der Kaffeefilter ist nämlich geplatzt. Blöd. Sie gießt die Kaffeepampe in den Ausguss und setzt zähneknirschend noch einmal Wasser auf. Langsam findet sie die Welt auch nicht mehr okay.
"Wo verdienen die denn nur einen Dollar im Monat?" fragt sie.
"Du sollst doch keinen Kaffeesatz in den Ausguss schütten", sagt ihre Mutter, "das hab ich dir doch schon hundertmal erklärt, dass der verstopft, wenn man da Kaffeesatz reinschüttet." Ja, denkt Lily. Kaffeesatz und Teeblätter und vergammelten Joghurt und eigentlich alles, was nicht geläutertes Weihwasser ist, darf man da nicht reinschütten, der verstopft bloß. Wie unpraktisch.
"Na, die Kaffeepflanzer. Die im Regenwald."
Lily löffelt derweil schon wieder Kaffeepulver in die Filtertüte und merkt, wie der Koffeinmangel sie langsam aufregt.
"Was hast du denn schon für eine Ahnung von Kaffeepflanzern, ich meine, kannst du mir ein einziges kaffeeexportierendes Land nennen? Eins, wo die Kaffeepflanzer nur einen Dollar im Monat verdienen? Oder noch weniger?" Außerdem ist die Kaffeedose jetzt leer. Sie würden heute noch irgendwo Kaffeepulver kaufen müssen, sonst hätten sie Samstag keinen Kaffee und Sonntag keinen Kaffee und Montag auch keinen Kaffee, so sieht das nämlich mal aus in der Kleinstadt.
Ihr Vater nimmt milde lächelnd die Lesebrille ab und schielt quer durch die Küche auf die Beschriftung der Kaffeedose.
"Na, sagen wir, Brasilien zum Beispiel. Die brasilianischen Kaffeepflanzer, die werden auch alle ausgebeutet. Findest du das okay?"
Kaffee! Kaffee! Kaffee! Lilys Kaffee ist fertig und sie schüttet Milch dazu, löffelt Zucker hinein, rührt um, kostet und löffelt noch mehr Zucker hinein. Wie soll sie das denn nicht okay finden? Der will mich bloß ärgern, denkt sich Lily, und irgendwie ärgert sie das, also sagt sie:
"Aber das geht doch gar nicht, dass die da nur einen Dollar im Monat verdienen, die haben doch gar keine Dollars in Brasilien. Die haben da doch weißichnicht, irgendwas anderes haben die in Brasilien." Ein kleiner Schluck Kaffee, und noch einer, und inzwischen hebt sich ihre Stimmug ein wenig.
"Also Lily, du solltest dich wirklich langsam umziehen. Und kämm dich mal ordentlich, du läufst in letzter Zeit immer so zerzaust herum!" sagt Lilys Mutter.
Kaffee.
"Das hab ich auch gar nicht gemeint, dass die jetzt in Brasilien einen Dollar an sich verdienen, ich hab doch gemeint, dass die da das Dingsbums, das Äquivalent zu einem Dollar pro Monat verdienen, das muss man doch vergleichen können international. Und jetzt muss ich überhaupt los", sagt Lilys Vater und Lily stellt fest, dass es jetzt wirklich auch für sie langsam Zeit wird, sich fertig zu machen, und das, denkt sie grollend, liegt nur daran, dass ihre Eltern ja auch unbedingt so früh am Morgen ihren Mangel an Idealismus analysieren müssen.
"Also, ich find das aufregend, jetzt mal endlich eine richtige Hexe kennen zu lernen", sagt ihre Mutter und da wird Lily aber doch noch idealistisch.
"Und ich bin wohl keine richtige Hexe?" fragt sie entrüstet.
"Na, ich meine doch eine, die nicht unter so Muckeln aufgewachsen ist", sagt ihre Mutter. "Ich meine, die sind doch bestimmt ganz anders, schon von der ganzen Art her."
"Ich muss dann mal", sagt Lily und hofft, dass Justine sich bei der Wahl der Muggelklamotten nicht allzusehr vergriffen hat. Im Türrahmen trifft sie auf ihre Schwester Petunia, und sie sagt "Morgen", und Petunia sagt auch "Morgen", und dann "Ist das Kaffee?" und schon hat sie sich ihre halbausgetrunkene Tasse geschnappt, was, wie Lily findet, der krönende Abschluss für einen beknackten Freitagmorgen ist. Aber dafür muss Petunia auch zur Arbeit und Lily nur zum Bahnhof, da kann man das ja mal verzeihen.
Aber ärgern kam man sie ja trotzdem, denkt sie und steckt den Kopf noch mal in die Küche. und ruft "Und es heißt übrigens Muggel, Mum, nicht Muckel!" und sieht befriedigt, wie Petunia zusammenzuckt, sie ist ja aber auch sowas von empfindlich.
xxx
Lily steht am Bahnhof und fragt sich, wie, um alles in der Welt, sie es denn bitteschön geschafft hat, trotz allem zu früh da zu sein. Ihre Haare, es muss an ihren Haaren liegen. Sie hat sie dann doch nicht geföhnt, das kann man ja auch mal machen, ist schließlich Sommer. Ein bisschen kühl noch vielleicht, oder, wie ihre Mum es ausdrücken würde, knackig frisch, aber dafür kann sie ja nichts, niemand steht schließlich freiwillig in aller Herrgottsfrühe an einem Kleinstadtbahnhof und wartet auf eine richtige Hexe in einem richtigen Zug, und warum kann denn die richtige Hexe auch nicht wie ein normaler Mensch per Flohpulver antanzen, bitteschön, die sitzt außerdem bestimmt schon vier Stunden in besagtem Zug, ist ja ein weiter Weg von Schottland, da hat sie eigentlich auch Kaffee verdient. Lily würde ihr glatt einen aus dem Automaten holen, der in der Eingangshalle vom Kleinstadtbahnhof steht, aber erstens weiß sie nicht, wie Justine ihren Kaffee trinkt, und zweitens ist der Kleinstadtkaffee, den sie selber in der Hand hält, irgendwie ungenießbar, der hat etwas von Maschinenöl. Von einem Plastikbecher voll Maschinenöl, den man zwei Wochen lang in einer verrauchten Kneipe hat stehen lassen. Weiß und mit Zucker.
Lily ist von diesem Vergleich sogar einigermaßen befriedigt, nur der Zug kommt nicht. Sie steht also, zusammen mit einer blumenstraußbewehrten Oma und einer Gruppe grimmig dreinblickender Kleinstadtpunks, mit nassen Haaren und in einer Schlafanzughose, die zum Glück weder rosa noch kariert ist und die eigentlich als Freizeithose durchgehen müsste, an einem langweiligen Bahnhof, wartet auf einen Zug, der nicht kommt, und friert. Und sinniert über die unglückliche Kette von Ereignissen, die hierzu geführt hat.
Das fing an, als Poppy Pomfrey im Januar mal dazu kam, die Schülerakten neu zu sortieren. Und Lily als freiwillige Hilfskraft - ja, sie hatte bei der Berufsberatung mit Minnie McGonagall zugegeben, dass sie sich eventuell vielleicht mit den entsprechenden Noten unter Vorbehalt vorstellen könnte, Heilerin zu werden, aber das ist ja noch lange kein Grund, einen zu freiwilligen Hilfsdiensten als Edelpraktikantin zu verpflichten, denkt sich Lily, und überhaupt ist McGonagall doch sonst nicht so schwatzhaft. Und Poppy Pomfrey ist dann jedenfalls aufgefallen, dass diverse Schüler ihren zweijährlichen Generaluntersuchungen irgendwie entronnen waren, und da Lily zufällig auch noch Vertrauensschülerin war, wurde sie diesen Schülern hinterhergeschickt, um sie für die Generaluntersuchung heranzuschleifen, was höchst ungerecht war, denn, so fand Lily, sollte sich Poppy Pomfrey ruhig selber von irgendwelchen hochnäsigen Siebtklässlern ankäsen lassen, die keine Lust hatten, in Unterwäsche durch den Krankenflügel zu hüpfen. Oder, was das betraf, eine nicht ganz so hochnäsige Fünftklässlerin, die nichtsdestoweniger keine Lust hatte, in Unterwäsche durch den Krankenflügel zu hüpfen.
Und dann durfte sie Protokoll führen, während Poppy Pomfrey hinter einem Vorhang Justines Wirbelsäule bewertete und in den Mund schaute und ihr beim Atmen lauschte und verschiedene Diagnosezauber ausführte und ihr schlussendlich erklärte, sie sei zu dünn und müsse mehr essen und sie hätte außerdem ein schwaches Immunsystem und müsse darum mehr Sachen mit Eisen drin essen, zum Beispiel rotes Fleisch, und sie hätte niedrigen Blutdruck und damit müsse sie wohl leben und sie könne sich jetzt wieder anziehen und solle diesen und jenen Schrieb an ihren Hauslehrer weiterreichen, damit das alles seine Richtigkeit hätte.
Und weil Justine sympathischer war als die blöden Siebtklässler, erzählte Lily ihr wenigstens noch, dass für Poppy Pomfrey "zu dünn" ein halbes Pfund unter "barock" losging und dass das schon okay sei. Und Justine hatte gekichert und "Na dann ist ja gut" gesagt, und das war dann zwar nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, aber doch der Beginn einer wunderbaren Zweckgemeinschaft, denn als Lilys guter Freund Remus Lupin in ihrer Mini-Potions-Lerngruppe nach einigem Haareraufen und Explosionen befunden hatte, dass das einzige, was sie neben Mangel an Talent noch daran hinderte, ihre Potions-OWLs zu bestehen, der Mangel an einer richtigen, echten Ravenclaw in ihrer Lerngruppe war, da hatte sie wenigstens gleich jemanden zum Fragen gehabt, und Justine hatte sich letztlich als ein ganz patentes Mädchen sowie faul wie Oskar erwiesen.
Faul wie Oskar passt aber eigentlich nicht zu Aufstehen um halb fünf wegen eines blöden Zuges, denkt sie anschließend noch, aber da fährt der Zug gerade ein und Justine steigt aus.
Justine steigt ganz am Ende des Zuges aus und Lily braucht eine gewisse Weile, um sie zu erreichen, weil das schnelle Balancieren von Plastikbechern voll Kaffee sie um diese Uhrzeit noch überfordert und es auf der Welt halt eine Menge braunhaarige Menschen gibt, mit denen man Justine verwechseln kann, wo Lily doch kurzsichtig ist und es bloß nicht zugeben will, und als sie ankommt, hat sich Justine auch schon einen Kleinstadtpunk mit besonders prachtvollem bunten Haar vorgenommen und fragt ihn begeistert Dinge. Z.B., wie er zu seiner Haarfarbe gekommen sei, das sei doch - und da kichert sie - fast Zauberei.
Die Frau spinnt, denkt Lily, und das denken wohl auch die Kleinstadtpunks, denn sie flüchten sich in den Zug. Und Justine dreht sich jetzt endlich auch mal zu ihr um - wird ja Zeit, denkt Lily, wegen dir bin ich immerhin halb neun aufgestanden, und dann denkt sich Lily, na, das hätte ja durchaus schlimmer kommen können mit den Muggelklamotten. Justines Sachen sind ihr zu groß, oder sie ist zu klein, und irgendetwas hat sie dazu gebracht, ihre langen braunen Haare zur Gänze unter die Schirmmütze zu stopfen, und die vorne spitz zulaufenden schwarzen Stiefel, wizard style, sind auch irgendwie deplaziert, aber insgesamt sieht es mehr nach Muggel ohne Geschmack als nach Zauberer ohne Ahnung aus, weil, manche Zauberer, die auf Londons Straßen unterrwegs sind, erkennt man ja zehn Meter gegen den Wind.
"Na, hallo", sagt Justine also und es entsteht die typische betretene Spannung zwischen zwei Menschen, die noch kein Begrüßungsritual etabliert haben. Manche küssen ja die Luft neben der Wange der platonischen Freundin, oder führen eine dieser verklemmten halben Umarmungen durch, das ist doch alles blöd, denkt Lily, und überhaupt, das denkt Lily danach, gibt es Umarmfreunde und Handreichfreunde, das führt aber zu Verwirrung, wenn man eine gemischte Gruppe begrüßt, sie denkt dann immer, dass sich die Handreichfreunde irgendwie zurückgesetzt fühlen, und überhaupt kann sie sich nicht immer erinnern, mit wem sie schon auf dem Umarmniveau angekommen ist, und wie sie so mit dem Gedanken fertig ist, bemerkt sie, dass Justine ihre Hand fragend ausgestreckt hat, und, ähem, ja.
Sie versucht, sie mit der linken Hand zu ergreifen, das fühlt sich etwas merkwürdig an, und erst dann kommt sie auf die Idee, dass sie ja auch den Kaffeebecher von der einen in die andere Hand hätte wechseln können, das hätte vielleicht verhindert, dass Justine jetzt die Augenbrauen so komisch hochgezogen hat, ein bisschen guckt sie aber auch immer so, denkt Lily, weil ihre Augenbrauen so geschwungen sind.
Das ist Quatsch, ich hätte sie nie einladen dürfen, denkt Lily, das liegt alles nur an Mum, die fragt jede Ferien zweimal, ob man denn in der neuen Schule endlich Freundinnen gefunden hätte und ob man auch zwei oder drei gute Freundinnen hätte, denen man mal etwas erzählen könnte, und ob man eine beste Freundin hätte und wie die heiße, wobei Lily eigentlich einwerfen müsste, dass es nach immerhin fünf Jahren schon einer gewaltigen Realitätsferne bedürfe, um immer noch von der neuen Schule zu sprechen, aber Lily ist still und verspricht, ihrer Mum ihre kleinen Freundinnen mal vorzustellen, und Lilys Mutter ist natürlich wahnsinnig gespannt auf die erste "richtige" Hexe ihres Lebens.
"Hast du noch irgendwelches Gepäck?" fragt sie, um irgendwas zu sagen.
"Nein", sagt Justine, "nur den Rucksack hier", und nimmt den Rucksack neben sich hoch, und als sie das tut, sieht Lily, dass ihr Arm ein wenig zittert, aber das könnte an der Uhrzeit liegen, es ist ja wirklich noch verdammt früh.
Wenn die Woche so weitergeht, dann wird das eine super Woche, man muss sich doch über irgendetwas unterhalten, denkt Lily, während sie die Allee entlanggehen, und greift ein naheliegendes Thema auf.
"Du siehst ganz schön fertig aus", sagt sie. Sie lügt nicht einmal, nicht sehr jedenfalls, denn Justine hat ja diese dunklen Ringe unter den Augen und ihr Blick wirkt auch ab und an leicht unfokussiert, aber andererseits sah sie auch schon mal beschissener aus. Lily hat empirisch festgestellt, dass sich der Glaube an die antiautoritäre Erziehung in reinrassigen Zaubererfamilien noch nicht recht durchgesetzt hat und das könnte ja vielleicht zusammenhängen, aber Justine scheint bisher immer ganz froh gewesen zu sein, wenn man das Thema in Ruhe ließ.
Und weil Justine auch nicht gleich antwortet, setzt sie noch eins drauf, indem sie fragt "Wann bist du denn heute morgen aufgestanden?", weil sie nämlich gleich damit angeben will, dass sie bis halb neun ausgeschlafen hat. Justine wird jetzt so lange geneckt, bis sie ein bisschen was erzählt.
"Oh, um ehrlich zu sein", sagt Justine, und klingt dabei wie eine müde Fünfjährige, "ich war, äh, noch gar nicht im Bett."
"Oh, äh", sagt Lily etwas verwirrt, wie geht das denn, so lange braucht der Zug von Schottland nun auch wieder nicht, "darf ich dir in dem Fall meinen Kaffee anbieten?" Irgendwas muss man ja tun, denkt Lily, das sind ja keine Zustände hier. Und schlafen gehen wird Justine vorerst nicht, Lilys Mutter hat nämlich eine Stadtbesichtigung geplant mit den Mädchen, sie arbeitet jetzt immer nur halbtags. Nur, wie sie Justine das beibringen wird, ist ihr noch nicht ganz klar.
Justine nimmt den Plastikbecher und verschüttet dabei etwas und dann trinkt sie einen Schluck und grimassiert.
"Kaffee mit Milch und mit Zucker. Sag mal, bist du pervers oder sowas?"
So geht das aber nicht, denkt Lily, ist immerhin mein Kaffee, und das sagt sie auch laut, aber da kichert Justine schon, und Lily kichert mit. Pechschwarzen Kaffee also für Justine, denkt sie, und dann denkt sie, na, dann müssen wir aber aus der Stadt noch neuen Kaffee mitbringen, müssen wir sowieso, sonst wird das nichts.
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"Guten Tag, Mrs. Evans", sagt Justine mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln, das aussieht, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als Lilys Mutter die Hand zu schütteln. Sie knickst doch tatsächlich. Diese richtigen Hexen und Zauberer haben sie ganz gut dressiert, denkt sich Lily. Sie sieht, wie ihre Mum ein identisches Lächeln bemüht.
"Schön, dass du da bist, Justine." Allerdings guckt Lilys Mutter etwas irritiert. Sie hat wohl lange fließende Roben in Lila und mit Sternchenapplikationen erwartet, und einen Spitzhut, keine räudigen Jeans aus dem Thrift Store, die unten zweimal umgeschlagen sind, und eine Schirmmütze. Die hat Justine im Übrigen abgenommen und ihr Haar ist wieder zu sehen, wenn sie es allerdings in den letzten zwei Wochen mal gekämmt haben sollte, dann merkt man davon nichts. Dergestalt hat sie sich inzwischen auf Petunia gestürzt, die still in der Ecke sitzt und sich mit Lilys inzwischen wohl kaltem Kaffee geistig auf ihren Telefonistinnen-Ferienjob vorbereitet, der sie Tag für Tag, so lamentiert sie des Öfteren, mit unglaublichen Massen von unglaublich dummen Leuten konfrontiert.
"Hallo, du musst Petunia sein", verkündet Justine jetzt fröhlich und bietet auch Petunia die Hand dar. Au warte. Petunia schaut langsam von ihrem Kaffee hoch - Lily ist inzwischen bereit, ihre Besitzansprüche dahingehend aufzugeben - mustert die ihr bereits angekündigte richtige Hexe von oben bis unten, bleibt dabei zuerst an den Haaren hängen, als zweites an der Armeejacke, danach gibt sie die Musterung wohl als hoffnungslos auf und blickt wieder hoch. Justines Lächeln schwindet ein wenig, doch Petunia ist vermutlich halbwegs befriedigt, was die Abwesenheit von Sternchenapplikationen und Froschlaich betrifft, und lässt sich dazu herab, ihr wenigstens die Hand zu geben. Kaffee macht die Menschen netter, erkennt Lily.
Allerdings nicht viel netter, erkennt sie gleich danach, als Petunia aufsteht und ohne ein weiteres Wort an irgend jemanden aus der Küche rauscht. Offenbar hat sie ihren Vorrat an gutem Willen für heute schon aufgebraucht, oder sie muss los zur Arbeit, das kann natürlich auch sein.
Justine gähnt verstohlen.
"Hat Lily dir schon erzählt, was wir heute alles vorhaben?" fragt Lilys Mutter fröhlich.
Justine bricht mitten im Gähnen ab und schaut interessiert. "Nein, hat sie noch nicht", sagt sie mit einem Seitenblick auf Lily.
"Ich dachte mir, wir könnten vielleicht in die Stadt gehen und dort könnte ich euch den historischen Stadtkern zeigen - Lily weiß ja selbst kaum, wie es bei ihr zuhause aussieht. Und anschließend können wir irgendwo nett einkehren." Sie hält kurz inne. "Natürlich nur, wenn ihr Mädchen nicht schon etwas anderes vorhattet."
Justine schaut Lily kurz an und lächelt mit einem Anflug von Boshaftigkeit. Wo sie doch die einzige ist, die Lilys Mutter von diesem Plan noch abhalten könnte. "Oh nein, Mrs. Evans, das klingt großartig", sagt sie, während Lily hinter dem Rücken ihrer Mutter heftig mit dem Kopf schüttelt. "Ich find' Muggelgeschichte wahnsinnig interessant, also, Pyramiden und Höhlenmalereien und so."
Lilys Mutter ist damit wohl zufrieden.
"Aber könnte ich vorher vielleicht noch einen Kaffee trinken? Ich bin ein bisschen müde. Früh aufgestanden", fügt Justine hinzu und jetzt kann Lily ihr dieses Du-kannst-mich-mal-Lächeln zurückschenken.
"Sorry, das Kaffeepulver ist alle", sagt sie, "aber wenn wir schon in der Stadt sind, können wir auch gleich neues holen."
"Ich kann dir einen Tee statt dessen machen", bietet Lilys Mutter an. "Was magst du lieber, Pfefferminz? Hagebutte? Earl Grey?"
"Wir haben außerdem noch Instantkaffee", stellt Lily einen Satz in den Raum.
Pause.
"Earl Grey, bitte, Mrs. Evans, wenn es keine Umstände macht", sagt Justine dann. "Ich kann's kaum erwarten."
