22.August 1881

Die Leere füllt meinen gesamten Kopf und ich kann an nichts anderes denken, als an diesen einen Tag. Das Liebste, was ich besaß wurde mir genommen.

Vor zwei Wochen starben mein Vater und meine Mutter durch einen Reitunfall. Jetzt, wo die Trauer mich ergriffen hat und die Wut über diesen Verlust nachläßt, kann ich langsam darüber nachdenken, was es nun heißt, Waise zu sein.

Ich bin noch nicht volljährig und so wird mein einziger Verwandter, Onkel Charles, nach dem letzten Willen meiner Eltern, mein Vormund werden. Ich kenne Onkel Charles, der ein Großonkel meiner Mutter gewesen war, nur von wenigen Familienfeiern, bei denen er mir immer Geschenke von seiner Baumwollplantage in Richmond (Virginia) mitzubringen pflegte.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser elegante Herr Ende fünfzig mir nun sagen soll, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich spekuliere jedoch damit, daß er mich weitestgehend alleine erwachsen werden läßt.
Ich las einst ein Gedicht, von einem weniger bekannten Schriftsteller und verstand die Worte nicht, doch jetzt fallen mir die Verse wieder ein, als ob es gestern gewesen wäre, als ich über sie nachdachte.

Der Himmel singt sein einsames Lied

Der Himmel singt sein einsames Lied

Niemand kann ihn trösten.

Wie große Tränen fallen Tropfen zur Erde,

und auch ich fühle, daß ein Teil von mir verloren geht.

Der Wind singt sein trauriges Lied

und ich bin ein Teil davon.

Zarte Dunkelheit umhüllt mich

und ich weiß, das Ende ist nah.

Ich konnte damals die Gedanken dieses Poeten nicht verstehen, doch jetzt, wo mein ganzer Schmerz mein Herz zerreißt, weiß ich, wie er sich gefühlt haben muß, als er das Gedicht schrieb.
Nachdem mir Marta, mein Kindermädchen, die schreckliche Nachricht überbracht hatte, dachte ich zuerst, sie scherzte, doch in ihren traurigen Augen, erkannte ich die Wahrheit. Wie eine erwachsene Dame ging ich langsam aus dem Salon, ehe ich die Treppe hinauf in mein Zimmer lief und mich dort ganz trotzig auf mein Bett warf.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, bis Marta kam und mir etwas zu essen brachte. Als ich sie mit meinen verquollenen Augen ansah, verließ sie fast fluchtartig mein Zimmer, doch alles was ich von ihr wollte, war etwas Kraft, die sie mir für diese schwere Zeit geben sollte, doch nicht einmal nahm sie mich in den Arm oder sagte ein paar tröstende Worte zu mir.

Ich wollte mir jedoch nicht eingestehen, daß ich ihre Hilfe brauchen würde, doch vermißte meine Eltern so sehr, daß ich selbst an Gott zweifelte.
Nach der Bestattung meiner Eltern, ging ich fast jeden Tag in die Kirche und betete, Gott möge mir meine Eltern wiedergeben. Doch so sehr ich mir auch die Knie wundbetete; sie kamen nicht wieder und ich muß mich mit diesem Gedanken arrangieren.

Ich wünschte, ich hätte jetzt einen Bruder oder eine Schwester gehabt. Wir hätten unsere Trauer teilen können und uns gegenseitig unterstützen können, doch meine ältere Schwester starb schon kurz nach ihrer Geburt. Ich habe sie somit nie kennengelernt.

Wenn ich nun zum Friedhof gehe, besuche ich nicht nur ihr Grab, wie ich es immer mit meinen Eltern gemacht habe, sondern auch das meiner Eltern, welches direkt daneben liegt.

Oft sitze ich stundenlang in der Kälte neben dem eisigen Stein und rede mit ihr. Manchmal ist es so, als würde Charlotte mir zuhören und mir manchmal auch ein Zeichen senden. Ich glaube fest daran, denn so macht sie es mir einfacher.

Danke, Charlotte für deine Hilfe. Ich weiß, daß auch wenn ich dich nie kennengelernt habe, ich in dir eine Schwester habe, die mich versteht und mit der ich reden kann. Manchmal sogar besser als mit jedem anderen Menschen.

Deine dich liebende Schwester, Magkenzie.

03. November 1881

Nachdem Onkel Charles Ende Oktober bei uns eingezogen ist, ist nun die Routine eingekehrt.
Mein Tagesablauf unterscheidet sich nicht sehr stark von denen früher. Ich stehe morgens in aller Frühe auf, damit ich mit Onkel Charles frühstücken kann, darauf hat er nämlich bestanden. Dann geht jeder von uns seinen eigenen Weg. Der Unterricht bei meinem Hauslehrer beginnt um acht Uhr. Wir pauken fünf Stunden Algebra, Französisch, Musik, Englisch, Biologie und Philosophie, bis mir der Kopf raucht und es endlich Mittagessen gibt. Dieses nehme ich jedoch alleine ein, weil Onkel Charles wichtige Geschäfte zu erledigen hat.

Was auch immer das für Geschäfte sind, ich bin froh, daß sie ihn so sehr in Anspruch nehmen, denn so kann ich meine Nachmittage frei gestalten. Ich gehe in den Park oder auf den Friedhof. Jetzt wo das Wetter schlechter wird, will Marta nicht, daß ich alleine durch die Straßen Bostons schlendere, doch ihr schmerzen bei diesem Wetter immer die Glieder, deshalb kann sie mich zum Glück nicht begleiten.

Ich bin sehr froh, daß Onkel Charles mich weiter unterrichten läßt, denn das ist bei meinem Alter nicht mehr selbstverständlich, doch wozu brauche ich Algebra, Musik und Biologie, wenn ich nicht studieren und in einem angesehenen Beruf arbeiten darf?

Mum hätte jetzt gesagt Der Herrgott zeigt nicht jedem seinen Weg zu Beginn. Manchmal muß man auf alles gefaßt sein. Aber ich glaube nicht, daß der liebe Gott etwas Großes mit mir vorhat, zu dem ich Algebra benötige. Ich jedoch weiß, wie mein Leben aussehen wird.
Thomas van Bruckner hat ein Auge auf mich geworfen. Bei einem der jährlich stattfindenden Tanztees wird er mich auffordern mit ihm zu tanzen und dann werde ich ihn den Rest meines Lebens nicht mehr los.
Es hätte mich jedoch schlimmer treffen können. Zum Beispiel wie Mary-Ann Gilbert. Sie ist nur ein Jahr älter als ich und ihre Eltern hatten sie schon früh versprochen. Nun sitzt sie Tag für Tag bei ihrer gräßlich Schwiegermutter und hat schon drei Kinder auf die Welt gebracht.

Ich, für meinen Teil, werde meine Freiheit noch solange genießen, wie ich sie habe und Marta kann erzählen was sie will.

Beim Abendessen schweigen Onkel Charles und ich uns eigentlich nur an, was sehr peinlich ist. Ein paar Mal hatte ich versucht etwas über seine Geschäfte zu erfahren, doch er war mit seinen Gedanken ganz wo anders und erzählte nur soviel, wie ich schon wußte, nämlich, daß er eine Baumwollplantage besaß und mit Baumwolle und Wein handelte.

Auch an diesem Abend war das Abendessen wieder ein kompletter Reinfall. Ich habe Onkel Charles gesagt, ich wäre müde und konnte mich somit früher vom Tisch stehlen, als sonst. Jetzt liege ich auf dem Bett und schreibe dir, Charlotte. Mum und Vater fehlen mir so unglaublich, daß ich mich manchmal selbst töten möchte, nur um bei euch zu sein, doch meine Feigheit hält mich noch davon ab.
Ich lese traurige Gedichte und sehe mir manchmal Opern an, die mein Innerstes widerspiegeln: Trauer, Angst, Ohnmacht und Verzweiflung.