Dunkle Engel
Um mich herum ist alles still und dunkel Genau wie ich es mag. Nur eine einzige
Kerze kämpft alleine gegen diese Dunkelheit an. Tapferes kleines Ding. Ihr
leichtes Flackern tanzt sanft über das Papier das vor mir liegt.
Es ist nun an der Zeit die letzten Monate meines Lebens niederzuschreiben. Einem
Leben von dem ich dachte, es könnte nach dem schmerzlichen Abschied nichts mehr
für mich bereithalten.
Oh, wie sollte ich mich getäuscht haben!
Wenn dieses Manuskript fertiggestellt, das letzte Wort geschrieben ist, wird es
meinem Don Juan und seiner Rückkehr Gesellschaft leisten. Auf dass er in seiner
trauten Zweisamkeit mit Aminta ein wenig aufgerüttelt und sich seines Glückes
wieder deutlich bewusst wird.
Dem Glück dass ich ihm mehr als alles gönne, denn ich teile es mit ihm.
Kurz schaue ich empor zum Sternenhimmel über mir, den mir die gläserne Kuppel in
meinem Atelier nicht vorenthält. Die Sterne scheinen mir freundlich gesonnen
zuzuzwinkern. Das taten sie früher niemals.
Doch dieses altes Leben, dieses "früher" habe ich lange hinter mir gelassen.
Wo soll ich nun also beginnen?
An dem Abend als die Schwingen des Engels der Musik gebrochen wurden? Aber nein,
ein wenig früher.
Alles begann oder besser gesagt, endete, im Jahr 1881. Meine doch eher
inoffizielle Stellung als Operngeist verschaffte mir ein einträgliches Einkommen
und dadurch die ein oder andere Bequemlichkeit. Ich sah diese Bezahlung durch
die Direktion als vollkommen gerechtfertigt an, für das was die Menschheit mir,
seit dem Tag meiner Geburt angetan hatte. Ich litt unter meinem vermaledeiten
Körper mehr und auch schon wesentlich länger, als die Direktion unter der
monatlichen Zahlung dieser lächerlichen 20.000 Francs.
Trotz allem musste ich auf der Hut bleiben. Ichübernahm dieRolle des Jägers
seit ich denken konnte und schürte in der Pariser Oper nur zu bewusst die Angst
der Angestellten.
Doch auch mich belauerten die Schatten in den Kellern dieses riesigen Gebäudes.
Mehr als einmal fühlte ich mich verfolgt, obwohl kein Mensch je in der Lage
gewesen wäre mich zu verfolgen. Unsichtbare Augen sahen mir verstohlen aus den
dunklen Nischen hinterher und ließen mich frösteln.
Ich beschloss meine tägliche Dosis Morphium herabzusetzen um nicht vollkommen
den Verstand zu verlieren und schob auch diese seltsamen Empfindungen auf die
Wirkungen der Droge.
Und das Gefühl schien tatsächlich nachzulassen. Wieder einmal hatte ich mich
selbst besiegt und lächelte zufrieden in mich hinein.
Dann geschah etwas auf dass mich mein Leben nicht vorbereitet hatte.
Ein Engel trat in mein Leben. Ein Engel, der auch mich zu solch einem
sphärischem Wesen erhob. Aus ihrer Reinheit heraus wurde der Engel der Musik
geboren und in seinem Schatten verschwand der Engel des Todes, der ich seit
jeher gewesen war, für eine kurze Zeit.
Es war nicht schwer diese Illusion für sie am Leben zu erhalten. Schließlich
hatte sich dem Zauber meiner Stimme niemand jemals wiedersetzen können. Meine
Stimme war das wirklich einzig Schöne an mir. Die Stunden mit meinem Engel
erweckten mich zu neuem Leben und beseelten mich mit neuer Musik.
Alles was sie sang erlangte durch ihre Stimme die absolute Vollkommenheit. Das
Sternendiadem der Königin der Nacht hatte nie heller gestrahlt bevor sie es
trug, Violetta war nie verführerischer bis sie ihrer Schwindsucht erlag und
Margarete war nie unschuldiger bis sie ihre Zöpfe flocht.
So, wie die Engel weinten als sie mich schufen, so lächelten sie auf dieses
zarte Wesen herab bei ihrer Erschaffung.
Sie war die Musik, die seit meiner Kindheit wie eine leise Saite in meinem Kopf
erklungen war.
Und als diese Saite von ihr angeschlagen wurde, war es um mein Herz und meinen
Verstand geschehen.
Traue niemals einem Mann der liebt!
Dann trat der junge Mann in unser beider Leben und der wunderschöne Traum, den
ich mir im geheimen zu träumen erlaubt hatte, zerbrach in tausend winzige Stücke.
Der Engel der Musik wurde unter diesen Scherben begraben und der Engel des Todes
erstand daraus auf, wie ein bösartiger, schwarzer Phönix aus er Asche.
Der Verrat den sie an mir beging, damals hoch oben auf dem Dach der Oper, riss
mein Herz gleichsam in vier Teile. Von diesem Zeitpunkt an war ich erfüllt von
Rachegedanken die ich hemmungslos auslebte, wann immer es mir beliebte.
Ich tat ihr oft weh und ich bereue dies noch heute, aber was sich nicht mehr
ändern lässt sollte in der Vergangenheit ruhen. Mein unbeherrschtes Temperament
führte mich auf einen Weg, der zwangsläufig in einer Katastrophe enden musste.
Und dann kam er. Der Tag an dem Don Juan das Letzte mal voller Verzweiflung um
seine Aminta warb und wieder wurde er verraten und zurückgestoßen. So
jedenfalls, schien es ihm damals. Heute weiß ich dass sie in diesem Moment
keinen Verrat an mir verübte sondern mir nichts als Liebe entgegenbrachte.
Ach, was war ich blind!
Vom Zeitpunkt meines, oder auch Don Juans Trugschlusses, an überschlugen sich
die Ereignisse. Ich verschleppte sie gegen ihren Willen zurück in die Dunkelheit
und natürlich rechnete ich damit dass der junge Mann uns folgen würde. Ich
wollte ihn töten. Mit all meiner weißglühenden Wut über ihn kommen. Doch als ich
die Gelegenheit dazu bekam brachte ich es nicht über mein gebrochenes Herz, da
mein Engel mir einen Moment wahren Glücks bescherte. In diesem Moment brach sie
die Flügel des Todesengels und ließ in mit diesen gebrochenen Flügeln zurück.
Sie weinte als sie mich verließ und auch ich weinte.
Die Tränen rannen durch die tief vernarbten Furchen meines entstellten Gesichts
und brannten heiß vor Scham und Trauer, als wollten sie die letzten intakten
Flächen ebenfalls versengen.
Alles war zu Ende. Ich hatte keine Kraft mehr um weiterzuleben und wollte an Ort
und Stelle sterben.
Doch als ich sie, über den See, mit dem jungen Mann davon rudern sah erklang
plötzlich eine leise Melodie in meinem Kopf. Begleitet von süßen Worten, die ich
nicht verstand.
Es war eine Variation mehrer Melodien die aus meiner Feder stammten.
Mir schien es, als wiegte mich diese sanfte Stimme in einen traumlosen Schlaf
und fast willenlos lehnte ich mich mit dem Rücken an meine Orgel und ließ den
Kopf in den Nacken fallen.
Ein dunstiger, roter Schleier breitete sich über mein Blickfeld und aus diesem
Dunst kam nun eine Gestalt auf mich zu.
Diese Gestalt, die sich nicht bewegt, aber trotzdem auf mich zuzukommen schien,
war verschwommen, fast als wäre sie auf einem Ölgemälde zu sehen auf dem man
beim nähertreten jeden Pinselstrich erkennen konnte.
Ich erkannte die zierliche Gestalt einer Frau, die von einem leichten Wind
umweht zu werden schien, den ich aber nicht spürte.
Ein leises Klingeln von unzähligen Glöckchen begleitete diesen Wind und ihre
bloßen Füße machten keinerlei Geräusch auf den großen Steinquadern des Bodens.
Nun erkannte ich dass die Glöckchen, mit etlichen glitzernden Kristallen, Perlen
und Pailletten an ihrem schwarz-silbernen Sari befestigt waren. Um ihren linken
Knöchel trug sie ein Bettlerarmband, allerdings aus Granaten.
Das feuerrote, hennagefärbte Haar hing ihr lose über den Rücken und wurde nur an
den Schläfen von zwei silbernen Kämmen gehalten. Ein schwarzer, leicht
durchsichtiger Schleier bedeckte ihre Nasen- und Mundpartie.
Ihre Augen fesselten mich, sie waren tiefschwarz und man konnte keinerlei Farbe
der Iris erkennen. Und doch loderte ein dunkles Feuer in ihnen das mich in ihren
Bann schlug. Ich blinzelte mehrfach um sie besser sehen zu können, doch so sehr
ich mich auch bemühte ich konnte sie nicht klarer erkennen.
Welchem Zauber erlag ich da?
"Sie ist nicht gut genug für dich!" hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, melodisch lockend.
Ich lachte leise. Ein kaltes freudloses Lachen.
"Schscht schscht! Jetzt ist nicht der richtige Moment für Sarkasmus, m' ange!"
Ihre Stimme war süß. Wie die Erlösung von einem langen tiefsitzenden Schmerz.
Nun stand sie vor mir und kniete sich vor mich. Ihre Röcke streiften meine Hände.
Mit sanften Fingern strich sie mir das wirre Haar aus der Stirn und strich
zärtlich über die alten Wunden und Narben meines Gesichts. In der anderen Hand
hielt sie meine Maske, doch als ich meine Hand danach ausstreckte, zerbrach sie sie vor mir.
"Das alles ist bald Vergangenheit. Hab Vertrauen zu mir. Schon so lange sehne
ich mich nach deiner Gesellschaft!"
Ihre Haut war kühl während meine, dort wo sie mich berührt hatte, zu brennen schien.
Als sie sich über mich beugte streifte ihr Haar meine Haut. Schwer und fließend,
wie der Lauf eines Baches, fiel es mir auf die Schulter.
"Schlaf!" Dieser kurze Befehl ließ mich die Augen schließen ohne dass ich auch
nur kurz darüber nachgedacht hatte.
Ich verspürte einen kurzen Schmerz, dessen Ursprung ich allerdings nicht
ausmachen konnte. Dieser Schmerz war allerdings nichts im Vergleich zu dem der
mein Herz noch immer zu zerreißen drohte.
Doch dann spürte ich wie das Leben unaufhaltsam aus mir herausrann.
Mein Herz schien sich jedem weiteren Schlag wiedersetzen zu wollen und dröhnte
mir laut in den Ohren.
Meine Muskeln verkrampften sich und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Eine
Gedanke schlich sich in meinen Kopf: Der Teufel war wohl persönlich gekommen um
meinem Wunsch nach dem Tod zu entsprechen. Doch dass er in Gestalt dieser
Schönheit auftrat, erschien mir wie eine außergewöhnliche Ehre und doch ein wenig ironisch.
Ich, der ich nie im Leben von einer Frau berührt worden war wurde nun von einer
in die Hölle geführt, die nach den vielen abgrundtief schlechten Taten dich ich
begangen hatte, mit Sicherheit auf mich wartete.
"Oh nein, mon coeur, ich bin vielleicht ein Teufel, aber bestimmt nicht der
Teufel! Und nun Sorge dich nicht weiter!" Wieder diese süße Stimme in meinem Kopf, wieder meine
Melodien. Rote Blutkörperchen tanzten anmutig vor meinen Augen und ich wollte lachen. Doch
mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Als ich fühlte dass mir etwas Warmes die
Kehle hinunterfloss umfing mich samtene Schwärze. Oh süßes Vergessen!
