TEIL 1

1. Was man nicht sagen sollte (1mal)

Mit schreckensgeweiteten Augen blickte sie ihn an. Ihr Puls raste, in ihren Ohren rauschte das Blut und ihre braunen Augen fingen an zu tränen. Oh Gott, was war nur passiert?

Immer und immer wieder hämmerte dieses eine Frage wie eine dicke Dampfwalze durch ihr Gehirn und schien es mit diesem einen Satz zu malträtieren. Oh Gott, oh Gott, oh Gott… sie hatte das doch eben nicht wirklich gesagt – zu IHM.

Für einen kurzen Augenblick schloss sie ihre Augen und wünschte sich, dass das alles nur ein böser Traum war. Einmal sog sie die stickige Luft, die hier unten in den Kerkern herrschte, ein und versuchte sich wieder zu beruhigen. Doch als sie ihre Augen wieder aufschlug, starrte sie noch immer in das bedrohliche Antlitz ihres Professors.

Es war also kein Traum, wimmerte ihre innere Stimme und Hermine merkte, wie sie zu zittern begann.

ER hingegen stand ruhig, viel zu ruhig vor ihr und blickte… nein… er starrte sie an, schien die junge Gryffindor mit seinen scharfen Augen zu erdolchen. Seine blassen Lippen waren zu einem schmalen wütenden Strich aufeinander gepresst und Hermine hatte das Gefühl, dass er sich sehr beherrschen musste, um ein Zittern eben dieser Lippen zu unterdrücken.

Seine Arme hatte er auf ihren Tisch, an dem sie bis vor wenigen Sekunden noch an einem Zaubertrank gearbeitet hatte, gestützt und sein Gesicht war ihrem sehr nahe.

Ab und an glaubte sie seinen aufgebrachten Atem über ihre Wangen streichen zu spüren. Und mal abgesehen von eben diesem Atem und ihres eigenen wilden Herzschlages herrschte eine Totenstille im Klassenraum.

Es war beängstigend, wie ruhig ihre Mitschüler sein konnten. Sogar die sonst so vorlauten Slytherins trauten sich keinen einzigen Mucks von sich zu geben. Die Zeit schien still zu stehen. Niemand getraute sich zu atmen und auch wenn Hermine noch immer krampfhaft versuchte, den schwarzen Blick ihres Professors standzuhalten, so konnte sie die nicht minder stechenden Blicke ihrer Mitschüler auf ihrem Rücken spüren.

Und ebenso wusste sie, dass Harry und Ron, die einen Tisch neben ihr saßen, sie fassungslos und mit offen stehenden Mündern anstierten, wobei sie sich sicher war, dass Ron mit seinen großen Augen mehr glotzen würde.

Die junge Frau hatte keine Ahnung, wie lange dieser Zustand andauerte. Wie lange sie Snape so unbeholfen und stolz zugleich entgegenblickte und wie lange sie hoffte, dass er es einfach bei diesem tötenden Blick belassen würde.

Doch sie hätte es besser wissen müssen. Snape war nicht der Typ Mensch, der einfach etwas auf sich beruhen ließ. Er war auch nicht der Typ Mensch, der sie wenigstens unter vier Augen zusammengestaucht hätte. Nein – er tat es gleich vor der gesamten Klasse.

„Was erlauben Sie sich eigentlich Sie impertinente und respektlose Person." Spie er ihr verächtlich entgegen und das in einer Lautstärke, dass es auch ja bis zu den Schülern in der hintersten Reihe vordrang.

Hermine schluckte und merkte wie sie anfing, fürchterlich zu schwitzen. Die Worte, die sie ihm eben ohne Vorwarnung, ohne logische Erklärung hatte zukommen lassen, wirbelten unbeirrt in ihrem Kopf wider, sodass ihr schon beinahe schwindelig davon wurde.

„Ich..es… Sir ich…"

„Halten Sie gefälligst Ihren vorlauten Mund!" schrie er sie voller Zorn an und unterbrach somit ihren eher dürftigen Erklärungsversuch.

„Aber.." versuchte es Hermine erneut, nun mit noch kläglicherer Stimme.

Doch das hätte sie lieber lassen sollen. Mit einem gewaltigen Knall schlug seine Flache Hand direkt vor ihr auf den Tisch, sodass sie glaubte, ihr Herz hätte für einige Millisekunden aufgehört zu schlagen.

Schwarze Augen loderten sie voller Zorn an, schienen sich in ihre sanften Braunen hineinzufressen und all die Wärme aus ihrem Körper zu entziehen.

„ICH WILL NICHTS MEHR HÖREN GRANGER!" brüllte er durch den Klassenraum, dass nun sogar die Schüler in der hintersten Reihe erschrocken zusammenzuckten.

Dann beugte er sich tiefer zu ihr hinunter und kam ihr so nahe, wie es ein Schüler-Lehrer-Verhältnis noch zuließ, obwohl Hermine sich nicht sicher war, ob dieser doch sehr geringe Abstand noch angemessen war. Doch sie würde sich hüten, sich darüber zu beschweren.

Die nächsten Worte, die an ihr Ohr drangen, waren dieses Mal nur noch für sie bestimmt, aber freundlicher oder gar sanfter wurden sie dadurch auch nicht. Eher im Gegenteil. Sein leises beinahe berauschendes Geflüster schien sich tief in ihre Knochen einzugraben und diese porös werden zu lassen. Es war ein seltsames Gefühl, welches die junge Frau nicht zu beschreiben vermochte.

„Heute Abend in meinem Büro Granger. Und Sie können sich darauf gefasst machen, was mit Leuten wie Ihnen passiert, die mir keinen Respekt zollen."

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, schreckte er plötzlich von ihr zurück, so als ob er sich ihrer Nähe gewahr geworden war und kehrte, ohne Hermine noch eines Blickes zu würdigen, zu seinem Pult zurück.

Nach einem laut gezischten „Haben Sie nichts besseres zu tun, als blöd in der Gegend herumzustieren!" machten sich auch alle Schüler wieder an die Arbeit. Alle, bis auf Hermine.

Wie paralysiert und zutiefst gedemütigt saß sie an ihrem Tisch in der ersten Reihe und versuchte dem Tränenschwall, der in ihr hoch kochte, Herr zu werden. Und das Schlimme an dieser ganzen Misere war, dass sie allein daran Schuld hatte. Sie alleine hatte es zu verantworten, dass sie nun das Gespött des ganzen Jahrgangs sein würde. Sie alleine hatte es zu verantworten, dass Harry und Ron sie nun wie ein rohes Ei oder wie eine Geisteskranke behandeln würden und sie alleine trug die Verantwortung dafür, dass sie heute Abend zu Snape musste. Und Gott allein wusste, was er mit ihr vorhatte.

Die junge Frau war verwirrt und zweifelte in diesem Augenblick an ihrer eigenen mentalen Gesundheit. Innerlich schüttelte sie ihren Kopf und fragte sich, wie bescheuert man sein musste, um Snape SO ETWAS zu sagen – freiwillig und dann auch noch völlig zusammenhangslos und ohne einen Grund.

Bitte pass auf dich auf.

Hallte noch einmal dieser eine Satz wider, dem sie ihn vor wenigen Minuten inmitten des Unterrichts zugerufen hatte. Nicht nur, dass sie ihn dabei geduzt hatte, nein sie hatte ihn angefleht auf sich aufzupassen, mit so viel Sorgen in der Stimme, dass es sie selbst erschauderte. Und das Skurrile daran war, dass Snape in den Moment, in dem sie ihre tragische Show abziehen musste, völlig ruhig an seinem Pult gesessen und Arbeiten korrigiert hatte.

Hermine merkte deutlich, wie sie rot wurde. Der Schock über das Gesagte hatte ihr Gesicht zuvor kalkweiß erscheinen lassen – das wusste sie. Doch nun, wo sie so langsam realisierte, was wirklich geschehen war und sie das ganze Ausmaß ihrer Worte erfasste, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht.

„Mit einem Mal so pikiert Miss Granger?" liebsäuselte plötzlich Snapes Stimme wieder nah an ihrem Ohr. Erschrocken blickte sie ihn an. Wo war er auf einmal hergekommen? Oder besser gefragt, wie hatte er so schnell und unbemerkt zu ihrem Tisch schreiten können?

Innerlich schnaubte Hermine über ihre eigene Frage verächtlich, denn sie war mehr als überflüssig. Sie redete hier von Snape. S-N-A-P-E. Der Meister im Hernaschleichen und Leute – vorzugsweise Schüler – zum Tode-Erschrecker.

„Mir geht es gut." Nuschelte sie nur und wollte mit ihrer zugegebenermaßen erneut leicht unpassenden Antwort bewirken, dass er sie wieder in Ruhe ließ.

„Das habe ich Sie nicht gefragt." Schnurrte er gehässig und erlosch somit ihre winzige Hoffnung. „Und nebenbei gesagt Miss Granger. Es ist mir auch völlig egal, wie es Ihnen geht. Ist das jetzt bei Ihnen angekommen?!"

Hermine zuckte bei seinen Worten unmerklich zusammen. Doch nicht, weil sie laut gesprochen waren. Das waren sie ganz und gar nicht. Nein, es war die schneidende Kälte und die abgrundtiefe Verachtung, mit denen Snape diese Worte gesprochen hatte.

Unfähig irgendetwas darauf zu erwidern, blickte sie ihn nur mit großen braunen Augen an. Sie fühlte sich schrecklich und wäre am liebsten aus dem Klassenzimmer gestürmt, doch sie war eine Löwin. Und ein Löwe floh nicht vor einer Schlange – auch nicht wenn sie laut und bedrohlich zischte.

Nach endlosen Sekunden – oder waren es gar Minuten? – beendete Snape diesen für Hermines Geschmack viel zu intensiven Blickkontakt und wandte sich an die gesamte Klasse.

„Tränke abfüllen, verkorken und nach vorne bringen." Befahl er in bester Lehrermanier, drehte sich anschließend von der Klasse weg und verschwand im angrenzenden Labor.

Hermine ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie gehörte eigentlich nicht zu der Sorte Schüler, die zum Ende des Unterrichts den Klassenraum panikartig verließen. Doch heute war alles anders.

Und so füllte sie ihren (dieses mal) nicht wirklich perfekten Trank in eine kleine Phiole ab, verkorkte diese mit zittrigen Fingern, stellte sie hektisch auf Snapes Pult ab und stürmte förmlich aus dem stickigen Kerker.

Tief atmete sie die frische Frühlingsluft ein, die ihre Lungen wohltuend durchfluteten. Sie atmete schnell und ihr Herz raste von dem Sprint aus dem Kerker, durch das halbe Schloss hinaus in die Freiheit.

Am See angekommen, stützte sie erschöpft die Hände auf ihre Knie ab und versuchte wieder zu Luft zu kommen.

„Hermine?" wurde sie plötzlich gerufen.

Na super! Dachte die Gryffindor und versuchte nicht ganz so kläglich auszusehen, als sie sich wieder aufrichtete und in zwei grüne Augen blickte. Hermine sah Harry lange einfach nur an und insgeheim dankte sie ihn dafür, dass er es offensichtlich geschafft hatte, Ron abzuschütteln. Denn einen völligen Müll plappernden Ron konnte sie jetzt am wenigsten gebrauchen.

Auch Harry blickte seine langjährige Freundin einfach nur an – jedoch mit einem seltsamen Blick, der sowohl mitfühlend als auch leicht verunsichert wirkte.

„Alles in Ordnung?" fragte er schließlich nur und Hermine konnte ihn deutlich ansehen, dass er sie eigentlich etwas ganz anderes fragen wollte. Aber wie sie ihn kannte, würde er sicherlich noch eine Gelegenheit für DIE Frage finden.

„Alles bestens." Gab Hermine nur trocken zurück und wunderte sich in diesem Moment selbst über ihren aufkeimenden Zynismus.

Der-Junge-der-ein-einziges-Wunder-war atmete einmal tief durch, um wahrscheinlich sein gesamtes Potenzial an Verständnis aus seinem Innersten hervorzukramen. „Was ist passiert?" versuchte er es mit einer anderen Frage, die aber auch nicht wirklich das Thema traf, was er eigentlich ansprechen wollte.

So langsam wünschte sich die junge Frau, Harry wäre so direkt, wie Ron es immer war. Vielleicht nicht ganz so trampeltiermäßig, aber etwas mehr Direktheit wäre in ihrer jetzigen Lage nicht schlecht – denn die war schon demütigend genug.

„Harry." Sagte sie in ihrer besten Besserwisserin-Manier, so wie sie es in den ersten beiden Schuljahren immer getan hatte. „Wenn du wissen möchtest, warum ich gerade diese Worte zu Snape äußern musste, dann frag mich gefälligst einfach!" Sie war zum Schluss hin lauter geworden als beabsichtigt, aber diese ganze Situation, diese tiefe Scham, die sie empfand und die Unwissenheit, warum sie gerade diese Worte gesagt hatte, hatten sie schlichtweg ihre Nerven verlieren lassen.

Harry war kaum merklich unter ihrem Ausbruch zusammengezuckt, schien sich aber soweit wieder im Griff zu haben, als er tatsächlich DIE Frage stellte. „Also gut. Warum hast du Snape geduzt und…. Und warum hast du ihm DAS gesagt?" Auch Harry schien nun etwas aufgebracht zu sein. Was aber nicht weiter verwunderlich war, denn Snape stellte immer ein rotes Tuch für ihn dar.

Und das ausgerechnet Hermine, seine so vernünftige und rationale Freundin, so etwas zu seinem Hassfeind Nummer eins (Ja, Snape kursierte auf Harrys Liste noch vor Voldemort) sagte, war für ihn wie ein Tritt in die Magengrube.

Mit feurigem Blick sah er Hermine beinahe schon herausfordernd an. Und diese hätte über Harrys absurdes Verhalten fast wütend geschnaubt. Es war ja nicht so, als ob sie Snape ihre emotionale Botschaft freiwillig hatte zukommen lassen. Also sollte sich Harry auch mal ein wenig zusammenreißen.

„Ich kann es dir nicht sagen." Erwiderte sie schlicht. „Ich würde es gerne, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht… warum ich ihm das gesagt habe."

Skeptisch blickte Harry sie an. „Du weißt nicht, warum du ihn so angebettelt hast, dass er auf sich aufpassen soll?!" erwiderte er mit ungewöhnlich schriller Stimme.

Innerlich verdrehte Hermine ihre Augen. Wenn es um Snape ging, konnte Harry wirklich engstirnig und unverbesserlich sein. Nun wirklich sauer aufgrund seines Verhaltens, verschränkte die junge Frau ihre Arme vor der Brust und funkelte ihn nun wütend an. „Du tust ja gerade so, als ob ich mich freiwillig dieser Schmach ausgesetzt habe." Wütete sie auch schon los. „Aber sicher warum auch nicht!? Es hat mir Spaß gemacht, mich vor der gesamten Klasse, die wohlgemerkt zur Hälfte aus Slytherins besteht, UND vor Snape persönlich zum Deppen der Nation zu machen. Außerdem ist es ein tolles Gefühl nun von allen, selbst von seinen eigenen Freunden, als geisteskrank eingestuft zu werden!"

Nun doch sichtlich betroffen, blickte Harry seine Freundin leicht beschämt an. Nervös strauchelte er unbeholfen mit seinen Händen umher und hatte wenigstens den Anstand, leicht rot zu werden. „Ich halte dich nicht für geisteskrank." Erwiderte er kleinlaut und mit einem zarten Lächeln auf den Lippen.

Hermine atmete laut aus und ließ sich auf die Wiese sinken. Ihr Blick lag nachdenklich auf den spiegelglatten schwarzen See. „Ich weiß auch nicht." Begann die junge Frau nun wieder etwas ruhiger. „Es war so, als ob mir die Worte eingepflanzt worden sind. Als ob ich sie sagen sollte."

Nachdenklich lag Harrys Blick auf der Gryffindor. Und schließlich sprach er das aus, was auch schon in Hermines Gedanken herumschwirrte. „Glaubst du, Voldemort hat etwas damit zu tun?"

Hermine zuckte nur mit ihren Schultern. „Ich weiß es nicht Harry." Meinte sie mit resignierendem Tonfall. „Was sollte Voldemort davon haben?" Erwartungsvoll blickten braune Augen in Grüne, die sich bei ihrer letzten Frage kaum merklich geweitet hatten.

„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Voldemort jemanden solch sentimentalen Worte einpflanzen kann." Erwiderte der Junge-der-lebt trocken.

Einige Sekunden lang blickte Hermine ihren Freund verdutzt an, doch dann konnte sie nicht mehr an sich halten und brach in lautes Gelächter aus – auch wenn die Situation eher zum heulen war.