Der Atem der jungen Frau ging rasselnd, die Erkältung zehrte noch immer an ihren Kräften. Schnell rannte sie durch die menschenleeren Straßen. Den Beutel presste sie näher an ihren Körper, ohne ihn wäre alles umsonst gewesen. Schneller, immer schneller, sie musste sich beeilen.
Sie waren hinter ihr her. Sie durften sie nicht kriegen, sonst wäre sie Geschichte. Tot, mausetot. Elendig verblutet.
Sie hörte schon die klappernden Schritte ihrer Verfolger auf dem Kopfsteinpflaster. Sie trugen teure Lederschuhe, das wusste sie. Widerliche Verräter! Elende Verräter, die und ihr verdammtes Geld!
Fast, sie war fast da, gleich da vorn. Die junge Frau konnte die Grenze schon sehen, gleich war sie in Sicherheit. Das Klappern wurde lauter, sie kamen näher und es waren viele. Dabei war bereits einer allein absolut tödlich. Ob auch dieser elende Mörder sie verfolgte? Wohl kaum, er machte sich nicht die Hände für jemanden wie sie schmutzig.
Die Grenze war nur noch wenige Meter entfernt, doch hinter ihr ging es weit über 30 Meter in die Tiefe. Zum Klettern blieb allerdings keine Zeit, es gab nur ein Möglichkeit: Springen.
Ganz nach unter war tödlich, viele waren dort und dabei schon gestorben, aber auf das Hausdach wäre es möglich, es war nicht weit entfernt. Vielleicht vier oder fünf Meter, aber es lag trotzdem noch mehr als fünf Meter unter ihrer jetzigen Höhe.
Egal, es war ihre einzige Chance, entweder sie überlebte es oder eben nicht. Stehenbleiben war keine Alternative, sondern der absolut sichere Tod.
Die Grenze kam, sie presste den Beutel noch fester und näher an sich. Der letzte Schritt, ein letzter Atemzug. Und sie sprang.
Unter ihr ging es in die Tiefe, sie wagt es nicht herunter zu sehen. Das Hausdach kam näher, sie würde es mit Sicherheit schaffen.
Ihr Verfolger waren fast da, die Schritte stoppten am Abgrund. Das war das Letzte, das sie mitbekam, ehe sie auf dem flachen Hausdach aufkam, sie mehrmals überschlug und schließlich benommen auf der Seite liegenblieb.
Etwas Rotes tropfte in ihr verschwommenes Sichtfeld. Blut. Sie musste sich den Kopf angeschlagen haben. Schwer atmend lag sie da, in Sicherheit. Doch sie musste weiter. Ihre Sicherheit war trügerisch, denn diesen Verrätern konnte und durfte man niemals trauen.
Benommen versuchte sie sich aufzurichten, sackte aber mit einem unterdrückten Schrei wieder nach unter, als sie sich auf ihrem Arm ab zu stützen versuchte.
Ihre Schulter schmerzte höllisch. Verdammt, war sie verstaucht? Geprellt? Oder gar gebrochen? Inständig betete sie für ersteres.
Sie biss die Zähne zusammen und blickt auf nach rechts unten. Ihre Schulter sah ganz normal aus, weder verdreht, noch verrenkt. Ein gutes Zeichen, nicht?
Ein zweites Mal versucht sie sich aufzurichten, jetzt ohne den Fehler diese Schulter auch nur annähernd zu belasten. Es klappte. Und sie musste weiter, bevor es sich diese Verräter anders überlegten und sie doch noch umbrachten, denn jetzt war sie absolut wehrlos. Nicht das sie vorher eine reelle Chance gegen einen von ihnen, geschweige denn alle, gehabt hätte.
Immer noch benommen torkelte sie nahezu zum Rand des Daches und blickte runter. Ein Vorsprung keinen Meter unter ihr und das nahe Nachbargebäude, so viel Glück konnte sie doch gar nicht haben, oder?
Mit einem erleichterten Lächeln im Gesicht ließ sie sich sie auf den Vorsprung fallen und sprang von dort aus auf das nächste Haus. Hinter sich hörte sie zum hoffentlich letzten Mal ihre Verfolger. Ein wahrscheinlich junger Mann meinte: „Die haben wir verloren." Er sprach ungewöhnlich laut, sie verstand ihn ohne Probleme.
Ob das eine Bedeutung hatte?
Ihr war es egal, sie hatte überlebt und das war jetzt das Wichtigste.
Mit jedem über die Dächer zurück gelegtem Meter schwant die Anspannung mehr aus ihrem Körper. Ihr Ardenalinspiegel sank wieder auf ein humanes Niveau. Und mit dem Adrenalin verflüchtigte sich auch dessen wunderbar schmerzbetäubende Wirkung. Der Schmerz in ihrer Schulter und auch in ihrem Kopf, sowie dem restlichen Körper, pochte und wurde mit jedem Herzschlag schlimmer. Doch sie war bald da, bald konnte sie sich ausruhen. Jetzt musste sie die Zähne zusammenbeißen, während sie durch eine Ruine von den Dächern des Slums auf die Straßenebene hinabstieg.
Unten angekommen, sah sie sich prüfend um. Niemand da. Es war noch hell, die Luft, oder ihretwegen auch Smog, war rein. Sie atmete tief durch, versuchte den Schmerz weitestgehend auszublenden und rannte los. Die Zentralstraße entlang, am verdreckten Brunnen vorbei in eine vermüllte Seitengasse und von durch über die Hinterhöfe weiter.
Hinterhöfe war ein relativer Begriff, er meinte schlicht die kleinen, unbebauten, dafür aber mit Sperrholz und Abfall zugemüllten Flächen hinter den halb eingestürzten Baracken Downtowns.
Sie selbst lebte im Außenbereich des Slums, so weit weg von der Grenze wie möglich. Der Außenbereich unterschied sich stark von der „Stadt", wenn man sie denn überhaupt so nennen durfte. Alles war kleiner, keine großen Baracken, sondern kleine verfallene Häuschen, die immer kleiner wurden und deren Zustand immer weiter abnahm, je weiter sie von der Stadt entfernt standen.
Die junge Frau rannte durch den menschenleeren Außenbereich, bis sie schließlich vor einer kleinen Hütte, oder auch Ruine, es war Ansichtssache, stehen blieb. Tief atmete sie durch und konnte gerade noch verhindern, dass sie vor Erschöpfung auf die Knie sank. Gleich konnte sie sich ausruhen, mit diesem Gedanken raffte sie ihre letzten Kraftreserven zusammen und schleppte sich zur Tür.
Mit einem schwachen Tritt wurde sie geöffnet und schlug trotzdem mit einem Knall gegen die Wand. Langsam trat die junge Frau ein und sah sich im dämmrigen Licht um. Viel konnte sie im schwachen Licht der Abendsonne, dass durch die Löcher im Dach hineinfiel, nicht erkennen.
Stille. Sie hörte nur ihren Atem, sonst nichts.
War sie allein?
Sie stellte den Beutel ab und sah sich nochmals um. Niemand. Und der Eingang nach unten war fest von außen verschlossen. Ein näherer Blick auf das Schloss. Es war exakt so wie sie es heute morgen zurückgelassen hatte, genauso wie sie es vor zwei Nächten abgeschlossen hatte.
Sie war allein.
Sofort kam ihr die nächste Frage. Und gleichsam mit dieser Frage kam die Angst. Wo waren die beiden?
Wenn sie nicht hier waren, mussten sie in der Stadt sein. Oder hinter der Grenze...nein, diesen Gedanken wollte sie gar nicht zu Ende denken. Ihre Brüder konnten nicht tot sein, konnten es nicht. Und waren es auch nicht, da war sie sich sicher. So was hätte sie als ältere Schwester doch gespürt. Außerdem, was hätten sie hinter der Grenze den gewollt? Sie kannten dort doch niemanden und wegen nichts setzte man nicht mal so sein Leben aufs Spiel. Das brachten nicht mal die Beiden.
Also waren sie wohl doch in der Stadt. Solange sie zusammenblieben, war dann alles in Ordnung. Sie brauchte sich keine Sorgen machen. Immerhin waren ihre Brüder keine kleinen, dummen Kinder mehr.
