A/N: Diese Story ist so gut wie beendet. Ich habe sie vor einiger Zeit für eine Freundin geschrieben und jetzt krempel ich die Geschichte um, damit sie jeder verstehen kann, der nicht mit allen Charas vertraut ist. Viel Spaß beim Lesen und vergesst nicht mir ein kleines Review da zu lassen ;)
Kapitel 1
Jegliches Gefühl über ihre Gliedmaßen schien ihr abhanden gekommen zu sein. In diesem Moment hätte sie nicht sagen können, wie sie sich bewegen konnte. Was Bewegung überhaupt war. Sie schien auseinander gerissen zu werden. Ihr Kopf wollte auseinander bersten. Alle Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Ein beißend grelles Licht betäubte alles. Ihr Körper war wie gelähmt und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, in der tausende fremde Gesichter und Bilder auf sie nieder prasselten, war alles vorbei. Schwer atmend lag sie auf eiskaltem Asphalt. Jedes Schnappen nach Luft schmerzte. Ihr Kopf dröhnte. Beinahe traute sie sich nicht die Augen zu öffnen. Aber es ging. Der Himmel über ihr war bleigrau. Himmel. Für einen Moment hatte sie geglaubt dort zu sein. Mit einem leichten Schaudern setzte sie sich auf. Die Straße, in der sie sich gerade noch befunden hatte, war verlassen. Endlos verlassen. Was war passiert?
Zitternd hob sie eine Hand und presste sie auf ihre noch immer schmerzende Stirn. Die noch immer brennenden Augen zeigten ihr eine Welt die so ganz anders war, als sie sie in Erinnerung hatte. Für eine Sekunde schloss sie die Lider. Die Straße war leer. Für einen Moment spürte sie die Angst, die sich in ihr breit zu machen drohte und mühevoll kämpfte Gina die Angst nieder. Jetzt war nicht der Moment um in Panik zu geraten. Sie atmete noch einmal tief durch. Es war, als stecke ein Messer tief in ihrer Brust, doch langsam aber sich verebbte der Schmerz. Es war der Aufprall gewesen. Nichts weiter. Aber wo war er... und wo war Deborah? Sie hörte keine Stimmen. Kein Rauschen von vorbeifahrenden Autos. Das war es. Die Zeit war vorbei. Sie musste aufstehen. Weiter machen. So wie immer.
Gina zwang sich die Augen wieder aufzuschlagen. Zwang sich aufzustehen. Da stand sie. Inmitten der zerstörten, verlassenen Straße. Als sei hier jahrelang niemand gewesen. Dabei waren erst Sekunden zuvor so viele Menschen hier gewesen. Nach all der Zeit hatte sie sie endlich gefunden. Ihre Schwester. Die jetzt nicht mehr da war. Weder sie, noch der Mann, der sie zu Boden gerissen hatte. Dieses Gesicht schien wie in ihr Hirn gebrannt. Erst Deborah, die sie so lange nicht gesehen hatte, dann dieser Fremde. Die fein geschwundenen Lippen, die dunklen Locken, die kühlen Augen. Sein Gewicht auf ihrem Körper, als er sie zu Boden riss. Gina wandte sich um. Ihr Wagen war nicht mehr da. Schnell schlang sie die Arme um ihren Torso. Es war bitterlich kalt, auch wenn sie die eisige Luft nur an ihrem Gesicht spürte. Kälter, als es im September sein sollte. Etwas stimmte nicht. Sie hatte es gewusst von dem Moment an, als sie wieder zu sich gekommen war.
Zögerlich setzte sie einen Fuß vor den anderen. Es brachte nichts hier herum zu stehen. Rein gar nichts. Fast fürchtete sie, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen, doch der Asphalt trug sie, wie das Aussehen es auch vermuten ließ. Warum? Gerade hatte sie ihre Schwester wieder gefunden und auf einmal war alles vorbei. Die Welt schien aus den Angeln geraten. Von einem Moment auf den anderen. Warum?
Sie schluckte schwer, als sie an den Fremden dachte, der sie auf den Boden geschleudert hatte. Entfernt erinnerte sie sich an ein lautes Scheppern. Ihr Wagen? Wieder schauderte sie, als sie sich umsah. Die zerschlagenen Scheiben der Geschäfte und Cafés, die vor wenigen Augenblicken noch einladend und geradezu fröhlich gewirkt hatten, jagten ihr eine größere Angst ein, als jeder Dämon, jedes Monster dem sie je begegnet war. Gerade hatte sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht, wo sie Deborah gesehen hatte, da erblickte sie ihr Spiegelbild in der halb zerschlagenen Scheibe des Diners.
Sie hatte sich verändert. Nicht viel, aber doch war die Veränderung deutlich sichtbar. Das Haar war etwas länger, als sie es in Erinnerung hatte. Zögerlich fuhr sie sich durch die beinahe buschige Mähne, während ihre Augen die Erscheinung vor sich wahrnahmen. Älter. Nicht viel, aber älter. Das war es, was ihr durch den Kopf schwirrte. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Gerade so, dass man es eben wahrnehmen konnte. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt und sie musste noch einmal tief durchatmen, ehe sie sich erlaubte den Rest ihrer Erscheinung in Augenschein zu nehmen. Ein Mantel, der teuer aussah. Hatte sie ihn gestohlen? Wann? Ein Dämon? Nein. Das war unmöglich. Die Tätowierung hatte das verhindert. Musste das verhindert haben! Die Jeans wirkte auch teurer als sie sein sollte. Die Schuhe waren nicht für die Jagd geeignet. Sie besaß zwei Paar. Turnschuhe, die ihr die nötige Flexibiltät ließen und Pumps wenn sie eine entsprechende Rolle spielen musste. Die dunkelbraunen Stiefel waren alles andere als praktisch und ganz sicherlich nicht ihre. Und der Schal... der Schal, der ihr entfernt bekannt vorkam, dessen Geruch eine angenehme Wärme in ihr aufkommen ließ. Panisch riss sie ihn sich vom Hals. Dieses Gefühl... dieses Gefühl jagte ihr eine fast noch größere Angst ein, als der Anblick ihres Spiegelbildes. Das war nicht sie! Und doch war sie es. Eine Gina, die sie nicht kannte.
Panisch fuhr sie herum, wünschte sich ihre Pistole in der Hand zu halten. Noch immer war sie allein, oder wenigstens wirkte die Straße verlassen. Selten hatte sie eine Stadt derart leer gesehen und noch nie war sie allein in einer solchen Situation gewesen. Sarah war bis vor wenigen Wochen bei ihr gewesen, wenn sie gefährliche Jobs unternahm. Bis vor wenigen Wochen war sie nicht allein gewesen. Ihre Hände verkrampften sich um den Schal. Langsam hob sie ihn wieder an die Nase. Ein herber Geruch, aber kein Schwefel. Seltsam vertraut, aber nicht angsteinflößend. Immerhin das. Ein eisiger Wind kam auf und instinktiv wickelte sie den Schal wieder um ihren Hals. Der weiche Stoff wärmte sofort und auch wenn der Geruch, der vom Schal ausging ihr unbekannt war, auch wenn das angenehme Gefühl ihr Angst machte, behielt sie ihn um.
Ersteinmal musste sie von der Straße herunter. Das war das Wichtigste. Alles andere würde sich ergeben. Dann würde sie weiter sehen können. Es ging darum einen Schritt nach dem anderen zu tun und das Umfeld dabei nicht aus den Augen zu verlieren.
Gina ging die Straße entlang, beeilte sich, dann drückte gegen die Tür eines Cafés. Sie ging auf. Und Gina schien nicht die erste zu sein, die seit dem Verlassen der Stadt hierher gekommen war. Im Gegenteil. Tische waren umgeworfen worden, die Auslage hinter der Theke war restlos leer geräumt und Gina ahnte, lange bevor sie an die Kasse heran trat, dass sie leer sein würde. Mit einem Seufzen betrat sie die kleine Küche durch eine schmale Tür hinter dem Tresen. Auch hier war alles leer und nichts weiter, als ein paar Küchenschaben verrieten ihr, wie lange hier niemand mehr gewesen war. Sarah.. würde sie Sarah anrufen, dann hätte sie wenigstens einen Anhaltspunkt. Aber das durfte sie nicht. Sie hatte ihrer Freundin versprochen den Kontakt nicht mehr zu suchen. Es wäre zu gefährlich und Sarah hatte ein normales Leben verdient. Einen Ausstieg. Einen Ausstieg, der Gina erst beschieden sein würde, wenn sie Deborah gefunden und die Sache mit ihren Eltern geklärt hätte. Und Gott allein wusste, wie lange das noch dauern würde. Deborah... Gina war sich sicher gewesen ihre Schwester gefunden zu haben, die vor so vielen Jahren verschwunden war. Und dann... was dann geschehen war, konnte Gina unmöglich sagen.
Systemathisch durchsuchte Gina die Schränke in der Küche und fand nichts. Nicht einmal eine Tüte Mehl. Lediglich eine riesige Dose Aprikosenkonserven, die ohnehin zu groß war, um sie herumzutragen, fand sie in einem Regal.
„Na gut...", murmelte sie. „Dann esse ich dich jetzt, falls du das letzte bist, das ich die nächsten Tage zu mir nehmen kann." Vermutlich würde sie laufen müssen. Es schien nicht gerade unwahrscheinlich, dass sie hier keinen Wagen finden würde, den sie würde kurzschließen können. Und ihr Golf war wie vom Erdboden verschluckt. Genau wie alle anderen Wagen in dieser Stadt. Mit spitzen Fingern nahm Gina eine Gabel und ein scharf aussehendes Messer aus einer Schublade, wischte sie notdürftig an ihrer Bluse ab, und erstarrte. Ein verkohlter Schlitz mitten auf ihrer Brust. Sie schluckte schwer. Keine Schmerzen. Jedenfalls nicht mehr. Gina sah sich um, fand einen Dosenöffner, nahm die Dose an sich und machte sie auf den Weg zur kleinen Damentoilette, die sie gerade bei ihrer kurzen Bestandsaufnahme des Cafés entdeckt hatte. Sie schloss sich ein. Vermutlich bot es nicht viel Sicherheit, würde sogar noch eher Aufmerksamkeit erwecken, aber sie fühlte sich wohler. Und das war genau das Problem. Langsam schob sie den Riegel wieder auf, damit jeder der draußen stand, von einer verlassenen Toilette ausgehen würde. Noch einmal atmete sie tief durch, stellte die Dose mit der Gabel und dem Dosenöffner darauf auf den Toilettensitz, dann hob sie den Blick zum verstaubten Spiegel. Wieder dieses vertraut fremde Gesicht. Das Gesicht, das nicht sie war. Langsam schälte sie sich aus dem Mantel und hängte ihn an den Haken. Durch das schmutzige Fenster drang genug Licht in den kleinen Raum, dass sie sich gut erkennen konnte. Fahrig fuhr Gina mit dem Ärmel der Bluse über den Spiegel, damit sie sich deutlicher sehen konnte. Dann schob sie das Messer so in den Bund der Jeans, dass sie sich nicht verletzen konnte und es doch gleichzeitig gut erreichen konnte. Sie zog das Kleidungsstück über ihren Kopf. Keine Wunde entdeckte sie dort, wo das Loch im Stoff gewesen war. Nichts. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die fremden Gesichtszüge. Innerhalb weniger Augenblicke konnte das ebenso wenig geschehen sein, wie das Verschwinden der Menschen. Sie wandte sich um, um alle Zweifel zu beseitigen. Nein. Die Tätowierung war intakt. Sie war sie. Gina Winter. Und war es vermutlich lange Zeit auch gewesen.
Noch einmal seufzte sie. Es nützte nichts. Sie musste aus dieser Stadt heraus kommen. Irgendwie und herausfinden was geschehen war. Mit ihr und mit Deborah. Das Messer verstaute sie sicherer in ihrem Hosenbund, zog die Bluse wieder über, ebenso den Mantel. Die Dose war leicht zu öffnen und das Obst, das im gezuckerten Wasser schwamm, sah nicht gerade appetitlich aus, würde sie aber satt machen und das war die Hauptsache.
Sie hatte ein paar Pfundnoten in ihrer Manteltasche gefunden. Das plötzliche Auftauchen der fremden Geldnoten war ihr ebenso schleierhaft, wie ihr verändertes Aussehen und die teure Kleidung. Aber die Scheine würden ihr sicherlich eher helfen als das offensichtlich auffällig teure Handy, das sie in einer Innentasche des Mantels gefunden hatte. Ohne ein schlechtes Gewissen ließ sie es in den Mülleimer fallen. Der Bildschirm war kaputt und es ließ sich nicht anschalten. Da sie die PIN nicht kannte würde es auch nicht helfen den Akku aufzuladen, ganz zu schweigen davon, dass sie darüber gefunden werden konnte. Und das konnte sie sich im Moment sicherlich nicht leisten. Was immer mit ihr geschehen war, es schien sie in der Welt umher gebracht zu haben. Der silbrig schimmernde Dolch, den sie in einer versteckten Naht des tiefroten Mantels gefunden hatte, behielt sie. Er würde sich vielleicht als hilfreicher erweisen, als das Küchenmesser. Nicht einmal ein Schaudern erlaubte sie sich, als sie vom Mülleimer wegtrat und die Gasse hinter dem Café entlang lief. Die Tür zu einer Boutique stand offen. Das immerhin konnte sie in diesem Moment gut gebrauchen. Niemand schien in dieser Stadt zu leben, wenn sie also fündig wurde, würde niemand die Waren vermissen. Es war eines der Verbrechen, das ihr sicherlich nicht den Schlaf rauben würde. Gezielt betrat sie das Geschäft. Hier immerhin schien niemand so ausgiebig gewütet zu haben wie in dem Café, auch wenn die Scheiben hier ebenso zerschlagen waren. Es fiel ihr nicht schwer ein paar Oberteile und eine Hose zu finden. Eine große Tasche fand sie ebenso, auch wenn keine Schuhe hier waren, die ihr passten. Schuhe schienen gefragt gewesen zu sein, ehe diese Stadt zugrunde gegangen war. Warum auch immer. Und sie würde es herausfinden, sobald sie endlich diese Stadt verlassen hatte.
Immerhin ein paar Dollar fand sie in einer vergessenen Spardose im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter. Das würde immerhin ein Anfang sein. Die Pfund würde sie umtauschen können. Dann hatte sie einen Anfang. Der Rest würde sich ergeben. Sie brauchte Kreditkarten, einen Wagen. Dann würde sie sich alles wieder beschaffen können. Alles, bis auf die Bücher, die in ihrem Golf gewesen und jetzt nicht mehr in ihrer Reichweite waren. Doch auch dafür würde sich eine Lösung finden. Früher oder später. Vorerst musste sie alles andere regeln und an Geld kommen.
Die Tür der Boutique zog sie nicht hinter sich zu. Auch das hätte jemanden auf sie Aufmerksam machen können und es galt diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Die Sonne stand bereits tief. Es wurde immer besser. Immerhin wusste sie sich zu wehren. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte, als ihre Nackenhaare sich aufstellten. Das dumpfe Gefühl beobachtet zu werden, das sie nur zu gut kannte. Das Bauchgefühl, das sie so selten im Stich gelassen hatte. Es ergriff von ihr Besitz. Es würde von hinten kommen. Wenn es etwas Übernatürliches war, dann würde sie sich darauf einstellen müssen. War es ein Mensch... Gina zwang sich ruhig zu atmen und verschränkte die Arme vor der Brust, eine Hand ließ sie unauffällig durch die Knopfleiste um im Inneren des Mantels verschwinden und sie schloss die Hand um den Griff des silbernen Dolches. Doch keine Hand legte sich auf ihre Schulter. Kein Schrei durchbrach die eisige Stille. Gina blieb stehen und wandte sich um. Ihr Blick fiel auf den Mülleimer, der in weiter Entfernung stand. Den Mülleimer, in dem das Handy lag. Für einen Moment war sie tatsächlich versucht es doch zu versuchen. Zu versuchen gefunden zu werden. Doch nein. Wer würde sie suchen, den sie würde sehen wollen. Es war nicht ihr Handy. Niemand, den sie kannte, hatte diese Nummer.
Sie drehte sich wieder um und kam an die Straße. Es nützte nichts. Wenn sie die Straßen dieser Stadt absuchte, würde sie nicht fündig werden. Seit Monaten war hier niemand gewesen. Hier würde sie nur ihre Zeit versschwenden. Sie wünschte sich nur, einen etwas unauffälligeren Mantel gefunden zu haben.
