Erster Teil
In der Höhle des Löwen
Die junge Hexe hetzte die Treppenstufen nach oben. Ihr Atem flog und ihr Umhang bauschte sich hinter ihr. Sie hielt einen Stapel Bücher fest an ihre Brust gedrückt, warf einen hektischen Blick auf ihre Uhr und verfehlte dadurch eine Stufe, was sie fast zum Fallen gebracht hätte. Nur mit Mühe hielt sie ihr Gleichgewicht indem sie mit einem Arm in der Luft ruderte und mit dem anderen die Bücher noch etwas fester an sich drückte.
Auf dem letzten Absatz machte der Gang eine scharfe Linkskurve. Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte nicht zu spät kommen. Nicht schon wieder. Sie sollte einfach nicht in der Pause in die Bibliothek gehen. Eigentlich wusste sie ja, dass sie dabei immer die Zeit vergaß. Professor McGonagall würde ihr wieder einen missbilligenden Blick über den Rand ihrer –
„Au!"
Die junge Gryffindor fand sich plötzlich auf dem Boden wieder, die Bücher quer über dem ganzen Gang verteilt. Sie hob wütend den Kopf und holte Luft um an dem Hindernis gegen das sie in vollem Laufschritt geprallt war, und das hier an diese Stelle definitiv nicht hingehörte, ihren Unmut auszulassen.
Beim Anblick des großen, blonden Mannes der spöttisch auf sie herab sah blieben ihr allerdings die Worte im Hals stecken und ihre Augen weiteten sich verblüfft.
„Mr. Malfoy…" stotterte sie und vergaß für einen Moment das sie es eigentlich eilig hatte.
„Miss Granger. Immer noch unverändert."
Wie Öl tropften die blasierten Worte des Aristokraten von oben auf sie herab. Ein Ruck ging durch die junge Frau und sie warf dem Mann einen wütenden Blick zu.
„Warum sollte ich mich ändern?" blaffte sie zurück und stand hastig auf.
Selbst wenn man mit Malfoy auf einer Augenhöhe war, schaffte er es irgendwie immer noch seine Gesprächspartner von oben herab anzuschauen. Ihn gar vom Boden aus nach oben blickend über sich zu haben war etwas, was Hermine nicht vertragen konnte.
Sie reckte sich zu ihrer vollen Größe und blickte ihm fest in die eisgrauen Augen.
„Was wollen Sie hier?"
Ihrer Stimme war die abgrundtiefe Ablehnung die sie diesem Mann gegenüber empfand deutlich anzuhören. Was tat er hier? Sie hatte ihn seit Ende des Kriegs nicht mehr gesehen. Draco war wieder in Hogwarts aufgenommen worden, um wie sie, Harry und Ron auch, sein siebtes Schuljahr zu beenden. Aber seinen Eltern war, soweit sie das wusste, das Betreten der Schule verboten.
Sie versteifte sich unmerklich. In gespieltem Erstaunen zog Malfoy eine Augenbraue nach oben.
„Aber Miss Granger, so ein schlechtes Gedächtnis hätte ich gerade bei Ihnen nicht vermutet."
Er schnalzte leicht missbilligend mit der Zunge was Hermine sofort erneut die Wut in den Kopf schießen ließ.
„Draco. Draco Malfoy. Mein Sohn. Er wird an dieser Schule ebenso unterrichtet wie Sie. Ist Ihnen das entgangen?"
Die junge Hexe hätte ihm in diesen Moment am liebsten die Arroganz und seine blasierten, überheblichen Worte aus dem glattrasierten Gesicht gekratzt.
Gut – ganz so glatt war es nicht mehr wie sie bemerkte. Auch bei ihm hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen. Eine feine Narbe zog sich quer über die rechte Wange bis fast zur Augenbraue und seine Nase sah aus als wäre sie einmal gebrochen wurden und nicht gleich wieder ordentlich zusammen gewachsen.
Malfoy war einer der letzten Todesser die noch nicht hinter Gittern saßen. Er verdankte dieses Glück dem Umstand dass er wohlhabend war und mit seinem Geld einige wichtige Leute in der Zaubererwelt finanzierte. Unter anderem auch das St. Mungos, das in dieser Zeit der Kriegsnachsorge unerlässlich war. Dieser Mann konnte sich mit Geld schon immer alles kaufen. Angewidert verzog die Hexe ihr Gesicht und wandte sich ab um ihre Bücher aufzulesen.
Merlin sei Dank hatte McGonagall, die Dumbledores Nachfolge angetreten hatte, wenigstens durchgesetzt das die Malfoys nicht mehr nach Hogwarts durften. Bis auf Draco. Da hatte die ältere Frau letztendlich Dumbledores Verfügung, dass der Sohn der Malfoys wenigstens seine Ausbildung zu Ende bringen sollte, respektiert.
Hermine fixierte eines der am Boden liegenden Bücher und mit einem fast unmerklichen Schwenk ihres Zauberstabes sorgte sie dafür, dass es vom Boden hoch und zu ihr herüber schwebte. Malfoy schenkte ihr einen letzten abwertenden Blick und schickte sich an seinen Weg fortzusetzen.
„Soweit ich weiß dürfen Sie und ihre Frau Hogwarts nicht mehr betreten. Warum sind Sie hier?" wiederholte sie ihre Frage etwas lauter und schärfer, das Buch nicht aus den Augen lassend.
Malfoy wirbelte herum, war in zwei großen Sätzen bei ihr, packte ihren Umhang und zog sie dicht zu sich heran.
„Meine Frau, Miss Granger, liegt im St. Mungos im Sterben. Und das ist Ihre Schuld und die Ihrer kleinen widerwärtigen Freunde!"
Hermine war der Schreck in alle Glieder gefahren. Mit blassem Gesicht starrte sie sprachlos in die eisigen Augen des blonden Zauberers, die den ihren so nahe waren, dass sie deutlich die ganze Verachtung, die er für sie empfand darin lesen konnte. Hektisch huschte ihr Blick zwischen seinen Augen hin und her während ihr Herz ein eigenes, wildes Stakkato trommelte.
Der blonde Mann stieß sie von sich weg und zupfte seine Mantelärmel zurecht, als würden die es wagen auch nur einen Zentimeter nach oben zu verrutschen. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und verschwand mit langen Schritten hinter der nächsten Biegung.
Hermine stieß die angehaltene Luft aus, während ihre Gedanken wild durcheinanderpurzelten. Narzissa Malfoy im St. Mungos? Im Sterben? Das würde erklären weshalb er hier war. Aber das hätte sie doch mitbekommen müssen!
Hermine hatte sich nach dem Krieg nie wieder so richtig in das Schulleben einfinden können. Sie hasste es, untätig herum zu sitzen, während draußen alle versuchten, die magische Welt aus den Trümmern zu heben und neu aufzubauen. Sie hatte sich für die Abende und die Ferien dazu verpflichtet im St. Mungos Dienst zu tun. Zu helfen wo sie nur konnte. Da sie schon seit einem Jahr volljährig war, war das kein größeres Problem gewesen. Der Krieg war jetzt gerade ein halbes Jahr vorbei und immer noch kamen täglich neue Opfer mit Spätfolgen irgendeines dunklen Fluchs herein. Es war oft nicht leicht. Sie hatte viele Menschen dahinsiechen sehen die sie kannte. Vielen konnten sie helfen – einigen nicht.
Und jetzt Narzissa…? Was war mit ihr passiert? Wieso sagte Malfoy es wäre ihre Schuld? Und wieso, verdammt, wusste sie nichts davon?
