„Scipio? Du?", Wespe machte ein überraschtes Gesicht, als die alte Tür zum Kino sich zum zweiten mal in dieser Nacht öffnete.
„Ich hab etwas gefunden.", antwortete Scipio in der gewohnt unbeteiligten Stimmlage.
Niemand hätte erahnen können, wie aufgewühlt der Junge hinter seiner passiven Maske war.
Eine Maske, die ihn sowohl von innen, als auch von außen ausmachte, denn er trug die schwarze Tarnkappe mit der Vogelnase, wie gewohnt über dem langen schwarzen Cape.
Keines von beiden hatte er jedoch getragen, als er vor weniger als einer Stunde am Kanal de Grande entlang geschlendert war, auf dem Weg nach Hause, obwohl das Haus seiner Eltern das nie für ihn gewesen war.
Da hatte er sie gesehen. Sie lag regungslos in Moscas kaputten Boot. Wie oft hatte der dunkelhäutige Junge es zu reparieren versucht, wie oft Wespe und Prosper angebettelt ihm anständiges Werkzeug und Farbe mit zubringen.
Jetzt trieb es angebunden in der kleinen Bucht, direkt neben den glitschigen Treppen, von denen Bo behauptete, das Wassermänner und Nixen sicher jede Nacht über sie hinweg schlichen, um an Land Venedig zu erforschen. Aber kein Wassermann und keine Meerjungfrau lag schlafend in dem Boot, sondern ein Mädchen. Ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, einem ausgemergeltem blassen Gesicht und einem zerschlissenen, grauen Kleid. „Hey!", hatte Scipio geflüstert und das Mädchen angestupst. Sie hatte nur ein leises Wimmern von sich gegeben und die Augen einen winzigen Spalt breit geöffnet.
„Scusa Seniore.", hatte sie geflüstert. „Ich kann nicht aufstehen. Nie mehr.", danach hatte sie die Augen wieder geschlossen und auch auf abermaliges Ansprechen und Stoßen von Scipio nicht wieder geöffnet. Also hatte der junge Dieb sie auf seine Arme gewuchtet und war zurück in das verlassene Stella Kino geschlichen. Beinahe verlassen, denn seine Kinderbande hauste hier. Versteckte sich vor der Welt und versuchte durch kleine Raubzüge und die Beute von ihm, Scipio durch den Tag zu kommen. Nun waren sie allen Anschein nach einer mehr.
Prosper und Mosca traten neben Wespe, auch der kleine Bo streckte seinen zerzausten Kopf durch die vielen Arme und Beine. „Oh!", hauchte er. „Du hast uns eine Nixe gebracht, Scip!"
Wespe legte lachend einen Arm um den Jungen. „Das ist ein ganz normales Straßenkind, wie du und ich, Bo!", sagte sie und fing sich einen strafenden Blick von Scipio ein, der scheinbar ganz und gar nicht davon überzeugt war, das dieses Mädchen ein ganz normales Straßenkind war. „Sie ist vielleicht verletzt, Wespe soll sich um sie kümmern.", befahl er und legte das Mädchen kurzerhand auf Wespes Matratzenlager. „Ach so ist das!", fauchte Wespe zurück.
„Zu Befehl, Räuberhauptmann, Scipio."
Anstelle einer Antwort schob derselbige die schwarze Maske in die Stirn und sah Wespe grimmig an. Versöhnlich hob sie die Hände. „Nicht das wir uns falsch verstehen, Scip. Ich bin dir dankbar für alles, genau wie die anderen, aber bitte befinde dich nicht in dem grundfalschen Glauben mir Befehle erteilen zu können!", mit diesen Worten und einer raschen Handbewegung brach sie seinen protestierenden nächsten Satz ab, ehe er begonnen hatte und wandte sich dem Mädchen zu.
Neugierig stellten die Jungen sich um sie herum.
„Was hat sie?", rief Bo aufgeregt.
„Keine Ahnung.", gibt Wespe zurück. „Hauptsächlich wird sie müde und hungrig sein.", fügt sie sachlich hinzu und breitet ihre Decke über dem Mädchen aus.
„Morgen sehen wir weiter.", sagt sie, hauptsächlich an Bo gewand, aber auch Prosper, Riccio und Mosca weichen einsichtig vom Lager zurück. „Richtig.", sagt Scipio und wirft zwei Geldstücke auf den Boden, vor Wespes Matte. „Kauft ihr davon was zu essen."
„Hey!", Wespe springt auf. „Ich dachte du hättest nichts mehr!"
„Kleine Notreserve.", verteidigt der Herr der Diebe sich hastig.
„Ich muss los.", mit diesen Worten verschwindet der schwarz gekleidete Junge zum zweiten Mal an diesem Abend aus dem alten Stella Kino und lässt an diesem Abend sechs, statt fünf verwaiste Kinder zurück.
