„Schnell!" Sanna packte ihre Schwester am Arm und zog sie hinter sich her. Sie drückte sich in den Stamm der Mangrove und spähte vorsichtig um die Ecke, während sie ihrer Schwester eine Hand vor den Mund hielt. Eine Minute. Zwei Minuten. „Puh… doch keiner, der uns sucht." Der angespannte Gesichtsausdruck wich wieder einem kleinen Lächeln und einem abenteuerlustigen Glänzen in den Augen, das sie in den letzten Tagen immer öfter zeigte. „Irgendwie spannend, oder?"
Nana nahm die Hand ihrer Schwester aus ihrem Gesicht. „Schon aber irgendwann müssen wir hier weg… Wir sind schon seit Tagen auf der Flucht, irgendwann finden sie uns. Hast du eine Idee?" Sie sprach leise, damit niemand sonst sie hören konnte. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis sie auffielen. Ihre Eltern hatten sicher schon alles in Gang gesetzt um sie zu finden. Die beiden waren einfach noch zu nah an zu Hause dran. Doch Sanna schüttelte nur den Kopf.
„Wo sollen wir denn ansonsten hin?", fragte sie. Hier auf dem Sabaody Archipel kannte sie sich aus. Aber ansonsten war sie noch nirgends gewesen. „Das hier ist kein Kontinent. Es ist nicht mal eine richtige Insel. Hier kommt man nirgends hin, ohne mit einem Schiff zu fahren und kennst du dich mit Schiffen aus?" Sie schüttelte den Kopf. „Das schaffen wir nicht, Nana. Das schaffen wir auf keinen Fall."
Sie kletterte an der Wurzel der Mangrove hinab. Das hatte sie sich in den letzten Tagen beigebracht, auch wenn es das Einzige war, das sie sich vernünftig beigebracht hatten. Sie hatten nicht gewusst wo sie ein Zimmer zum Schlafen finden konnten und auf der Straße, wie ein gewöhnlicher Bettler, hatten sie auch nicht schlafen wollen. Deswegen hatten sie gelernt an den Wurzeln der Mangroven hinab zu klettern und hatten sich hier, unter Grove 74, häuslich eingerichtet. Es war nicht der Standard den die beiden Schwestern gewöhnt waren. Es war nicht einmal besonders gemütlich, aber es war immerhin besser als nichts. Und mit Entbehrungen mussten sie sowieso klar kommen. Fast bereute Sanna schon die Entscheidung von zuhause wegzulaufen. Wieso hatte sie es überhaupt gemacht? War es nicht nur eine kindische Trotzreaktion gewesen, weil etwas nicht so gelaufen war wie sie es sich vorgestellt hatte? Fast schon hoffte sie, dass ihre Eltern sie finden und wieder mit nach Hause nehmen würden. Sie kam sich hier so… deplatziert vor. Nana folgte ihrer Schwester. Sie hatte, im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester, schon die ganze Zeit Angst davor gehabt, hier zu bleiben. In den Wurzeln einer Mangrove würde man sie zwar nicht suchen aber wenn sie unterwegs waren um das Notwendigste zu organisieren, war es möglich, dass irgendwer sie erkannte. Schließlich waren sie vorher schon oft hier gewesen und die Leute kannten sie. Wenn nun auch ihre Eltern nach ihnen suchen würden – wahrscheinlich eher nach Sanna als nach ihr – war es nur eine Frage der Zeit, dass sie geschnappt wurden. Und darauf hatte sie nun wirklich keine Lust. „Jetzt stell dich nicht so an. Irgendwie schaffen wir das schon oder willst du von denen erwischt werden?" Sie setzte sich auf einen Wurzelstrang und spielte an ihren kinnlangen glatten Haaren herum. Die waren schon ziemlich splissig…
„Weiß auch nicht." Sanna zuckte die Schultern. „Hast du was zu essen?" Sie warf ihrer Schwester einen hoffnungsvollen Blick zu. „Ich hab Hunger…"
Nana kramte in ihrer Tasche herum. Da war nichts mehr. „Ich glaube wir müssen uns etwas organisieren, die Tasche ist leer", stellte sie mit knurrendem Magen fest.
„Oh verdammt – Aua!" Sanna hatte mit der Faust gegen die Wurzel der Mangrove geschlagen. Mit schmerzverzogenem Gesicht rieb sie sich die Hand. „Wir waren doch gerade eben erst oben… Hätte dir das nicht da schon einfallen können?" Aber dafür war es jetzt ja auch zu spät. Sie seufzte. „Na dann…" Mit einem sehnsüchtigen Blick in Richtung ihres Wurzellagers griff Sanna nach ihrer Tasche. Nana dagegen hatte sich in dem Moment schon auf den Weg nach oben gemacht. „Kommst du?"
„Bin schon da." Sanna lief voraus und krabbelte die Wurzeln von Grove 74 nach oben. Hoffentlich bekamen sie es heute besser hin als das letzte Mal… die Erinnerung an einen wutschnaubenden Obstverkäufer, der sie über das halbe Archipel gejagt hatte, war immer noch frisch. Am liebsten würde sie das alles ja gar nicht machen, aber der Hunger, das hatte sie feststellen müssen, war ein überzeugendes Argument. Wenn sie die Wahl hatte entweder ehrlich oder satt zu sein, dann entschied sie sich für Letzteres.
Jetzt hieß es aufpassen. Nana nahm ihre Schwester bei der Hand und zerrte sie in Richtung einer gut besuchten Einkaufsstraße. Hoffentlich passierte nicht das Gleiche wie das letzte Mal. Wenn sie sich wieder so selten dämlich dran stellte, bekam sie sicher wieder einiges hinterher geworfen. So. Diesmal würde es besser funktionieren. Schließlich lernte man doch aus seinen Fehlern. Sie verringerte ihr Tempo und hielt nach einem passenden Opfer Ausschau. Den hatten sie schon, der war zu wachsam… Sie schaute sich nach allen Seiten um und rätselte, an wem sie sich denn nun versuchen sollte. Irgendwo musste es doch einen Gemüsehändler geben, der nicht die ganze Zeit auf seine Auslage starrte… An einer Ecke erblickte sie einen. Obst, Gemüse… Sie war im Himmel. Und der Händler war auch beschäftigt. Vorsichtig schlich sie sich heran. Das konnte doch so schwer nicht sein. Ihre Schwester an der Hand drückte sich Nana erst mal in den Eingang eines Geschäftes. Man merkte sofort, dass hier eine Anfängerin am Werk war aber wenn man nicht übte, wie sollte man es dann lernen? Langsam. Ganz langsam. Du schaffst das schon. Einfach Schritt für Schritt. Beobachten, hin laufen, zugreifen, abhauen. So schwer ist das nicht. Und jetzt ab! Lass dich nicht erwischen.
„Du bleibst hier." Mit diesen Worten ließ sie ihre Schwester dort stehen und machte sich unauffällig – zumindest bemühte sie sich, unauffällig zu sein – auf den Weg zu dem Stand, den sie ins Auge gefasst hatte.
Sanna hatte kein Problem damit, dass sie hier warten sollte. Sie begnügte sich sowieso lieber damit ihrer Schwester zuzusehen und sie in Gedanken anzufeuern. Jeden Schritt den Nana machte beobachtete sie – so lief es schon seit Tagen. Sie selbst hatte bisher noch nie versucht etwas zu stehlen. Für die gröberen Arbeiten war bisher immer Nana zuständig gewesen.
Doch so einfach war das für die Ältere nicht, denn leider konnte man sich nicht darauf verlassen, dass die Verkäufer abgelenkt blieben. So wie jetzt, denn kaum hatte sie sich dem Obststand genähert, sah der Mann, der wohl Kundschaft witterte, wieder hin. Jetzt musste Nana entweder geduldig oder dreist sein… Sie entschied sich dafür, schnell aber dreist zuzuschlagen und ihm das Obst vor der Nase… Oh, Mist! Er hatte sie wirklich entdeckt. Das hatte sie sich doch irgendwie denken können. Schnell griff sie sich noch zwei Äpfel und rannte los.
„Sanna! Schnell weg hier!" Sie packte die Jüngere wieder an der Hand und zog sie mit sich. Irgendwo hin. Einfach irgendwo hin… Wohin war ihr jetzt egal, Hauptsache weg hier. Was hast du dir dabei gedacht? Dreistheit kommt weiter, ja, aber nicht wenn man dadurch erwischt wird…
„Halt! Stehen bleiben!"
Sanna sah sich noch während sie rannte um. „Oh verflucht, der ist von der Marine!" Sie drehte sich wieder nach vorne. Zwar musste sie nicht aufpassen wohin sie lief, aber ihr war wohler wenn sie es trotzdem sah. „Was will der von uns? Sollte die Marine nicht Kriminelle jagen?"
Nana verdrehte die Augen und seufzte. „Sanna, wir SIND Kriminelle, ist dir das noch nicht aufgefallen?" Jetzt auch noch die Marine… Das wurde ja immer schlimmer. Wenn die wütenden Verkäufer jetzt schon Verstärkung von der Marine bekamen, konnten die Beiden Essen für immer aus ihrem Leben streichen. Sie würden elendiglich verhungern… Wenn sie nicht jetzt schon festgenommen, abgeschossen oder sonst was würden. Vorsichtig linste sie nach hinten. Warum liefen die ihnen eigentlich nur hinterher? Normal hätten sie sie doch schon längst angeschossen… Das bekam man doch immer mit wenn irgendwelche Kriminellen festgenommen wurden. Da rannten sie doch auch nicht so hirnlos hinterher… Sie schaute wieder nach vorne und bog in die nächste enge Gasse ab. Irgendwie musste sie diese Kerle doch abschütteln. Da war die beste Lösung: Haken schlagen bis sie es aufgaben. Sanna keuchte.
„Nana, ich kann nicht mehr", brachte sie heraus. Sie bekam kaum noch Luft, ihre Beine schmerzten und in ihrer Seite bemerkte sie ein Stechen, dass es ihr immer schwerer machte weiter zu laufen. Hätte ihre Schwester nicht ihre Hand festgehalten und sie immer weiter gezogen, sie wäre schon stehen geblieben, egal ob da jetzt Marinesoldaten hinter ihr her waren. Denn der Eine, der die Verfolgung begonnen hatte, hatte sich offenbar von irgendwoher Verstärkung organisiert, denn mittlerweile waren es vier, die den beiden folgten.
„Kein Zweifel, das sind sie!", rief einer, als Sanna wieder zurück blickte.
„Oh nein, ich glaube sie haben uns erkannt!"
Das durfte doch nun wirklich nicht wahr sein! Gerade das hatten die beiden unter allen Umständen vermeiden wollen – dass sie irgendjemand erkannte. Oh nein, oh nein, oh nein! Nana wurde schneller. Ihr wurde schwindelig aber sie ließ sich davon nicht von ihrer Flucht abhalten. „Keine Angst. Die kriegen uns nicht." Wäre schön, wenn sie sich das Ganze wenigstens selbst glauben würde. Das tat sie nicht. Ihre Beine schmerzten, ihre Lunge war kurz davor, ihren Dienst zu beenden. Die junge Frau wusste nicht, wie lange sie noch durchhalten würde. Sie bog nach links ab, dann sofort wieder nach rechts. So schnell würde sie nicht aufgeben. So weit kam es noch, dass die sie einfach einfangen konnten! Das Schwindelgefühl wurde immer stärker und sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Aber wenn es um ihr Leben ging und um das ihrer Schwester, war sie auch mal imstande, ihre sehr geringe Ausdauer zu vergessen und äußerstes zu leisten. So schnell und so lange war sie noch nie gerannt.
„Da vorne! Da suchen sie uns bestimmt nicht!" Sanna deutete nach vorne, auf ein Schild, das schon leicht vermodert aussah. Sie hatte es schon oft gesehen, aber sie hatte noch nie auch nur mit dem Gedanken gespielt den Bereich zu betreten den dieses Schild abgrenzte. Doch jetzt… ihnen blieb kaum eine andere Wahl. Sanna biss die Zähne zusammen und drückte aufs Gas. Sie war wohl ihr ganzes Leben lang noch nie so schnell gerannt. Sie überholte ihre Schwester, die sie die ganze Zeit mitgezogen hatte und hielt auf Grove 8 zu. „Schneller!"
„Prost, Männer!" Shanks hob die, gerade eben erstandene, Sakeflasche in Richtung seiner Mannschaft. Schon vor ein paar Tagen hatten sie auf dem Sabaody Archipel angelegt um sich eine kleine Pause zu gönnen. Sie waren schon oft hier gewesen, nicht zuletzt weil man hier einen Zwischenstopp machen musste wenn man in die Neue Welt fahren wollte. Die Neue Welt war zwar noch nicht ihr primäres Ziel, aber für einen kleinen Landurlaub hatten die Piraten immer etwas übrig. Und der wurde noch einmal richtig begossen, denn morgen wollten sie bereits wieder auslaufen.
„Hey, Chef… da ist die Marine!", rief plötzlich jemand.
Shanks, der es wohl nur seiner jahrelangen Trinkerfahrung zu verdanken hatte dass er noch geradeaus schauen konnte, hob den Blick und tatsächlich – da waren zwei Mädchen und hinter ihnen die Marine.
„Bitte, hilf uns!" Eines der Mädchen, offenbar das Jüngere, hatte ihn bei diesen Worten genau angesehen, da gab es keinen Zweifel – und außerdem wäre spätestens in dem Moment, in dem die beiden die Piraten erreichten und sich hinter dem rothaarigen Kapitän versteckten, sowieso jeder Zweifel beseitigt gewesen.
„Was macht die Marine in diesem Teil des Archipels?", fragte er und stand auf, die beiden Mädchen hinter sich nicht beachtend. „Das hier ist nicht euer Gebiet. Verschwindet."
Die Männer blieben stehen und hoben ihre Pistolen.
„So ein heruntergekommener, versoffener Pirat hat uns nichts zu sagen!", brüllte einer und legte den Finger an den Abzug. „Rück die beiden hinter dir raus und dann passiert dir nichts."
Doch der Piratenkaiser ließ sich nicht beirren. Ganz offensichtlich gelangweilt verschränkte er die Arme.
„Solche Dinger sind nicht zum Spielen gedacht", sagte er.
„Was meinst du?"
„Ich meine, dass man sich damit ganz schnell wehtun kann…" Ein Knall. Fast gleichzeitig hatten sich vier Schüsse gelöst. „Danke, Yasopp." Auch den beiden anderen Schützen nickte er zu, als Yasopp zwei Pistolen links und rechts in seinen Gürtel zurückgleiten ließ und er sich zu den beiden Mädchen umwandte. Einen Moment lang betrachtete er sie, dann setzte er sich wieder hin und trank einen weiteren tiefen Schluck.
