An
diesem Tag war es außergewöhnlich heiß. Die Sonne
stand hoch am Himmel und verbrannte die Touristen, die zu dieser
Jahreszeit besonders oft hier in der Gegend Urlaub machten.
Meine
Mutter war im kühlen, etwas abgedunkelten Wohnzimmer und
zeichnete. Sie zeichnete immer, wenn sie beunruhigt war. Sonst fragte
ich sie, was los sei. Aber heute war es viel zu warm, um etwas aus
ihr herauszukitzeln und ich lag in meinem neuen Bikini draußen
in unserem Garten. Ab und zu schlürfte ich an meinem Milchshake
oder rieb mich mit Sonnencreme ein. Ich versuchte ein wenig zu
schlafen, aber immer wieder schreckte ich durch das Zwitschern der
Vögel oder durch das fröhliche Gekreische der Nachbarkinder
auf.
Schließlich erhob ich mich genervt von meiner Liege
und streckte mich. Zum Glück war ich im Laufe des Sommers auch
braun geworden ohne in Spanien oder sonst wo gewesen zu sein. Gähnend
schlenderte ich ins Haus und musste erst mal eine Minute blinzeln, um
etwas erkennen zu können.
"Ich weiß echt nicht,
wie du in so einer Dunkelheit zeichnen kannst", sagte ich
spöttisch zu meiner Mutter und gähnte wieder. Vielleicht
sollte ich mich einfach in mein Bett legen und noch ein wenig
schlafen... Meine Mutter sagte nichts und starrte nur
gedankenverloren auf ihr Bild. Musternd betrachtete ich sie. Das
Einzige, was ich von ihr hatte, war die Größe. Im
Gegensatz zu ihr hatte ich schwarze, verwuschelte Haare, die ich fast
so kurz trug wie ein Junge, und grüne, freche Augen. Auch vom
Wesen waren wir beide sehr verschieden. Sie war sehr sanftmütig
und still und ich sehr temperamentvoll und stürmisch. Ich
lächelte ihr zu und ging an ihr vorbei in die Küche. Dabei
warf ich einen Blick auf ihre Skizze. Erstaunt blieb ich stehe.
"Was
ist das?", fragte ich sie verwirrt und deutete auf ihr Bild. Sie
sah mich traurig mit ihren ernsten, blauen Augen an und sagte dann
zögerlich:
"Oh, dass habe ich mir nur ausgedacht.
Willst du uns beim Bäcker nicht ein paar Stücke Kuchen
holen? Wir kriegen heute Besuch." Wieder sah ich sie verwundert
an. "Besuch? Den hatten wir ja schon seid Jahren nicht mehr! Ich
glaube, das letzte Mal war Oma da. Zu meinem 8. Geburtstag"
Meine Mutter nickte. "Dann wird es wohl langsam mal Zeit,
oder?", fragte meine Mutter mich leicht gequält lächelnd.
"Schließlich wirst du bald 11. Hier hast du etwas Geld.
Hol auch noch ein bisschen Saft beim Supermarkt. Schau mal, ob sie
nicht Kürbissaft da haben." "KÜRBISSAFT!"
Meine Mutter lächelte schmal, als sie meine ratlose Miene sah.
"Ja, Kürbissaft. Jetzt geh schon!" Ich nahm drei
Stufen aufeinmal, als ich die Treppe hochstieg und stürmte in
mein Zimmer. Dort angekommen riss ich meinen Schrank auf und wühlte
in ihm herum. Ich suchte meine buntgemusterten Shorts und mein
knallrotes Top.
"Wo hab ich die denn...", fluchte ich
vor mich hin und fragte laut schreiend meine Mutter. "Guck doch
mal in den Wäschehaufen auf deinem Schreibtisch nach!",
rief meine Mutter mir vom Treppenansatz hoch und verschwand wieder im
Wohnzimmer. Mit der hohlen Hand schlug ich mir gegen den Kopf und
ging zu meinem Schreibtisch. Hier türmte sich ein riesiger
Wäschehaufen frischer Sachen. Meine Mutter legte sie mir
prinzipiell immer dort hin. Ich sollte sie selber in meinen Schrank
einräumen... Sofort fand ich die gesuchten Sachen und schlüpfte
in sie hinein. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel,
lächelte ich mich selber an. Zwar fand meine Mutter, dass ich
mich für mein Alter sehr unpassend anzog, aber ich sagte darauf
immer: "Mama, du hast mir deine tolle schlanke Figur vererbt.
Wieso soll ich die nicht zeigen?" Das klang vielleicht eitel,
aber ich sah nicht ein, wieso es nur Älteren vorbehalten sein
sollte, sich bei so einer Hitze luftig anzuziehen. Ich flitzte
schnell wieder die Treppe hinunter und schlug nach einem "Tschüss,
Mama!" die Haustür hinter mir zu. Zum Bäcker waren es
ungefähr 10 und zum Supermarkt in die andere Richtung 5 Minuten
und deswegen schnappte ich mir mein Fahrrad, das ich immer vor dem
Haus stehen hatte. Ich radelte los und dachte darüber nach, wer
uns wohl besuchen würde. Freunde hatte meine Mutter nicht, meine
Oma war vor ca. einem Jahr gestorben und andere Verwandte hatten wir
auch nicht. Plötzlich kam mir ein seltsamer Gedanke. Was, wenn
mein Vater uns besuchen käme...? "Idiotin!", schimpfte
ich in Gedanken mit mir selbst. "Mama hat gesagt, dass dein
Vater tot ist!" Eine kleine Stimme aber fragte in meinem
Hinterkopf: "Und was, wenn deine Mutter dich belogen hat? Bei
deinem Vater tut sie doch immer so geheimnisvoll..." Ich war so
in Gedanken versunken, dass ich vergaß auf den Weg zu achten
und wäre fast gegen einen Baum gedonnert. Ich bemerkte den Baum
jedoch in letzter Sekunde und versuchte auszuweichen. Bei meiner
waghalsigen Kamikazeaktion übersah ich allerdings den Bordstein
und machte eine mehr oder wenige elegante Bauchlandung. Mein Fahrrad
landete ungefähr 2 Meter neben mir und ein Rad drehte sich immer
noch leise quietschend. Mühsam richtete ich mich auf und
untersuchte mich nach möglichen Schäden. Mein rechtes Knie
war aufgeschlagen und blutete ein bisschen, aber sonst schien ich
noch ganz zu sein. Trotzdem wurde mir ein wenig schwindlig, als ich
aufstand und ich kippte glatt wieder nach hinten. Stöhnend hielt
ich mir den Kopf und dachte,ich müsste sterben. Da hörte
ich plötzlich zwei Räder scharf neben mir bremsen und ich
öffnete die Augen. Zwei wunderschöne blaue Augen blickten
mich besorgt an. "Alles in Ordnung?", fragten mich die
blauen Augen. Ich nickte und versuchte mich wieder aufzurichten. Die
Person mit den dazugehörigen blauen Augen aber drückte mich
wieder zurück. "Bleib erst mal liegen! Meine Schwester holt
gerade Hilfe." Langsam begann mir zu dämmern, was gerade
passiert war und ich murmelte ein schwaches "Quatsch!" und
stieß die Person mit den blauen Augen von mir. "Mir geht's
gut, klar!", fauchte ich und stand nun endgültig auf.
Leicht schwankend klopfte ich mir den Dreck von meinen Sachen und
drehte mich zu der Person mit den blauen Augen um. Bei dem Anblick
wäre ich fast wieder in Ohnmacht gefallen. Die Person mit den
blauen Augen stellte sich als ein hochgewachsener Junge heraus. Und
zwar als den bestaussehendsten Jungen, den ich je gesehen hatte!
Nein, den die WELT je gesehen hatte...! Der Junge hatte (wie schon
bekannt) strahlende, große blaue Augen, mit diesem frechen
Glitzern, umwerfend lange, schwarze Wimpern, schwarze, leicht
gelockte Haare (ohne Gel...!) und ein hinreißend süßes
Lächeln mit hyperweißen Zähnen. Er trug ein schwarzes
T-Shirt mit einem Totenkopf, normale Jeans, die einen Knackarsch
beinhalten mussten, und mehrere Nietenarmbänder wie eine coole
Halskette. Seine muskulösen Arme wiesen darauf hin, dass er auch
sonst sehr gut gebaut sein musste. Ehe ich es mich versah, hatte ich
mich in diesen Super-Typen verguckt. Und das Beste: als er bemerkte,
wie ich ihn anstarrte, wurde er puterrot und lächelte mich
schüchtern an. Nach einer kurzen Schweigeminute kam ein Mädchen
angerannt und blieb keuchend vor uns stehen. "Oh, Mann! Hier
gibt's echt keine hilfsbereiten Leute! Aber dir scheint's ja ganz gut
zu gehen", meinte sie plötzlich und musterte mich. Wow! Man
sah sofort, dass sie mit diesem coolen Typen verwandt war. Sie sahen
sich zum Verwechseln ähnlich. Allerdings hatte das Mädchen
einen Rock und ein Top an, hatte längere Haare und trug eine
Brille. Die Brille aber tat ihrer Schönheit keinen Abbruch.
Normalerweise achtete ich ja nicht so aufs Äußere, aber
bei diesen Supermodels KONNTE man gar nichts anderes tun als sie
anzustarren! "Ist echt alles okay mit dir?", fragte das
Mädchen mich argwöhnisch. "Du guckst so seltsam."
Jetzt wurde ich rot. "Nein, mir geht's gut. Danke. Ich bin nur
etwas geschockt..." "Na, dann ist ja gut! Wie heißt
du?", fragte das Mädchen mich. "Karen. Und ihr?"
"Ich bin Susan und mein Bruder heißt Mark. Sollen wir
dich vielleicht nach hause begleiten?" Ich schüttelte
energisch den Kopf. "Nein, danke! Es geht mir wirklich gut. Aber
ich würde mich gerne bei euch bedanken. Wie wär's wenn ich
euch eine Cola im Café dahinten spendiere?" Ich
verdrängte einfach die Tatsache, dass meine Mutter mich
erwartete. Ich MUSSTE dafür sorgen, dass ich diesen hinreißenden
Typen, ich meine Mark, bald wiedersehen würde.
Eine
Stunde später schlich ich mich ins Haus. Im Café war es
sehr lustig gewesen und ich hatte mit Susan unsere Handynummern
ausgetauscht. Mark hatte die ganze Zeit nur eher still neben uns
gesessen... Susan aber war wirklich nett. Ich hatte zwar vergessen,
sie zu fragen, wo sie wohnten und auf welche Schule sie gingen, aber
das konnte ich ja immer noch per SMS herausfinden. Jetzt hoffte ich
nur, dass meine Mutter nicht zu sauer war... Plötzlich hörte
ich lautes Schluchzen und eine mir unbekannte Stimme sagte: "Du
wusstest, dass es irgendwann passieren wird." Meine Mutter
lachte hysterisch auf und schrie dann: "Ja, ich wusste es! Aber
gewollt habe ich es nie! Ich gebe sie nicht her! Verschwindet
endlich! Ich habe euch nicht gebeten zu kommen!" Wieder hörte
ich meine Mutter schluchzen. "Mary, es geht nicht anders... Sie
ist seine Tochter und er wäre bestimmt entsetzt, wenn er hören
würde, dass...", versuchte eine andere, weibliche Stimme zu
sagen. "MAßE DIR NICHT AN, ZU SAGEN, WAS ER GEWOLLT HÄTTE,
DU SCHLAMMBLUT!", kreischte meine Mutter und ich zuckte
entsetzt zusammen. Ich hörte einen Stuhl umkippen und die erste
Stimme rief erbost: "Nimm es zurück! Nimm es zurück,
Mary! Sonst werde ich dich Schnecken spucken lassen!" "Ron,
setz dich", versuchte die zweite Stimme den anderen zu
beruhigen. Schon wieder begann meine Mutter zu schluchzen. "Kannst
du es denn nicht verstehen, Mary...?", fragte die zweite Stimme
zögerlich. "D...doch", stammelte meine Mutter.
"A...aber sie ist doch das einzige, wa...was ich noch habe..."
"Sie ist doch nicht aus der Welt! Du wirst sie in den Ferien
sehen und ihr könnt euch Eulen schicken." "Und, und
was ist wenn ihr auch etwas zustößt...?" "Hogwarts
ist der sicherste Ort auf Erden." Meine Mutter stieß ein
verächtliches "Pah!" aus.
Ich setzte mich auf die
Treppe und sah fassungslos auf den Boden. Was hatte das alles zu
bedeuten! Schlammblut, Hogwarts, eine Eule schicken- was waren das
für Begriffe? Und wer waren diese Leute, die meine Mutter so aus
der Fassung brachten? Und wem verdammt noch mal war schon mal etwas
zugestoßen!
