Das Frühlingserwachen. Die Zeit, in der alles zu leben beginnt.
Kaltherziger Schnee schmilzt ängstlich unter dem Einfluss praller Sonnenstrahlen, welche sich über das ganze Land auszudehnen gesuchen. Eisiger Matsch hinterbleibt, wird von frisch ausgeschlafenen Wesen bis zur Auflösung getreten. Schaulustige Neugeborene erschnüffeln zum ersten Mal den Geruch des Frühjahrs: Den Duft aufkeimender Knospen, welche sich gen Himmel recken, den der in unterschiedlichsten Farbkombinationen glänzenden Blüten. Wesen tollen umher, genießen ihre Euphorie, ihre Neugierde, ihre Liebe.
Freudiges Treiben in den Städten überkommt ihre Bewohner. Fenster und Türen werden aufgestoßen, damit die erste Wärme in alle Wohnbauten getragen werden kann. Der angenehme Luftzug, schon längst vergessen worden, umspielt jede einzelne Oberfläche mit kindischem Eifer. Vögelchen lassen sich Lieder zwitschernd auf den Simsen nieder. Fröhliche Melodien wandern durch die Straßen, in welchen bunter Trubel herrscht. Frohlockende Töne spiegeln den zufriedenen Geisteszustand der Menschen wider. Es wird gesungen, getanzt, gehandelt, gekehrt, getratscht, gespielt, geflirtet. Alte sowie neue Paare entdecken ihre Zuneigung füreinander. Jünglinge schenken hübschen Maiden übertriebene Aufmerksamkeit. Der Frühling nistet sich auch in den düstersten Herzen ein. Niemand entkommt den Sonnenstrahlen, die sich wie Haken an ihre Beute hefteten.
Allerdings gilt dies nicht für jedermann.
Arinna1, eine blondhaarige Dame Mitte zwanzig, schlenderte mit aufmerksamen Blicken über die heimatliche Hauptstraße. Der Saum ihres bläulich schimmernden Kleides flatterte im sanften Wind. Ein hüftlanger Umhang, verbunden durch liebevoll verzierte Perlen, fiel über ihre blanken Schulterblätter. Die langen, lockigen Haare wurden von einem dunklem Band zusammengehalten.
Die linke Hand der jungen Frau trug einen Flechtkorb mit verschiedenen Kräutern, Heilmitteln sowie etlichen anderen Waren, welche am heutigen Tage den Weg in ihren Besitz gefunden hatten. Sie arbeitete in einem kleinen Laden auf der gegenüberliegenden Seite des zentralen Platzes. Er gehörte ihrem Vater, doch half sie ihm sowohl in kaufmännischen Tätigkeiten als auch in Form eines Kuriers aus. An jenem Tage hatte man ihr aufgetragen, sie solle doch für seine neueste Kreation werben. Es handelte sich dabei um eine Medizin, der es möglich war, gar lebensgefährliche Verletzungen zu kurieren. Ihre Inhaltsstoffe wurden durch Magie verstärkt, welche eine schnelle Genesung garantierten.
Arinnas Vater hatte die Mixtur auf den Namen „Himmelswind"2 getauft.
Doch erst nach vielen Experimenten, Neukombinationen der Zutaten, Variationen, vor allem an aber Geduld gelang ihm sein Wunderwerk. Als erstes Versuchsobjekt diente eine fußkranke Gans, welche wieder zu laufen lernte. Ein anderes Geschöpf, die naseweise Nachbarskatze, auf beiden Augen blind, erschrak - traumatisiert vom Angesicht der hässlichen Fratze ihres Besitzers. Dessen Sohn wiederum litt an einer tödlichen Tuberkuloseinfektion. Alle Ärzte des Dorfes hatten geschworen, der Junge würde kein langes oder erfülltes Leben führen. Es sei ein Ding der Unmöglichkeit. Doch urplötzlich stoppten die blutigen Hustenanfälle, das Kind sprühte vor Energie und entwickelte sich zu einem richtigen Flegel.
Alles in allem war die Wirkung von Himmelswind bedingungslos überzeugend.
Nichtsdestotrotz verspottete man seinen Schöpfer.
Er sei ein Quacksalber. Wahrscheinlich war das Produkt der Gemeinde nur unbekannt, von ihm neu betitelt, als sein eigenes Erzeugnis ausgegeben worden mit dem Bestreben, künftig großes Geld anzuhäufen.
Er sei ein Irrer. Warum gegen einen Status Quo aufbegehren, wenn er doch von den Göttern gewollt war? Wahrlich ein stupider Kampf gegen den naturgegebenen Zustand, so schrecklich er auch auf Lebewesen wirken mag.
Er sei ein Verräter. Den Dorfbewohnern war es streng verboten, Magie auszuüben. Im Anbetracht der Vergangenheit ihrer Vorväter durchaus gerechtfertigt. Der Magi-Krieg. Zauberwesen, sogenannte Esper, kämpften gegen die Menschen. Den Erdenbewohnern waren Kräfte zuteil geworden, welche weit über normalsterbliche hinaus gingen. Sie besaßen die Gabe der schwarzen Kunst. Dieses Talent legte die Welt in Schutt und Asche. Erst das Kriegstriumphirat, drei Götter der Balance3, setzte einen Schlussstrich: Sie transzendierten die Esper in eine Parallelwelt, abgeschottet von ihren menschlichen Feinden, auf dass die Schlacht für immer ende und nie wieder neu begonnen würde. Hiernach verschwanden die Nutzer magischer Energie von der Erde – bis auf die Bewohner Thamasas.
Eine kleine Gruppe Nachkommen von Magis ließ sich auf einer von allen anderen Zivilisationen abgeschotteten, unscheinbaren Insel nieder. Zwar verfügten sie nicht über dieselben Kräfte wie ihre Vorväter, doch wohnte ihnen seit Generationen zumindest die Zauberei potenziell inne. Strenge Gesetze verboten aber, diese Mächte zu beschwören.
Arinna seufzte. Wie oft hatten die Dorfbewohner über ihren alten Herren geschimpft. Wie oft hatten sie sich beschwert, er würde viel zu nachsichtig bestraft. Und wie oft brach er abermals ihre städtischen Verbote?
Der Kaufmann war schon sehr alt. Sechzig Jahre. Sein langer weißer Bart zeugte von harter Arbeit, Unmengen erlebter Scherereien, großem Wissen. Vielleicht drückte man seiner Weisheit wegen immer zwei Augen zu. Traute man sich gar, ihm brüsk entgegenzutreten?
Nein. Gewiss nicht. Zumindest auf direktem Wege. Allgemeiner Unmut trat anders zu Tage:
Einen Krämer konnten harte Zeiten erwarten, wenn die Güter in seinen Stauräumen wie Leichen zu verrotten begannen. Ohne rentable Zahlungseinnahmen mussten alle Laden dicht gemacht werden. Fehlende Kundschaft bereute man schnell, denn Geld ist auch in kleinen Ortschaften ein unverzichtbares Mittel zum Überleben.
Die Blondhaarige warf einen verstohlenen Blick auf ihren Korb. Zwar hatte sie alle Einkaufserledigungen für ihren Vater abgearbeitet, doch stülpten sich diese zu besitzergreifend auf die mit „Himmelswind" beschrifteten Döschen. Kein einziges davon war erfolgreich in eine neue Behausung eingezogen. Im Gegenteil, eher wiesen es angeekelte Hauseigentümer ab, sodass keine Chance bestand, sie umzustimmen. Schon öfter übertönten knallende Türen Arinnas verzweifelte Verhandlungsangebote. Keiner wollte mit der teuflischen Essenz besudelt werden. Jeder floh vor dem Fall, auf irgendeine Weise mit den Hirngespinsten des Alten in Verbindung zu geraten. Wahrlich, Respekt verliert im Angesicht minimalster Abneigung unglaublich schnell an Bedeutung.
Langsam wurde es später Abend. Der dunkle Himmelsvorhang zog über das Firmament. Nur an manchen Stellen leuchteten Sterne wie der letzte Funken Hoffnung, die Nacht würde nicht ewig sein. Straßen waren leer gefegt, Häuser verbarrikadiert, kein Wesen auf kaltem Gestein. Alles stand still, als hätte jemand die Erde mit Eis bedeckt. Erst im Morgengrauen würden feurige Farben die Starre niederschmelzen. Solange fühlte man nur eins: Einsamkeit, die Welt befallend.
Doch nicht so an diesen Tagen.
Gründonnerstag. Karfreitag. Karsamstag. Ostersonntag.
Die gesamte Stadt bereitete ein großes Fest vor, eines, an das man sich lange erinnern sollte. Überall verzierten Kinder Eier mit mal mehr, mal weniger geübten Pinselstrichen. Kreise, Linien, Ovale, Hasen, Küken, Herzchen, Wünsche bemäntelten die harten Schalen. Von den Dächern fielen prächtige Girlanden und Lampions schillerten in grellen Tönen. Die natürliche Pracht von Lilien, Rosen, Germini, Osterglocken, Hyazinthen bis hin zu Krokussen räkelte sich an Türrahmen empor. Nasen zogen den Duft von feinem Gebäck ein, dessen Verzehr jedoch erst zum Höhepunkt der Festlichkeiten erlaubt sein würde, sowie den von überzuckerter Schokolade, einer süßen Gaumenfreude, unverzichtbar zu dieser Zeit. Auf Hochglanz polierte Bauten präsentierten sich der Öffentlichkeit, in ständiger Konkurrenz um das perfekteste Äußere. Bühnen wurden zusammengebaut, Theaterstücke geprobt. Ein meterlanger Tisch, an welchem das komplette Dorf seinen Platz fand, erstreckte sich über die Meile.
Genanntes Prozedere wiederholte sich alle zwölf Monate. Immer dieselbe Leier, immer wieder. Nie änderte sich etwas, nie würde sich etwas ändern.
Schatten zogen über Arinnas zarte Gesichtszüge, verliehen ihrer blassen Haut einen unheimlichen Teint. Das Osterfest ließ innerhalb von sechsundneunzig Stunden den Krieg der Magi revue passieren. Als sie noch zur Schule ging, hatte ihre Musiklehrerin sie gezwungen, sich ein Lied mit der Bedeutung des Festes lückenlos einzuprägen. Widerwillig befolgte das Mädchen diesen Befehl, nachdem selbst ihr Vater vom Wert des Stückes zu schwärmen begonnen hatte. Bis heute waren die einzelnen Zeilen in ihre Gehirnströme eingebrannt. Bekäme sie irgendwann einmal Alzheimer, so verblassten wahrscheinlich alle Erinnerungen an ihr bisheriges Leben. Nur diese Strophen, diese erbarmungslose Lyrik, bisse sich stur fest wie eine Klette:
„Wie drei Freunde, für immer vereint, sitzend im Dreieck.
Erschaffen vom Paradies, Gleichgewicht es hält.
Liebe zieht an, Hass schürt Kollision, Macht schafft das Leck
Zusammen bricht die heile Welt.
Ein letztes Mal sieht grün die Erde.
Rote Lachen fließen wie fahrende Züge,
dein Blut an meiner Hand,
grausames Schicksal, das mich an dich band,
mein Leben für deines, wie wahr doch die enthüllte Lüge.
Einer nach dem anderen, erhängt ohne Beschwerde.
Brüder meucheln einander, Familie ist bedeutungslos,
Einstiger Mensch, dein Anblick erzürnt mich,
verschwinde, gehe! Die Angst ist zu groß.
Wann endet es? Leg die Karten auf den Tisch.
Der Götter Tränen überschwemmen den Planet.
Es ist vollbracht. Der Krieg entschieden, das Trio,
im Einklang, betrachtet sich.
Fernab aller Greifbarkeit, des Schreckensszenario.
Von der einst'gen Heimat wich.
Wie herrlich das Dasein ohne ihren Zwist."
Die Bilder von Schlachten, vom Kampfe lebender Toten, wurden von dem Text heraufbeschworen. Schloss Arinna ihre Augen, prallten zwei Klingen aufeinander, Feuergeschosse legten Städte in Schutt und Asche, ganze Kontinente ertranken im Meer des Zorns. Die meisten Menschen vergaßen um dieses Armageddon, vollzogen dieselben Fehler wie ihre Vorfahren.
Doch an Ostern – natürlich! – gedachte man der Vergangenheit, der Götter, der Gefallenen.
Die junge Frau widerte solch ein Verhalten an. Nicht, weil sie es für unangemessen erachtete, den Verlauf vom Krieg nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Nicht, weil man pessimistische Rückblicke meiden sollte. Nicht, weil gerade die Magi vertrieben und von allen gehasst wurden.
Der eigentliche Knackpunkt lag im Bewusstsein der Zeitgenossen. Glaubten sie etwa, jedem Unglück könne man entkommen, wenn genügend Opfer als Tribute eingefordert würden? War es möglich, eine Feier auszuführen, wenn kein Anlass für Fröhlichkeit bestand?
Die Blondhaarige verachtete ihre Mitmenschen nicht. Wie bei jedem anderen gab es in ihren Augen sympathische oder antipathische Persönlichkeiten. Obwohl nicht alle einander gleichermaßen mochten, tolerierte man sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad.
Doch das kollektive Wir-Gefühl an Ostern, der unausgesprochene Befehl, sich mit nichts außer eben den Festivitäten zu beschäftigen, wirkte einfach nur verabscheuungswürdig. Wie stellten die Leute sich denn den Krieg im Bezug auf ein Lebewesen vor? Etwa ähnlich dem folgendem Szenario?
Auf dem Totenbett liegen. Das Licht am Ende des nur in eine Richtung verlaufenden Tunnels erblicken. Schon die Hand nach der Hölle ausstrecken. Die Finger des Dämons auf der Haut spürend. Ein unerwarteter Ruck, an den Sog eines Sturmes erinnernd, ebnet den Weg zurück ins Reich der Lebenden. Welch Utopie.
Nein, das Sterben war nicht durch bloße Schicksalslaunen abwendbar. Auf keinen Fall, wenn man schon den Weltentrennenden Torbogen erreicht hatte.
Nur vier Tage eines Jahreszyklus, mehr Wert trugen die traurigen Gegebenheiten wohl nicht in sich.
Ein lautstarkes Bellen riss die junge Frau aus ihrer wirren Trance. Zum Glück, konnte man meinen, denn solche Hirngespinste streuten häufig nur pessimistisches Saatgut in den Geist. Anschwellend wie Unkraut, sich ins Unendliche vermehrend und nur schwer mittels eines Pestizids ausgeräuchert werdend. Alternativ schlugen auch buddelfreudige Haustiere diese Gedanken in die Flucht.
Ein Rottweiler4 kam um die Ecke gepirscht, als verfolgte ihn ein rachsüchtiger Bienenschwarm, dem man seines Honig entledigt hatte. Das raue, schwarzes Fell glitzerte im Abendlicht des langsam aufgehenden Mondes. Trotz seines schwerfälligen Körperbaus trappelten seine Pfoten eilig über das Pflaster. Aufgeregt wiederholte er während des Spurts die hilfesuchenden Laute. Erst im Näherkommen bemerkte die Blondhaarige frische Blutspuren, welche dem Tier zu folgen schienen. Auch an der Schnauze klebte die rote Substanz.
„Interceptor!", stieß die Krämerstochter erschrocken aus, während sie dem stolzen Rüden entgegenstrauchelte. „Was ist passiert!"
Der aufgeregte Hund legte noch einen Zahn zu und erreichte in atemloser Verfassung seine Bekannte. Barsch zerrte er am blauen Stoff ihres Kleides, kläffte drängend, nachdem sie sich nicht sofort in Bewegung setzte. Die dunkelbraunen Augen glitzerten verzweifelt. Arinna beugte sich nach unten, um den Rottweiler beruhigend über die aufgestellten Härchen zu streichen, doch jener Annäherungsversuch endete nur in einer schroffen Zurückweisung, die beinahe mit einem Biss in ihrer Hand geendet hätte.
Ungeduldig trappelte Interceptor von links nach rechts, dabei die nasse Schnauze empor haltend. Als hätte ihm jemand plötzlich zurückgerufen wandte sich der Rottweiler um und rannte zurück zu dem Ort, von wo aus er vorhin seine hoffnungslose Suche nach Rettern begonnen hatte.
Etwas musste passiert sein, da war Arinna sich ganz sicher. Warum sonst würde ihr tierischer Freund so einen Aufstand veranstalten?
„Warte auf mich!", befahl die junge Frau, obwohl sie wusste, dass der Ausruf nur auf taube Ohren stoßen würde. Ihr blieb nur eines: Die Beine in die Hand nehmen. So schnell es ging herausfinden, was sich ereignet hatte. Alles weitere würde spontan entschieden.
1 Arinna : Name hethitischer Sonnengöttin; Kontrast zu Shadows Pseudonym
2 Himmelswind :Attacke Stragos, welche die Mitstreiter im Kampf heilt
3 Balance : World of Balance
4 Die Hunderasse für Interceptor ist offiziell nicht bestätigt. Da sein Sprite genannter Art recht ähnlich sieht, entschied ich mich für diese.
