Sieben auf einen Streich
Oder: Der Flotte Dreier
Der „Klub des neuen Anfangs" war sehr exklusiv. Er verzeichnete nur wenige Mitglieder, womöglich wegen der strengen Aufnahmeregelungen; man musste schon tot sein, um hier eingelassen zu werden. War diese Hürde aber erst einmal genommen, und irgendwann ging alles den Weg des irdischen, in Ankh-Morpork bisweilen sogar unverhofft frühzeitig, galt es noch ein weiteres Problem zu überwinden: Es gab kein eigenes Klubhaus und die Adresse des Gebäudes, in dessen drittem Stock der Klub mietweise tagte, hatte schon zu peinlichen Zwischenfällen geführt. Wer zur Ulmenstraße Nummer 668 ging und verstohlen an die Tür klopfte, verfolgte meist andere Interessen, als die Initiative „Untot ja – Unperson nein!" zu unterstützen; im Gegenteil trieben einen Besucher viel vitalistischere Bedürfnisse zur Gilde der Schneider.
Jene magere Gestalt, die jetzt eilig ein Kuvert durch den Briefschlitz der Gildentür schob, schien allerdings nicht aus eigenem Antrieb die Schneider aufgesucht zu haben. Vielmehr machte der Junge, er mochte nicht älter als zehn oder zwölf Jahre sein, den Eindruck eines Boten, der an der letzten Straßenecke für einen schnell verdiente Dollar zugestimmt hatte, besagtes Kuvert zu übermitteln und sich dann auch unverzüglich wieder zu entfernen.
Während draußen auf der Straße ein Hund anschlug und nach den Waden eines rennenden Burschen schnappte, war in der Gilde jemand auf den Brief aufmerksam geworden. Eine seltsame Konstruktion von Röhren und Pumpen, kleinsten Zahnrädern und Haken zur Aufhängung des Ganzen führte vom Briefschlitz an den Wänden entlang hinauf in die zweite Etage, über den Flur und hinein in ein Büro, wo ein trichterförmiges Ende das Kuvert direkt in eine Schreibtischablage fallen ließ.
Die Gilde der Schneider erhielt oft Aufträge auf diese Weise. Jeder Bürger Ankh-Morporks wusste von den Dienstleistungen, die hier angeboten wurden. Ein Messingschild draußen am Gebäude verkündete es auf elegant dezente Weise:
Schneidergilde
Zuschnitte aller Art für anspruchsvolle Personen
Und ganz klein stand darunter:
Ob intime Abende, lauschige Spaziergänge, Tanzveranstaltungen, einfache Abendessen; die Schneider haben für jede Dame und jeden Herrn die perfekte Lösung. Preise auf Anfrage.
Wirklich jeder wusste es. Aber natürlich kannte niemand die Gilde oder gar einen Schneider persönlich. Bei den Näherinnen war das etwas anderes, Frau Palm hielt viel auf ihre Mädchen und die Schmerzlichen Schwestern Dutzie und Putzie sorgten dafür, dass auch kein Freier sie je gering geschätzt hätte.
Den Schneidern war darum noch ganz besondere Diskretion in ihrer Arbeit auferlegt. Sie waren für ihre Kletterkünste an Rosenspalieren ebenso bekannt, wie für die etwas weniger ruhmreiche Taktik, sich in Schränken zu verstecken. Einige konnten auch besonders schnell laufen und sehr beliebt war es, sich auf der Flucht Wäschestücke aus fremden Vorgärten zu leihen. Zwei Schneider aber suchten beinahe nie ihr Heil im strategischen Rückzug, sondern gingen mit Degen an der Seite auf die Straße hinaus; fraglos, um sich mit gehörnten Ehemännern im Duell zu messen. Ihre Ehre war über jeden Zweifel erhaben, denn allenfalls sich selbst schienen sie ernsthafte Konkurrenz – und doch unzertrennlich beste Freunde – in all diesen Angelegenheiten zu sein.
Einer von diesen beiden kühnen Helden war eben noch die Ulmenstraße hinunter gegangen, um seinen Dienst anzutreten, und hatte dabei einem schreienden Lausbuben und einem bellenden Köter auf dessen Fersen ausweichen müssen. Kopfschüttelnd sah Felix Stelzkrieger dem ungleichen Gespann nach, ehe er seinen Weg fortsetzte und bald auch schon das Gildengebäude erreichte.
Drinnen hatte unterdessen das Kuvert seinen Weg in die Hände des Gildenoberhauptes gefunden und etwas später auch – entgegen aller Diskretion – der Inhalt des Briefs die Ohren aller im Aufenthaltsraum anwesenden Schneider.
Da waren der musische Gany, ein braungelockter Tagedieb, der sich auch ‚Hüter der KeineSorges' nannte und der stellvertretend den Chefsessel für Rodney Gybales in dessen Abwesenheit wärmte.
Eben jener war das Oberhaupt der Gilde und seine Moral saß etwa genauso locker wie sein Verstand, aber er war ein herzensguter Kerl, dessen leichtlebiges Wesen die Damen zu schätzen wussten. Seinen Untergebenen begegnete er freundlich, aber bestimmt, und wenngleich noch keiner von ihnen ernsthaft mit dem Chef aneinander geraten war, bestand kein Zweifel daran, dass Rodney sich in allen Gildenbelangen durchgesetzt hätte.
Weniger flatterhaft gab sich der Vampir Kallistos, der bevorzugt des Nachts arbeitete und sich nur ungern gewissen Klischees beugte, pflegte er doch viel lieber mit Hingabe seinen Rosengarten, als durch Fenster in fremde Schlafzimmer zu schweben. Er war nicht unbedingt ein stiller Charakter, aber oftmals in Gedanken abwesend.
Meist recht wortkarg und oftmals auch eher übel gelaunt, trug der ‚Zwerg-für-alle-Höhlen' Berin Hobelspan seine Axt mit sich herum. Bisher hatte noch keiner der Kollegen herausfinden können, inwiefern die vollständige, zwergische Kriegsausrüstung bei Berins Aufträgen zum Einsatz kam.
Zuletzt war da noch Charles d'Ascoyne zu nennen, dem man ob seiner zombiehaften Natur ein besonderes Stehvermögen nachsagte. Er selbst wusste derartige Scherze wenig zu schätzen und war schnell mit der Hand am Degengriff, witterte er irgendwo eine Beleidigung. Oftmals wirkte Felix beruhigend auf ihn ein, meistens aber sah man die Freunde gemeinsam im Duell; miteinander oder gegen den Rest der Welt. So unterschiedlich die beiden ihrem Naturell her waren, der eine hitzköpfig und untot, der andere überlegt und vital, so kompliziert war auch ihre Freundschaft.
Die vier Schneider im Aufenthaltsraum merkten jetzt auf, als ihr Chef mit dem Brief in der Hand die Treppe hinunterkam und ein breites Grinsen in seinem Gesicht geschrieben stand. Zielstrebig hielt Rodney auf Charles zu, der vom Sofa steigen musste, auf das er zur Aufführung seines neuesten Triumphs über einen erzürnten und mit Schürhaken bewaffneten Ehemann gestiegen war. Das Stück hatten seine Kollegen bis dato noch sehr amüsiert verfolgt - ob die Geschichte nun ganz wahrheitsgetreu wiedergegeben worden war, oder nicht – jetzt sahen und lauschten sie aber aus einem anderen Grund interessiert.
„Auftrag für dich! Madame lädt ein."
Charles schnappte nach dem Brief, mit dem Rodney ihm vor der Nase wedelte und war sich der Blicke seiner Kollegen nur allzu bewusst. Er zwirbelte sich den fein gestutzten Schnurrbart, während er das Kuvert in der anderen Hand hielt.
„Madame schreibt dir häufig", stellte Gany dann auch fest und schmunzelte seinerseits versteckt darüber, dass Charles auf diesen Kommentar nur gewartet zu haben schien. Der andere Schneider steckte betont langsam seinen Degen, der ein nicht unwichtiges Theaterrequisit gewesen war, fort und meinte gedehnt: „Jaa."
Eine längere, selbstverliebte Erklärung scheiterte allerdings an Kallistos, der nüchtern feststellte: „Lies das Schreiben erst, bevor du dir schmeichelst."
„Pah!"
Rodney ließ sich auf das Sofa fallen und pflichtete dem Vampir mit einem amüsierten Unterton bei. „Gute Idee."
Da das Kuvert bereits geöffnet war - wie sonst hätte das Gildenoberhaupt auch wissen können, für wen der Brief ohne Absender und Empfänger auf dem Umschlag eigentlich bestimmt war – zögerte Charles. Sollte diese besondere Stammkundin etwa keinen Auftrag für ihn haben? Handelte es sich gar um eine Beschwerde über seine Arbeit? Rodneys offenherziges Lächeln war in dieser Hinsicht nicht zu deuten, der Chef machte ohnehin immer gute Miene, welches Spiel auch gespielt werden mochte.
Ein längeres Zögern wurde von den anderen Schneidern jedoch nicht weiter geduldet, Gany und Kallistos schienen schon ihrerseits nach dem Brief angeln zu wollen. Charles entzog das Schreiben ihren Langfingern und nickte. „Schon gut, schon gut. Aber denkt nicht, ich würde laut vorlesen!"
„Das würden wir nie verlangen!" Der Chor klang viel zu einstudiert, um glaubwürdig zu sein. Sogar Berin hatte mit gebrummt. Charles wandte den Kollegen den Rücken zu und stellte sicher, dass auch Kallistos ihm nicht atem- und lautlos über die Schulter blicken konnte, dann überflog er den Brief. Am Ende stieß er ein ungläubiges: „Oh, nein!" aus und darauf gab es kein Halten mehr in der Gilde.
Ein kleiner Tumult brach aus, als drei Schneider gleichzeitig um einen Brief rangen, zwei von ihnen, weil sie ihre Neugier stillen wollten und der dritte mit diesen beiden, weil er genau das nicht zulassen konnte. Gerade in dem Moment, als Gany die Arme um Charles' Bauch geschlungen hatte und ihn zu Fall bringen wollte, während Kallistos versuchte, die Handgelenke des Zombies zu erwischen, um ihm das Schreiben zu entwinden – das alles mit einem großen ‚Hallo!' und von Rodneys Gelächter begleitet – wurde die Tür zur Gilde geöffnet. Felix sah sich erstaunt diesem Chaos gegenüber, zögerte aber nicht länger als einen Wimpernschlag, dem Freund aus der Bedrängnis durch die anderen Kollegen zu helfen.
Nun purzelten schon vier Schneider ineinander verstrickt über den Boden und keiner wusste mehr so recht, worum es hier eigentlich ging.
„Au! Lass los!"
„Lass du doch erst los!"
„Er hat mich gekniffen! Hör auf zu kneifen!"
„Das gefällt dir doch!"
„Runter von mir!"
„Würde ich gern, aber ich liege selbst unten."
„Du boxt wie ein Mädchen!"
„Selber Mädchen!"
„Wessen Hand ist das?"
„Pardon, es ist meine."
„Nein, das müsste meine sein."
„Hey! Kitzeln gilt nicht!"
„Dann hör auf zu kneifen!"
Berin brummte schließlich erneut, löste sich von seinem Beobachtungsposten an der Wand und griff beherzt in das Knäul von Leibern hinein. Als er die Hand zurückzog, hatte er den Brief erobert und sofort kam der Streit zum erliegen. Stumm blickten alle zum Zwerg auf, dessen Axt ebenso stumm zurücksah. Keiner rührte sich, selbst Rodney schien den Atem anzuhalten.
Ein geschlagenes Seufzen kam aus der untersten Schicht des Schneiderhaufens, als Berin las und schließlich für alle laut verkündete: „Will noch'n Zweiten."
Das Knäul löste sich langsam auf, nur Charles blieb noch eine Weile länger auf dem Rücken liegen, starrte an die Decke und haderte mit dem Schicksal. Selbst Felix stand ihm nun nicht mehr bei, sondern gesellte sich zu Gany und Kallistos und fragte: „Worum geht es hier?"
„'N Zweiten", grollte Berin erneut und Gany, nachdem er selbst die wenigen Zeilen des Schreibens überflogen hatte, sprang erklärend bei: „Charles' Stammkundin. Er prahlt gerne mit ihr, obwohl er nie genaueres erzählt. Er scheint sich jedenfalls ziemlich ins Zeug für sie zu legen. Aber heute möchte Madame nicht allein von ihm Gesellschaft geleistet bekommen, sondern lädt noch einen weiteren Schneider zu sich ein."
„Hmpf!" kam es aus Bodennähe, was Felix die Brauen heben und fragen ließ: „Einen bestimmten?"
„Steht hier nicht. Aber sie zahlt gut."
Kallistos bot dieweil Charles eine Hand an und der andere Schneider ließ sich, wenn auch mit finsterster Miene und ohne Dank, aufhelfen. „Sie zahlt sehr gut für sehr gute Dienste", ließ der Zombie verlautbaren. Kallistos nickte. „Wer darf sich demnach ein zusätzliches Taschengeld verdienen?"
Alle Köpfe ruckten zu Charles und dieser wiederum sah fragend zu Rodney. Das Oberhaupt nickte. „Ja, Charles. Wer darf denn heute mit? Wie wäre es mit dem Neuen?"
Jetzt ruckten alle Köpfe zu Felix. In der Tat war der hochgewachsene, blonde Stelzkrieger noch Frischfleisch in der Gilde und in diesem Moment reichlich überrumpelt. Der Einwand kam allerdings nicht von ihm, sondern, heftig geführt, von Charles. „Auf keinen Fall! Er ist viel zu unerfahren für diese Größenordnung."
Rodney zeigte jedoch weiter nur sein spitzbübisches Grinsen und keinerlei Erbarmen darin, die Chefkarte auszuspielen. „Lörning bei Duing, so steht es in den Regeln."
„Aber nicht in diesem Fall, sie ist meine beste Kundin!"
„Gerade dann lohnt es sich."
„Er weiß doch gar nicht, was er tun muss!"
„Das wirst du ihm dann schon zeigen."
Während Gany, Kallistos und Berin den Streit mit wachsendem Interesse folgten und sich dabei das ein oder andere Kleidungsstück wieder richteten, trat Felix einen Schritt vor. „Ich kann das Geld aus diesem Auftrag gut gebrauchen."
Er ignorierte den wütenden Blick, der ihm daraufhin von Charles zugeworfen wurde. Rodney stand vom Sofa auf und legte dem Zombie eine Hand auf die Schulter. Nicht etwa auf eine beschwichtigende Weise, sondern vielmehr um zu verdeutlichen, dass hier kein weiterer Widerspruch geduldet wurde. Seine Stimme war weich, aber der Blick in Charles' Augen streng „Da hörst du es. Er braucht das Geld und will mitkommen."
Charles knirschte mit den Zähnen, aber schwieg. Gegen das ungeschriebene Schneidergesetz - Er war jung und brauchte das Geld – konnte er nicht protestieren. Niemand verweigerte einem Kollegen in Not einen Auftrag. Felix mochte es nicht wissen, aber jetzt war es vor allen ausgesprochen worden und so blieb Charles nur ein knappes, kaum wahrnehmbares Nicken.
Rodney ließ die Hand sinken und grinste. „Wie schön, wäre das jetzt geklärt! Dann habt viel, viel Spaß, Freunde!"
Charles wandte sich auf dem Absatz um und stieß Felix mit der Schulter an, als er an ihm vorbei in Richtung des Ausgangs marschierte. „Wir brechen sofort auf."
Felix schnaubte unbeeindruckt und beachtete das Getuschel und Gekicher hinter ihnen nicht, als er auch er sich in Bewegung setzte. „Hat diese ‚Madame' es eilig?"
„Nein. Aber ich will das hinter uns bringen." Es war die letzten Worte, die Charles im Gildengebäude verlor, bevor er auf die Straße trat und Felix ihm bald darauf folgte. Keiner von beiden bemerkte die kühle Miene Kallistos', der sich nicht an den Scherzworten der übrigen Schneider beteiligte, sondern den Freunden nachsah, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
Der Straßenköter musste unterdessen den Laufburschen gestellt haben, denn in der Ulmenstraße war nun weder ein Bellen zu hören, noch Kindergeschrei. Gleichmäßige Stiefelschritte auf dem Kopfsteinpflaster waren derzeit die einzigen Laute, die ein zufälliger Passant vernommen hätte, ansonsten herrschte eisiges Schweigen. Das war verwunderlich, zählten die Schritte doch nicht nur zu einem, sondern zwei Männern, die sogar nebeneinander gingen und dabei scheinbar gewohnheitsgemäß ihren Gang aneinander anpassten, sodass keiner zurückgefallen wäre und von Zeit zu Zeit hätte aufschließen müssen.
Dennoch fiel zwischen ihnen kein Wort und das für die Dauer mehrerer Kreuzungen lang. Erst, als Charles auf die Königsstraße abbog und damit das Villenviertel der Stadt betrat, wandte sich Felix an den Freund. „Wer ist diese Madame?"
„Du stellst zu viele Fragen, Wächter." kam knurrig unter dem Federhut hervor. Die Anspielung auf seine Zeit vor dem Gildenwechsel zu den Schneidern, hinterließ eine steile Falte in Felix' Stirn. „Eine einzige, Schneider."
„Diskretion. Für uns nur ‚Madame'."
„Den Auftrag als solchen diskret zu verschweigen, gehört wohl auch dazu."
„Nein. Spar dir den Sarkasmus, es geht um das Übliche. Einer Frau dienen."
„Ja. Auf welche Weise?"
„Die Übliche."
Felix' Kiefer mahlten und zwischen den Zähnen brachte er hervor: „Was soll das?"
„Was?"
„Dein Verhalten. Wenn du das Geld allein für dich willst-"
„Mitnichten, Missjö!" fiel Charles ihm ins Wort und blieb abrupt stehen. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch, sah er den Freund direkt an und fuhr scharf fort: „Weißt du was? Ich zahle dir das Doppelte von dem, was Madame gibt und du verschwindest!"
Sie fochten ein stummes Blickduell aus, für die Königsstraße ein recht unziemliches Gehabe. Doch hinter den hohen Mauern und Zäunen der Villen rührte sich nichts, niemand empörte sich mehr über die beiden Schneider, als sie selbst. Felix verschränkte störrisch die Arme. „Nein. Das ist unser gemeinsamer Auftrag."
„Ha! Eigentlich ist es nur mein Auftrag, aber du konntest die Klappe nicht halten! Sagt, er braucht das Geld. Bei Aphrodante! Nimm eben meins und lass mich allein gehen!"
„Du hast nur Angst, ich könnte dir bei Madame den Rang ablaufen."
Jetzt war es an Charles, abfällig zu schnauben. „Das wird niemals passieren."
„Warum entsetzt es dich dann so, einen Kollegen mitnehmen zu müssen?"
„Kannst du dir eigentlich gar nichts denken?"
„Ich denke mir meinen Teil, ja."
„Dann - bleib – hier! Zwing mich nicht, dich mit zu Madame zu nehmen. Aus gutem Grund bin ich hier diskret."
Erneut breitete sich Schweigen zwischen den Freunden aus und ihr Blickduell wollte keinen Sieger finden. Ein ebenfalls guter Grund hatte Felix bisher nicht die entscheidende Frage stellen lassen: Warum zu zweit? Die Antwort darauf wollte er nicht wissen, aber sie schlich schon seit geraumer Weile durch seine Gedanken. Das Wortgefecht mit Charles hatte sie kurz in den Hintergrund treten lassen, nun drängte sie wieder vor. Noch hoffte Felix, sich zu irren, doch Naivität stand einem Wächter nicht gut zu Gesicht.
Als eine geraume Weile verstrichen war und Felix noch immer bei Charles stand und nicht gegangen war, schüttelte dieser schließlich resigniert den Kopf. „Du wirst niemals ein Wort über den heutigen Abend, und was du siehst und hörst, was wir erleben, verlieren. Versprich es mir."
„Diskretion, ja."
„Versprich es!"
„Ich verspreche es."
Charles schien damit zufrieden, mied aber nun den Blick des anderen und setzte den Weg die Straße hinunter fort. Felix schloss auf und verbot sich jeden weiteren Gedanken an eine geheimnisvolle ‚Madame' und ihren Doppelauftrag, bis Charles vor einem gusseisernen Tor schließlich stehen blieb. Hinter dem Tor wand sich ein langer Pfad durch eine parkähnliche Anlage; er schien zu einem herrschaftlichen Haus zu führen, von dem Felix über die Wipfel einiger Bäume nur den Giebel erspähen konnte. Leise pfiff er durch die Zähne. Ein Teil der übermäßigen Diskretion seines Begleiters wunderte ihn nun nicht mehr. Wer immer hier lebte – und es war kein aufschlussgebendes Namensschild irgendwo angebracht – zählte nicht nur zu den oberen zweihundert dieser Stadt, sondern erbat sich Diskretion im Zweifelsfall durch Assassinenhand.
Bevor Charles nach einem Strick neben der Eingangspforte griff, der zu einem Glockenzug in einem Torhaus einige Schritte entfernt zu gehören schien, wandte er sich noch einmal an Felix. „Hör zu, sobald wir da drin sind, bin ich der Chef. Du tust, was ich sage und sprichst nur, wenn du direkt gefragt wirst."
„Das glaubst du!" gab Felix mehr aus Gewohnheit und weniger trotzig, als halbherzig zurück.
„Ja, glaube ich. Du hast keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast."
„Das könnte daran liegen, weil ein gewisser Herr es mir nicht sagen will."
„Rodney hat es Lörning bei Duing genannt. Wer bin ich, unserem Oberhaupt zu widersprechen?"
Einen Moment länger starrten sie sich gegenseitig herausfordernd an, das nächste Duell zwischen ihnen hing unausgesprochen in der Luft. Schließlich lenkte Felix nickend in die Regeln ein und rief damit eine vorübergehende Waffenruhe aus.
Charles erwiderte das Nicken und betätigte den Glockenzug. Bald darauf trat ein livrierter Diener aus dem Torhaus, musterte die beiden Schneider kurz und stellte sonst keine Fragen. Offenbar war Charles kein Unbekannter hier und bekam Einlass, ohne Briefe vorzuzeigen oder auf Terminen zu beharren. Felix hielt sich an sein Versprechen und mischte sich nicht in die Konversation zwischen dem grauhaarigen, gemütlich wirkenden Torwächter und Charles ein, in der ohnehin nur belanglose Worte über das Wetter und das werte Befinden getauscht wurden, während sie dem Pfad zur Villa folgten.
Zum Schweigen verurteilt, fiel Felix allerdings das Gebaren des Freundes besonders ins Auge, der aufgesetzt fröhlich plauderte und sich ansonsten so gab, als bemerke er nicht die zahlreichen Gefährte, die im Kutschenhaus unterstanden, als sie daran vorbei gingen. Viele der Fahrspuren waren noch frisch und geschäftig eilten die Stallburschen umher, während einige Kutscher sich bei Zigaretten und derben Scherzen die Zeit vertrieben. Felix' erster Verdacht bestätigte sich, je näher sie dem Haus kamen. Windlichter waren auf dem letzten Stücke des Weges entfacht worden und hinter den Fenstern war die Geschäftigkeit ebenso groß, wie beim Kutschenhaus. Ein Ball. Zwei Schneider für einen Ball? Das warf nun neue Fragen auf. Wollte Madame sie nicht für sich allein haben, sondern stellten Charles und er tatsächlich charmante Gesellschafter für andere Frauenzimmer?
Am Treppenaufgang zur Veranda, ließ der Diener sie kurz allein, sodass Felix dem Freund zuraunen konnte: „Gibt es überhaupt eine Madame?"
Charles runzelte die Stirn. „Natürlich gibt es sie, die Herrin des Hauses und unsere Auftraggeberin."
„Ja. Aber hattest du wirklich schon einmal mit ihr zu tun?"
„Was willst du damit sagen?"
„Du bist es, der so ein Geheimnis um die Aufträge der Dame und um ihre Identität macht."
„Du hast versprochen, kein Wort hierüber zu verlieren!"
„Das werde ich auch nicht. Aber es wird allmählich Zeit, dass du mich ins Bild setzt."
„Du wirst schon früh genug erfahren, was uns erwartet."
„Mit Madame?"
„Nicht… direkt."
Felix horchte auf, doch zu weiteren Nachfragen kam er nicht. Ein weiterer Diener, jünger und durchaus versnobter als sein Vorgänger, hieß den Schneidern, ihm zu folgen. Er führte die Männer geradewegs zu einem Dienstboteneingang. Natürlich kamen solche wie sie nicht durch die Haupttür – was Felix' Schlussfolgerungen zu ihren Aufgaben auf dem bevorstehenden Ball zunichtemachte. Sie wären angemessen gekleidet gewesen, noch dazu nachweislich von adeliger Herkunft, um keine Schande in Gesellschaft zu sein. Anscheinend hatte man aber andere Pläne mit ihnen. Pläne, die sie direkt weiter in ein Hinterzimmer führten, fern der zu erwartenden Gäste – offenbar jedoch noch immer nah genug am Ballsaal, sodass man sich von dort diskret in diesen Raum begeben konnte.
Man ließ sie hier allein, und während Charles sich seufzend in einem der Lehnsessel niederließ und dann der Dinge zu harren schien, begann Felix eine unruhige Wanderung durch den Raum. Vielen Möbeln hatte er dabei nicht auszuweichen. Neben dem Lehnsessel fand sich noch ein Sofa und ein niedriger Tisch vor. Die Holzdielen waren mit Teppich belegt und dämpften jeden seiner Schritte. Die Tür, durch die sie gekommen waren, fügte sich nahtlos in eine vertäfelte Wand ein und verstärkte den Eindruck, es hier mit einem sehr privaten Nebenraum zu tun zu haben.
Charles folgte eine Weile Felix mit den Augen, schließlich schien ihm das unablässige Hin- und Hergetigere aber auf die Nerven zu fallen. „Könntest du dich setzen?"
„Ich fühle mich wohler, wenn ich stehe."
„Wie du meinst, aber dann bleib auch stehen."
„Ist das ein Befehl, Chef."
„Wenn du es zu einem werden lässt?"
Darauf erwiderte Felix nichts, aber stellte seinen Marsch durch das Zimmer ein. Stattdessen verschränkte er die Arme. „Ist es das also? Unser Auftrag?"
„Bisher schon."
„Großartig."
„Du wolltest mitkommen."
„Ich brauchte das Geld?"
Charles wischte das mit einer Handbewegung beiseite. „Schlechte Ausrede, Monsieur. Was stört dich an dieser Situation? Wir haben ein lauschiges Plätzchen, ein wenig Musik, bestimmt noch Freigetränke und später auch Gesellschaft."
„Das gefällt dir wohl."
„Immerhin bin ich nicht allein dieses Mal. Du leidest mit mir."
„Entzückend."
„Als es noch hieß, du, Madame und ich, warst du weniger abgestoßen."
Ehe Felix darauf eine passende Erwiderung einfallen konnte, die nicht eine lautere Stimme und eventuell auch Fäuste ballen nach sich gezogen hätte, wurde die Tür geöffnet und – Madame schritt herein. Sogleich kam Charles auf die Füße, trat an Felix vorbei und verbeugte sich galant vor der Dame.
Während einige charmante Worte zwischen Schneider und Hausherrin gewechselt wurden, fand Felix' Wächterblick die Zeit für eine Einschätzung. Die Madame war noch nicht für den Ball zurecht gemacht, ihr Kleid, obgleich über und über von Spitze, wirkte noch zu schlicht und alltäglich. Alltäglich natürlich nur, wenn man sich in den oberen Kreisen der Gesellschaft bewegte und sich von einer Küchenmagd zu unterscheiden wusste. Dennoch nahm sie sich ganz hübsch so leger aus. Blonde Locken umrahmten hohe Wangenknochen. Sie mochte kaum älter als dreißig Jahre sein, viel jünger jedenfalls, als Felix sich eine Madame vorgestellt hätte. Die Finger, die sie Charles zum Handkuss geboten hatte, steckten in einem feinen Seidenhandschuh, sodass nicht erkennbar war, ob sie einen Ehering trug. Die Betitelung ‚Madame' konnte an sich kein Hinweis sein, denn so nannten nur die Schneider sie. Auch jetzt blieb ihr Name weiterhin ein Geheimnis, als ihr Blick schließlich zu Felix wanderte.
„Wer mag das sein?"
Über ihn in dritter Person zu sprechen, offenbarte hingegen einen eher unschönen Charakter hinter der hübschen Fassade. Die Abwesenheit auch nur des kleinsten Lächelns bei Madame, ließ Felix rasch den Kopf neigen, damit ihm seine Gedanken nicht allzu deutlich in der Miene abzulesen waren. Auch Charles ganzer Charme schien mehr der Etikette und Pflicht geschuldet zu sein, denn tatsächlicher Sympathie. Man kam wohl nicht an die Spitze der Gesellschaft, ohne den ein oder anderen Verlust hinnehmen zu müssen.
„Wenn ich vorstellen darf: Felix." führte Charles den Freund ein. An Nachnamen herrschte wohl kein Interesse. „Ich bin sofort aufgebrochen, als Euer Schreiben mich erreicht hat und habe, ganz auf Euer Geheiß, einen Kollegen mitgebracht."
„Gut." Über den Rand eines Fächers hinweg wurde Felix gemustert, der eisern daran festhielt, kein Wort zu sagen, ehe man ihn direkt ansprach.
„Er ist talentiert und wird Euch nicht enttäuschen."
„Ich vertraue Eurem Urteil, Charles. Wenn er mich heute überzeugt, könnten ähnliche Einladungen folgen."
Damit wandte sich die Madame um und schritt aus dem Raum. Sehr zu Felix' Erleichterung wurden die Schneider aufgefordert, ihr zu folgen. Seine schlimmsten Befürchtungen über den Grund ihrer Anwesenheit schienen sich doch nicht zu bewahrheiten – und das Duell mit Charles bekam noch eine weitere Fußnote, dem Freund die anscheinend diebische Freude darüber heimzahlen zu können, Felix derart im Ungewissen und in schlimmen Vermutungen gelassen zu haben.
Vom Ballsaal her drang leise Musik zu ihnen hinüber in den Korridor, womöglich die letzten Proben. Vor einer Flügeltür hielt die Madame an und eilfertig sprang Charles vor, um sie buckelnd zu öffnen. Felix wusste, wie viel Missvergnügen es dem Freund bereitete, sich derart zu erniedrigen. Aber ihre Auftraggeberin zahlte gut; dass sonst nicht viel nettes von ihr zu berichten war, mochte ein Grund für Charles' Schweigen zu allen Aufträgen von ihr sein.
Ohne Dank trat sie denn auch vorbei und wieder folgten die Schneider. Sie fanden sich in einem Vorraum wieder, eine weitere Flügeltür führte auf der gegenüberliegenden Seite hinaus in das eigentliche Zimmer. Felix stutzte. Der Lärm, der ihm von hinter dieser Tür nun ans Ohr drang, hatte nichts mehr mit Ballmusik zu tun. Nein, da war ein Krachen und Scheppern und spitze Schreie und Kreischen, auch ein hohes Lachen und Rumsen, als sei gerade etwas umgefallen, dann wieder Toben und Rufen und-
„Die Kinder warten schon voller Ungeduld, meine Herren", winkte die Madame und schien ein Stück ihrer Contenance eingebüßt zu haben, als befielen sie starke Kopfschmerzen. Auch Charles wirkte nicht mehr ganz so charmant, eher nervös. „Ich nehme an, Eure Gäste erwarten einen ebenso guten Service für ihre Söhne und Töchter, wie ich ihn sonst Euren Kindern angedeihen lasse."
„Gewiss. Ich ziehe mich jetzt zurück", und damit rauschte die Madame auch schon zurück in den Korridor und ließ einen sichtlich verdutzten und einen um Jahre gealtert wirkenden Schneider zurück. Schließlich straffte Charles seine Gestalt. „Nun dann… wollen wir die Kinder nicht warten lassen."
„Wir sind… Babysitter?"
„Wenn du auch nur ein Wort darüber an Rodney und die anderen verlierst-!"
Felix blinzelte. Er blinzelte noch einmal. Dann prustet er los und verstand endlich. Sein bester Freund hatte sich wohl beim allerersten Auftrag von Madame auch etwas anderes hierunter vorgestellt, vor den Kollegen schon damit angegeben, zu so einer piekfeinen Adresse und unnahbaren Dame geladen worden zu sein – und dann das!
Zum dritten Mal an diesem Abend seufzte Charles und grinste schief. „Nehmen wir es in Angriff, Kamerad?"
„Nach dir", nickte Felix amüsiert.
„Dann auf!"
Zwei Schneider drangen in die Höhle der Löwen vor und schworen am nächsten Tag in der Gilde, viel zu erschöpft zu sein, um irgendeine Art von Bericht geben zu können. Die Kollegen ließen sie denn auch in Ruhe und über diese Sache, und alle nachfolgenden Aufträge von Madame, wurde nie wieder gesprochen.
Ende
