Christine
Sie stand auf dem Balkon der an ihr Schlafzimmer grenzte und schaute auf das
herrliche Anwesen daß sich zu ihren Füßen erstreckte.
Die Luft war kalt und da es die ganze Nacht hindurch geschneit hatte, roch sie
nach Schnee. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen, die in den klaren blauen Morgenhimmel
aufstiegen. Die Sonne war gerade eben aufgegangen und doch schien das
geschäftige Treiben der Natur unter der dichten Schneedecke zum erliegen
gekommen sein. Alles war vollkommen still und friedlich.
Der leichte Morgenmantel den sie trug, konnte sie nicht vor der Kälte schützen und sie zitterte ein wenig.
Die Sonne hatte ihre Kraft an den Winter abgetreten und auch wenn sie ihr hell
und freundlich ins Gesicht schien wärmte sie ihre Haut kaum. Ein leichter
Wind fing sich in ihre dunklen Locken und die Sonne zauberte rote und goldene Reflexe darauf.
Sie wirkte unglaublich verletzlich in diesem Moment.
Die Friedlichkeit ihrer Umgebung spiegelte sich leider nicht in ihrem Innern.
Seit Tagen war sie innerlich in Aufruhr und konnte doch nicht den genauen
Ursprung ihrer Unruhe ergründen.
Ihr Blick glitt von der winterlichen Landschaft auf ihre Hände in welchen Sie
den Brief hielt den sie heute nacht geschrieben hatte.
Es sollte der Letzte gewesen sein, hatte sie sich geschworen, denn schließlich
wurde am heutigen Tag ihr neues Leben entgültig besiegelt. Seltsamerweise
verspürte sie bei diesem Gedanken keine Freude.
Sie riß den Brief in endlos viele kleine Fetzen und warf diese dann über das
Geländer und sah ihnen nach wie sie auf dem Wind davongetragen wurden.
Sie wünschte sich, es ihnen gleichtun zu können.
Immer wieder schweiften ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Zu den
Stunden die sie in den Katakomben der Oper und Eriks Wohnung verbracht hatte.
Diese Zeit hatte sie verändert. Zwar waren diese Veränderungen erst lange nach
ihrer letzten Begegnun mit Erik in Erscheinung getreten aber nun war deutlich
spürbar wie gravierend sie waren.
Größten Teils verstand sie sich selbst nicht mehr und fragte sich jeden Morgen
wem die ernsten Augen gehörten die ihr aus dem Spiegel entgegensahen.
Nichts erinnerte sie mehr an die kleine Lotte die sie noch vor einigen Monaten angestrahlt hatte.
In den ersten Tagen, nach Raouls und ihrer Flucht aus Eriks Reich, war sie
unendlich erleichtert gewesen daß niemand von ihnen ernsten körperlichen
Schaden genommen hatte, doch je mehr sie darüber nachdachte mußte sie sich
eingestehen daß ihre Seele mehr Narben zurückbehalten hatte, als ihr Körper je würde verwinden können.
Und wenn sie schon so innerlich zerrissen war, wie erginge es dann erst Erik.
Wiedereinmal war er in seinem Leben verraten worden, wieder hatte man ihn
enttäuscht und alleine zurückgelassen.
Sie hatte ihn nicht verraten wollen, aber auf einmal war da Raoul gewesen. In
jugendlichen seiner Dominanz hatte er ihr einen leichten Ausweg aus ihrem Gefühlschaos angeboten, und nur
zu bereitwillig hatte sie ihm ihre Hand gereicht. Ganz ohne über die Konsequenzen nachzudenken die dies mit
sich ziehen würde. Ihre zwiespältigen Gefühle hatten sie vollkommen überfordert und sie zu unüberlegten Handlungen
verleitet. Sie war verängstigt gewesen und hatte zuerst die Gegenwart des Mannes gemieden, der ihr diese Furcht
einflößte. Er hatte unglaublich grausame Dinge in seinem Leben getan und der Gedanke an seine Taten erfüllte
sie mit Grauen. Und doch verblaßte all dieses Grauen wenn sie an die endlos einsameTraurigkeit in
seinem Blick dachte, als sie ihm seinen Ring zurückgab.
Sie hatte in der Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, Seiten an ihm entdeckt
die jedem anderen Menschen immer verborgen bleiben würden. Die zarte Sanftheit seiner
Musik bildete den harten Kontrast zum bitteren Geschmack seines Lebens und hatte ihr aufgezeigt dass Erik
nur geliebt werden mußte um auch diese Gefühle zulassen zu können.
Er hatte sie damals zu einer Entscheidung gezwungen und sie hatte sich dafür
entschieden bei ihm zu bleiben. Um Raouls Leben zu retten, aber auch um
seinetwillen. Dies hatte sie sich damals nicht eingestehen können, doch heute war das anders.
Es war für sie wie ein Schlag ins Gesicht gewesen daß er sie dennoch
fortschickte nachdem sie ihm diesen, alles verändernden, Kuss geschenkt hatte.
Sie hatte ihre Angst bezwungen und überwunden und doch gab er sie in Raouls
begierige Umarmung wie ein ungeliebtes Geschenk welches man nicht haben wollte. Und sie war es leid gewesen
der Spielball seiner Launen zu sein. Als er dann in seinem Schlafzimmer, halb wahnsinnig vor Trauer ihren Namen
gerufen hatte, und ihr endlich seine Liebe gestand, hatte sie ihm in einem Moment des Trotzes seinen Ring zurückgegeben.
Nie würde sie jedoch vergessen wie sich zuerst ein kleiner Schimmer Hoffnung
in seinem Blick zeigte als er sie in der Tür stehen sah und wie dieser Schimmer brach als sie ihm seinen Ring zurückgab.
Damals konnte sie nicht verstehen daß er nur ihr Bestes wollte, ihr die
Möglichkeit geben wollte frei zu sein. Viel zu spät hatte sie erkannt welches Opfer er so für sie gebracht hatte.
Tränen stiegen ihr in die Augen wenn sie an diese schicksalshaften Momente dachte.
Es waren nun 6 Wochen seit ihrer Flucht vergangen und schon in der ersten
Woche, die sie im Palais de Chagny verbracht hatte, hatte sie begonnen von Erik zu träumen.
Dunkle Träume in denen er dahinschwand und im Sterben immer wieder ihren Namen
rief, seine Hand nach ihr ausstreckte und sie doch nicht erreichen konnte.
Jedesmal war sie von diesen Träumen weinend erwacht und konnte den Rest der
Nacht keinen Schlaf mehr finden.
Irgendwann hatte sie begonnen nach jedem dieser Träume einen Brief an Erik zu
schreiben, in dem sie ihm versicherte daß sie in liebte, immer in Gedanken bei
ihm sei und ihm das Licht sandte daß er sich in seiner Dunkelheit so
sehnlichst wünschte. Morgens, jeweils zum Sonnenaufgang hatte sie die zerissenen
Stücke ihrer Briefe dem Wind überantwortet, in der Hoffnung so ihre Gedanken
und Empfindungen zu entwirren.
Der Traum der letzten Nacht war der bisher Schlimmste gewesen. Sie hatte die
Wohnung am See gesehen. Zerstört und verwüstet. Zerissene Noten, Zeichnungen und
Bücher lagen überall herum und nur noch wenige Kerzen tauchten die Räume in ein
unheilschwangeres Licht. Sie war durch alle Räume geirrt und hatte Eriks Namen
gerufen, ohne eine Antwort zu erhalten!
Als sie den letzten Raum betrat hatte sich ihr ein Bild geboten welches sie
wohl nie mehr in ihrem Leben vergessen würde.
Eriks eingesunkene Gestalt lehnte bleich und leblos, halb sitzend, mit der Schulter an seiner Orgel.
Um Ihn herum eine blutige Lache. Blut hatte sich auf den schwarzen und weißen Tasten verteilt und bildete einen
harten Kontrast.
Nein, das durfte einfach nicht sein, er durfte nicht tot sein. Das wäre alleine ihre Schuld, eine Schuld
mit der sie nicht leben konnte.
Seine Maske lag achtlos neben ihm auf den Tasten, seine Linke Hand ruhte noch immer auf den Noten die
er zuletzt geschrieben hatte.
"Geleit für mein verlorenen Glückes" konnte sie in roten krakeligen Lettern
lesen. Blut befleckte seine Unterarme und nun konnte sie erkennen daß er sich die
Pulsadern aufgeschnitten hatte um sein letztes Werk mit seinem Blut zu schreiben.
Diese Musik galt nur ihr. Sie kniete sich neben ihn, ungeachtet dessen daß ihr
Kleid mit seinem Blut getränkt wurde und strich ihm sanft über die kalte Hand.
Er hatte so schöne Hände die nun nie wieder etwas erschaffen würden.
Als sie ihn berührte war es als würde Musik in ihren Kopf strömen. Leise
lockende Klänge, die sie umschlossen, ganz sanft und zärtlich. Sie führten
sie vorwärts wie auf Woken schwebend und nahmen ihr jede Angst. Alles war
plötzlich so leicht und die Intensität der Melodie füllte ihr Herz mit Wärme und Freude. Sie erkannte
sich in diesen Tönen. In vielen Lebenssituationen sah sie sich selbst. Einmal unbeschwert lachend, mit den
Mädchen vom Corps de Ballett, dann mit träumerisch verklärtem Blick während einer Unterrichtsstunde,
die ihr der "Engel der Musik gab. Sie sah sich auf der Bühne der Oper stehen, am Gala Abend an dem sie
ihren großen Triumph gefeiert hatte, und die Musik quoll nun über vor Stolz. Dann
sah sie sich vor Eriks Kamin sitzend, ein Buch lesend mit einem leichten Lächeln
auf den Lippen. Unzählige Situtationen erschienen vor ihrem inneren Augen und
langsam verstand sie daß diese Musik Eriks Blick auf sie preisgab. Die liebevollen Gefühle die er ihr
nie gewagt hatte zu zeigen. Und als die letzten Phrasen leidenschaftlich anschwollen versank sie noch einmal in
dem langen Kuß den sie ihm geschenkt hatte, doch nun durfte sie auch seine Empfindungen teilen.
Die wieder eintretende Stille traf sie so unvorbereitet daß sie einen unsicheren Schritt zurücktaumelte.
Er hatte einen Hochzeitsmarsch, für eine Hochzeit bei der nicht er selbst neben
ihr stehen würde, komponiert und niemand außer ihr würde die Bilder der Vergangenheit
sehen, die seine Musik in ihr wachriefen. Mit Schrecken wurde ihr klar, daß
diese Musik sein Abschiedsgeschenk an sie war.
Diese Vorstellung schnürte ihr die Kehle zu und endlich kamen die erlösenden Tränen.
Die Konturen des Raums verschwammen vor ihren Augen und mit einem erstickten
Schluchzen war sie aus dem Schlaf hoch gefahren. Sie brauchte einige Minuten
bis sie erkannte daß sie sich nicht in der Wohnung am See, sondern im Palais de Chagny befand.
Ihre Wangen waren tränennass und sie spürte eine Verzweiflung wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte.
Dieser Morgen lastete schwer auf ihren Schultern, denn an diesem Morgen
sollte sie mit Raoul vor den Traualtar treten.
Und nun stand sie hier in der Kälte und schickte ihren letzten und längsten Brief auf die Reise.
Doch als nichts mehr von ihm zu sehen war fühlte sie sich nicht erleichtert
wie sie es gehofft hatte, sondern unendlich leer.
"Mademoiselle?"
Eine unsichere Stimme riß sie aus ihrer Gedankenwelt und langsam drehte sie sich
um. In der offenen Balkontür stand Marie, ihre Zofe, und rieb sich fröstelnd die Arme.
"Mademoiselle, sie werden sich da draußen noch den Tod holen. Außerdem müssen
wir langsam anfangen sie fertig zu machen. Schließlich ist heute der schönste Tag in ihrem Leben!"
Ein freudloses Lachen entrang sich Christines Kehle, doch als sie in das naiv
strahlende Gesicht ihrer Zofe sah unterdrückte sie es schnell.
Sie würde das Mädchen nur unnötig verunsichern.
Eigentlich sollte sie glücklich sein. Einen führsorgenderen Ehemann als Raoul
konnte man sich wohl kaum vorstellen. Er hatte nach ihrer Flucht darauf
bestanden Paris und Frankreich sofort zu verlassen. Doch Christine hatte sich geweigert. Irgendetwas hielt sie hier und nach langen Diskussionen und unzähligen Tränen hatte Raoul eingewilligt noch in Paris zu heiraten und erst dann abzureisen.
Christine konnte den Gedanken nicht ertragen in einem fremden Land zu heiraten.
Bei Menschen die sie nicht verstand und die sie nicht kannte.
Hier wären wenigstens ihre Ziehmutter Antoinette Giry und ihre Freundin Meg an ihrer Seite.
Raoul war nicht im Stande ihr einen Wunsch abzuschlagen und so willigte er
auch ein in der Madeleine Kirche zu heiraten, wie Christine es sich wünschte.
Zwar war ihm gar nicht wohl dabei, denn schließlich befand sich La Madeleine
in unmittelbarer Nähe der Oper.
In den letzten Wochen hatte er Christine, die sich immer mehr zurückzog um
ihren Gedanken nachzuhängen, jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
Christine jedoch hatte daß Gefühl von seiner Liebe erdrückt zu werden.
Als sie nun in das große Schlafzimmer zurückkehrte, fiel ihr Blick auf das
sündhaft teure Brautkleid welches Raoul für sie hatte fertigen lassen. Sie
hatte kein großes Interesse daran gezeigt und alle Entscheidungen bezüglich der Hochzeit ihm überlassen.
Er hatte es schweigend hingenommen.
Ein Schlafzimmer wie dieses würde sie für den Rest ihres Lebens mit Raoul
teilen, doch der Gedanke an seine Berührungen trieb ihr keine Hitze mehr in
die Wangen, so wie es vor einigen Monaten noch der Fall gewesen war, sondern ließ
sie unangenehm erschauern.
Ihr Körper und ihr Geist sehnten sich nach der Berührung von langen, schlanken
Fingern, die in der Lage waren Dinge von solcher Schönheit zu erschaffen daß man sie kaum begreifen konnte.
Sie erschrak bei diesem Gedanken und schob ihn schnell beiseite.
Marie schloß die Balkontür hinter ihr und Christine nahm an ihrer
Firsierkommode platz. Augenblicklich begann Marie damit ihr Haar sorgfältig zu bürsten und in kunstvollen
Zöpfen und Schlingen an ihrem Hinterkopf zu drapieren und festzustecken.
Wieder blickte Christine in verständnislose Augen, die aber ihre eigenen waren
und beobachtete wie sich ihr Erscheinungsbild durch die Hochsteckfrisur noch gravierender veränderte.
Sie wünschte sie könnte wieder so unbeschwert sein, wie sie es noch vor einigen Monaten gewesen war.
Doch diese Zeit war entgültig vorbei und der Weg den sie nun beschritt war der
einzig Richtige und es gab kein zurück, oder?
