1.
Laut hallte der Klang einer Glocke durch die Nacht. Es war ruhig im Dorf, die Fenster der Häuser waren schwarze Flächen, wie Tore zu einer anderen Welt. Nur im Turm der Kirche brannte eine einsame Kerze, während Pater Dominikus trotz seines alten Körpers und den mit dem Alter schwindenden Kräften am Seil hing und die Glocke zum Klingen brachte.Das Läuten blieb nicht ungehört. Schon wenige Minuten später wurden Haustüren aufgerissen, und Männer mit Fackeln stürmten durch die Finsternis, die sich in dieser Nacht über das Dorf gelegt hatte, in Richtung Kirche. Im unheimlichen Schein der vielen Feuer trat Pater Dominikus aus dem Hauptportal der Kirche. Sein Blick, von Strenge und Erfahrung geprägt, glitt über die vielen Dorfbewohner, allesamt hart arbeitende Bauern, wenig erfahren in Krieg und Kampfkunst, ausgestattet mit allerlei lächerlichen Waffen wie Mistgabeln, Schaufeln oder Keulen. Einige wenige hatten ein Schwert an ihrem Gurt hängen oder hielten einen Bogen in Händen, aber alles in allem waren sie ein erbärmlicher Haufen. Doch sie waren alles, was er im Moment hatte.
Die Fremde, donnerte die Stimme des Paters über die versammelten Männer hinweg, die Fremde hat unsere Reliquie gestohlen! Er deutete hinter sich in den dunklen Kirchenraum, der nur ab und an von dem Flackern einer Fackel erhellt wurde, und in dem er vor wenigen Minuten die Ungeheuerlichkeit bemerkt hatte. Die goldene Truhe mit den Gebeinen des Heiligen Paulus war verschwunden. Sein erster Weg war zum Glockenseil gewesen, um das Dorf zusammenzurufen. Er braucht die Männer, damit der Zorn Gottes von ihnen abgewendet werden würde. Sie bringt über uns alle Unglück!, schrie er mit entbranntem Zorn in die Menge hinaus. Wir müssen die Hexe aufhalten!
Die Männer, schon unruhig durch die Dunkelheit dieser mondlosen Nacht, viele noch schlaftrunken und deshalb leicht zu beeinflussen, wurden durch die Worte des Kirchenmannes weiter aufgestachelt. Ein leises Rufen begann, zuerst undeutlich, doch nach und nach immer lauter das gleiche Wort. Hexe! Hexe! Hexe!
Pater Dominikus hatte Mühe, die aufgebrachte Meute zu übertönen, als er mit ausgestrecktem Arm auf den Hügel deutete, der sofort hinter dem Dorf anstieg, und an dessen Gipfel gerade ein schwarzer Schatten im dichten Wald verschwand, einen schweren Gegenstand auf dem Rücken. Tötet die Hexe!, kreischte der Pater mit sich überschlagender Stimme.
Und auf seinen Befehl hin setzten sich die Männer in Bewegung, Fackeln und Waffen drohend erhoben, und stürmten mit lautem Geschrei dem Schatten hinterher.
2.
Rebecca hörte die Rufe der Meute ganz deutlich, und unwillkürlich versuchte sie, ihr Tempo zu beschleunigen, was in der Dunkelheit, die hier herrschte, gar nicht so leicht war. Mehr als einmal rannte sie voll in einen Baum, Äste zerkratzten ihr das Gesicht, und alle paar Meter verfluchte sie die Tatsache, dass sie keine Fackel dabei hatte. So konnte sie nur hoffen, dass sie in die richtige Richtung lief, doch die Sterne, die vereinzelt in dem dichten Blätterdach aufblitzten, und das Moos an den Bäumen wies ihr den Weg.Alles wäre viel einfacher, wenn sie nicht mit der goldenen Truhe, die sie in einem Sack über ihre Schulter geworfen hatte, geschlagen wäre. Leider hatte ihr das Schicksal bei der heutigen nächtlichen Aktion in der Kirche einen Strich durch die Rechnung gemacht, und sie musste die ganze schwere Truhe samt Inhalt – der hauptsächlich nur aus uralten Knochen bestand – mitnehmen. Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, nur mit dem Inhalt abzuhauen, denn dann hätte man den Diebstahl frühestens in ein paar Jahren bemerkt. Doch dieser idiotische Pater Dominikus hatte mitten in der Nacht beschlossen, dass es Zeit für ein Gebet war, da plötzlich durch das kleine Fenster in der Tür zu Sakristei das Flackern einer Kerze zu sehen war. So hatte Rebecca sich kurzerhand die gesamte Truhe geschnappt, in einen Sack gesteckt, und war so schnell es ging davongelaufen. Nur, langsam ging ihr die Puste aus.
Schwer atmend blieb sie stehen und zog an der dünnen Kette, die sie um den Hals trug. Ein siilbernes Medaillon kam zum Vorschein, etwas für jede Zeit alltägliches und unauffälliges. Das sah jedoch ganz anders aus, als sie auf den Haken drückte, der das Medaillon verschlossen hielt, und die obere Hälfte plötzlich aufsprang, und den Blick auf eine Digitaluhr freigab, die im Inneren verborgen lag. Niemand hier durfte das zu Gesicht bekommen, die Menschen im Mittelalter waren einfach zu abergläubisch. Sie drückte eine winzige schwarze Taste und schon leuchtete das Display hell auf. Gerade in diesem Moment wechselte die Anzeige von 0:00:10:00 auf 0:00:09:59.
Rebecca konnte nicht verhindern, dass ihr ein halblautes entfuhr. Entsetzt starrte sie auf die Zahlen. Weniger als zehn Minuten. Das würde verdammt knapp werden.
Als das Geräusch von Menschen, die sich durch das Unterholz kämpften, und der Schein von Fackeln zwischen den Stämmen an ihr Ohr drang, löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Die Dorfbewohner waren schon ziemlich nah an sie herangekommen, einige liefen weniger als dreißig Meter entfernt zwischen den Stämmen hindurch, doch keiner war unterwegs in ihre Richtung. Noch nicht.
Rebecca fiel sofort in einen schnellen Trab. Mehr Geschwindigkeit war nicht möglich, denn sie hatte noch ein schönes Stück mit der schweren Truhe zu laufen. Ein kurzer Blick auf die Uhr im Medaillon. Neun Minuten. Wieder einmal verfluchte sie die Erfindung, die die Reisen in die Vergangenheit möglich machte. An sich war das ja eine praktische Angelegenheit, die jedoch drei klitzekleine Fehler hatte, welche Rebecca jedes Mal wieder fast zur Weißglut trieben. Und einer dieser Fehler war, dass man immer nur von dem Ort zurückreisen konnte, an dem man in der Vergangenheit gelandet war. Damit diese Aktionen niemand mitbekam, wurden immer Orte ausgewählt, die weitab von irgendwelchen menschlichen Ansiedlungen waren. Und in Rebeccas Fall bedeutete das einen sehr anstrengenden Dauerlauf durch ziemlich dichtes Unterholz, mit einer unberechenbaren Meute samt scharfen Hunden im Nacken.
Ein leises Sirren zu ihrer Linken ließ sie einen Ausfallschritt in die andere Richtung machen. Und das keinen Augenblick zu früh, denn neben ihr sauste ein Pfeil durch die Luft und suchte sich eine Eiche als Ziel. Wer hätte das gedacht, murmelte Rebecca und riskierte einen schnellen Blick zurück. Mehrere Pfeile flogen in ihre Richtung. Diese Bauerntölpel können sogar mit Pfeil und Bogen schießen.
Vor sich machte Rebecca eine Baumgruppe aus, die ihr bekannt vorkam. Ja, genau, das waren die Bäume, an denen sie in diese Zeit gekommen war. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
Mit dem Versuch eines ebenso breiten wie erleichterten Grinsens, das wegen leichten Atemschwierigkeiten nicht so leicht zu bewältigen war, holte sie ihr Medallion hervor. Sieben Minuten. Das würde reichen. Es musste einfach reichen. Sie drückte auf die einzige Taste die nicht in schwarz gehalten war, sondern mit einem grellroten Farbton aus dem anderen herausstach. Hinter sich hörte sie das vertraute Summen, als sich das kleine Schwarze Loch aufbaute, das ihr den Rückweg ermöglichen würde.
Aufmerksam sah sie sich um. Die Dorfbewohner hatten anscheinend ihre Jagd aufgegeben. Zumindest kamen sie nicht mehr näher, sondern kauerten hinter Bäumen und Büschen. Für sie war das Schwarze Loch sicherlich so etwas wie ein Tor zur Hölle. Ein schwarzer Kreis, abgrundtief und ohne sichtbares Ende. Im Moment hatte sie nichts von ihnen zu befürchten. Angst konnte sehr nützlich sein.
Sie holte die goldene Truhe aus dem Sack, kniete sich vor sie auf den Boden und öffnete die beiden Scharniere. Achtsam, um nichts zu beschädigen, hob sie den Deckel hoch. In der Truhe lag inmitten der Gebeine des Heiligen Paulus, falls diese überhaupt echt waren, ohne jede Sicherheitsvorkehrung, der graue Metallzylinder, wegen dem sie all diese Gefahren auf sich genommen hatte. Vorsichtig nahm sie den länglichen Gegenstand heraus und ließ den Deckel der Truhe wieder zufallen. Man konnte ihr vieles nachsagen, aber ein Dieb war sie mit Sicherheit nicht. Sie nahm nur an sich, was ihr gehörte. Ihr oder ihrer Firma.
Sie wollte gerade aufstehen, als sie eine Bewegung schräg rechts von sich bemerkte. Doch es war zu spät. Ein Bauernjunge kauerte dort neben einem Baum, den Bogen in seiner Hand mit aller Kraft gespannt. Er ließ den Pfeil los. Der flog durch die kalte Nachtluft, bahnte sich seinen Weg durch die Stämme der Bäume, und traf die vermeintliche Hexe in die rechte Schulter.
Von dem Aufprall des Pfeil herumgerissen, fiel sie nach hinten, doch bevor sie mit dem Rücken auf dem Boden aufprallte, wurde sie von dem Sog erfasst und sie wurde förmlich angesaugt, mitten in das Schwarze Loch hinein. Dabei wurde sie so gedreht, dass sie den Jungen erkennen konnte, der neben den Baum getreten war, und warf ihm einen erstaunten Blick zu. So etwas war noch niemandem gelungen, sie fast aufzuhalten, und der Junge wusste gar nicht, wie groß ihre Anerkennung für ihn war. Sie schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln. Es war das letzte, was jemals in dieser Zeit von Rebecca gesehen wurde. Dann verschwand sie in dem dunklen Kreis, und Sekundenbruchteile später fiel das Schwarze Loch mit einem lauten Knall in sich zusammen.
So Ich weiß, ein ungewöhnlicher Einstieg für PotC
Aber ihr seid trotzdem immer sehr herzlich zu einem Review eingeladen g
