Es kann sein, dass ich mich nicht an alle Vorgaben gehalten habe - zum Beispiel kann es gut sein, dass irgendwo steht, dass Finnick niemals Mentor war, aber trotzdem hoffe ich, die Geschichte gefällt euch!
Die Spiele mögen beginnen
"Annie Cresta!"
Totenstille breitete sich auf dem Platz aus. Finnick Odair sah ungläubig zu Ramona Lively hinüber, die jedes Jahr aus der Kapitol kam, um die Tribute aus dem großen Glas zu ziehen. Das Vertrauen der Regierung ging nicht so weit, dass man zwei Mentoren aus Distrikt 4 wählte, um die Tribute auf die Spiele vorzubereiten.
Ramona lächelte für die Kameras. Finnick riss ihr den Zettel mit dem Namen des weiblichen Tributs aus der Hand. Dort stand schwarz auf weiß 'Annie Cresta'.
Sein Blick wanderte von dem Stück Papier zu der Menge. Ein Mädchen mit braunen Locken kam mit unsicheren Schritten zur Tribüne. Finnick hatte sie vor einigen Monaten schon einmal gesehen.
Es war zwar gegen die Regeln, aber alle infrage kommenden Jugendlichen aus dem Distrikt 4 wurden in einer Art Vorauswahl zusammengerufen. Sieger aus den vergangenen Spielen suchten dann die Fähigsten unter ihnen aus. Es gab Eltern, die Geld dafür zahlten, dass ihre Kinder bei den Spielen teilnahmen. Es war schon eine große Ehre nur dabei zu sein. Aber wenn man als Sieger zurückkehrte, war es mit viel Prestige und Geld verbunden.
Und noch einigem mehr, von dem niemand im Distrikt etwas wusste, außer den Siegern. Finnick sah mit zusammengekniffenen Augen zum Bürgermeister. Aber der sah genauso verblüfft aus. Sein Blick wanderte zu den Mädchen, die im ernte-fähigen Alter waren. Keine meldete sich freiwillig. Das war seltsam. Normalerweise meldete sich einer von ihnen, wenn doch einmal der Name eines Aussortierten gezogen wurde. Aber die Mädchen starrten alle verkniffen vor sich auf die Erde.
Was ging hier vor?
Die Menge wurde unruhig, als Annie Cresta auf die Tribüne trat. Sie war schlank, fast dürr und man konnte sehen, dass sie nicht sehr robust war. Pfiffe erklangen.
Finnicks Blick wanderte über die Menge. Überall nur erboste Blicke. Ramona schüttelte dem blassen Mädchen die Hand und gratulierte ihr. Sie hatte ein hübsches, offenes Gesicht. Aber das würde ihr in der Arena nicht viel bringen. Sie war schon so gut wie tot.
Ramona schob das Mädchen in seine Richtung. Brav setzte er sein charmantes Lächeln auf. Er reichte ihr seine Hand. Ihre Finger waren eiskalt. Schnell ließ er ihre Hand wieder los. Bewusst blickte er ihr nicht in die Augen. Er schob sie neben sich und wartete darauf, dass Ramona mit viel Theatralik den männlichen Tribut ziehen würde.
"Duncan Lober!" hörte er Ramona sagen. Wenigstens war Duncan auf der Liste gewesen. Der kräftige Junge kam mit ausholenden Schritten auf die Tribüne zu, hob die Arme in Siegerpose.
Gleich war die Prozedur vorbei und Finnick konnte es kaum erwarten, einige Antworten einzufordern.
"Was war da draußen los?" Finnick hatte ein Glas Whiskey in der Hand und schaute den Bürgermeister wütend an. „Wieso ist dieses Mädchen gezogen worden? Warum hat sich keines der ausgewählten Mädchen gemeldet? Was soll das?"
Der Bürgermeister rutschte auf seinem Stuhl nach links und sah Hilfe suchend zu Mag und Jannis, den zwei älteren Siegern, die in den letzten Jahren für die Tribute zuständig waren. Als klar wurde, dass die beiden nichts sagen würden, wandte er sich wieder an Finnick. „Du bist noch neu in der Geschichte. Das passiert öfter. Wohlgemerkt nicht so oft, wie in anderen Distrikten. Zumindest habe ich das gehört."
Finnick sah nun selbst zu seiner alten Mentorin und Jannis hinüber. Der Bürgermeister gab nur politische Sätze von sich, die keinerlei Sinn ergaben.
Mag seufzte. „Sie ist die Tochter von Jim Cresta." Als sie an Finnicks Gesichtsausdruck sah, dass ihm das nichts sagte, erklärte sie weiter: „Cresta hat Anfang des Jahres gegen die festgelegten Fangquoten und Preise protestiert."
Finnick warf sich in den nächsten Sessel. Er spürte die Wut in ihm aufflackern, die Hilflosigkeit gegen die Willkür des Kapitols.
„Flicker, der Chef der Friedenswächter hat jedem, der sich freiwillig meldet gedroht. Er brauchte nicht einmal deutlich zu werden."
„Das Mädchen ist doch schon so gut wie tot! Sie hat die eine Woche Grundtraining nicht durchgehalten. Sie war eine der Ersten, die wir aussortiert haben! Wieso wussten wir das nicht? Wir hätten sie dabei lassen können und sie trainieren können, damit sie wenigstens einen Hauch einer Chance hätte!"
Es war Finnicks erstes Jahr als Mentor und er hasste es jetzt schon.
In diesem Moment betrat Ramona den Raum. „Ich finde, wir haben dieses Jahr ganz sicher einen Sieger dabei. Ich habe das im Gefühl!" Fröhlich plapperte sie weiter. Aber nur der Bürgermeister antwortete ihr.
Finnick kannte Ramona seit Jahren. Sie hatte ihn damals schon in das Kapitol begleitet und war auch auf der Siegertour dabei gewesen. Mit vierzehn hatte sie ihn sehr beeindruckt mit ihrem weltmännischen Gehabe und dem Kapitol-Akzent. Aber nach drei Jahren im Dienste von Präsident Snow konnte ihn wenig beeindrucken. Snow persönlich hatte ihn als Mentor für den Distrikt 4 eingesetzt. Finnick Odair würde ständig im Fernsehen zu sehen sein, mit den wichtigen Personen des Kapitols zusammen, um Werbung für seine Schützlinge zu machen. Und damit machte er Werbung in eigener Sache, denn er wäre gefragter denn je. Das passte Snow sicher gut in seine Pläne. Nicht, dass man Finnick im Kapitol vergaß!
„Finnick, wir müssen los!" Ramonas Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Mit Schwung leerte er sein Glas und stand auf. Mag stand ebenfalls auf und trat an ihn heran. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Finn, du kannst sie nicht beide wieder mitbringen. Hänge nicht dein Herz daran!" Finnick sah seiner Mentorin in die Augen. „Hast du dich je an diesen Rat gehalten?" Mag wich seinem Blick aus und seufzte. „Nein. Aber es wäre sicher besser gewesen!"
Die Tribute des Distrikts 4 reisten mit einem Schiff zum Kapitol. Normalerweise sah man in den Häfen von Distrikt 4 nur kleine Fischerboote, vereinzelt große Fischereischiffe, kleinen Fabriken ähnlich, wo der Fisch sofort eingefroren wurde. Die meisten Männer des Distrikts fuhren zur See. Die Seemänner erzählten wilde Geschichten von fremden Küsten, an denen es Menschen gab, deren Leben eine endlose Aneinanderreihung von Hungerspielen war. Aber kaum einer glaubte dem Seemannsgarn. Sie erzählten auch von Inseln mit wunderschönen Frauen und großzügigen Männern. Das war fast noch unglaublicher.
Finnick sah zu dem Schiff auf, mit dem er selbst damals zu seinen Spielen gefahren war. Es war weiß und hatte eine goldene Reling. Segel bauschten sich im Wind. Das Boot war ein Luftkissenboot in Form einer alten Segelyacht – die Segel nur zur Show, gebraucht wurden sie nicht. Der Eindruck der entstand war atemberaubend – das Schiff glitt fast lautlos über die Wellen, erhaben, wie die Barke eines Gottes. Finnick hatte sich immer vorgestellt, dass so die Götter auf der Erde reisen würden, um gnadenlos alle Menschen zu vernichten. Lautlos, schön und tödlich – das gefiel Snow. Finnick lief ein kalter Schauer den Rücken hinab.
Ramona trat neben ihn. „Es ist immer wieder beeindruckend, nicht wahr?" Finnick nickte, ohne seinen Blick vom Bug der Yacht zu nehmen. „Die zwei sollten gleich da sein. Möchtest du hier warten oder schon an Bord gehen?"
Finnick wollte dieses wunderschöne Boot nie wieder betreten. Es brachte sie alle nur zu weiterem Schlachten und Morden. Er schluckte. „Ich warte hier." Ramona nickte.
Schritte waren hinter ihnen zu hören. Finnick drehte sich um und sah eine Gruppe von Friedenswächtern auf sie zukommen. In ihrer Mitte rieb Annie sich ihre roten Augen und Duncan sah verloren aus.
Finnick bekam keine Luft mehr. Die Verantwortung erdrückte ihn. Und er konnte nicht gewinnen. Nur einer der beiden würde zurückkehren, wenn überhaupt. Sein Magen krampfte sich zusammen und Speichel sammelte sich in seinem Mund.
„Nun, dann können wir ja alle gemeinsam an Bord gehen!", verkündete Ramona laut und fröhlich. Finnick wusste nicht, ob sie so oberflächlich, so dumm oder zu gutherzig war, um das Drama der Situation zu verstehen. Es war ihm nur zuwider.
Die Friedenswächter waren mit den Tributen an der Gangway angekommen. Annie straffte ihre Schultern und betrat als Erste die Planke. Finnick konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, aber ihre Körperhaltung war entschlossen.
Er musste sich zusammenreißen. Ihm würde nichts passieren, also konnte er für die zwei jungen Tribute zumindest gute Miene zum bösen Spiel machen.
Das Boot glitt seit über einer Stunde über das Meer. Sie würden bei Sonnenuntergang die Flussmündung erreichen, die sie zum Kapitol brachte. Sie hatten sich alle mit ihren Räumen vertraut gemacht und saßen nun in einer Art Wohnzimmer.
„Wieso ist Annie hier?" platzte Duncan heraus. Ramona zuckte zusammen. „Sie wurde gezogen, mein Junge!"
Duncan beachtete sie nicht, sondern sah Finnick herausfordernd an.
„Mein Vater hat die Regierung verärgert. Darum bin ich hier!", erklärte Annie mit fester Stimme. Duncan drehte sich bestürzt zu ihr um. „Das glaube ich nicht!" Annie musterte ihn kalt. „Was glaubst du nicht? Glaubst du etwa, ich bin hier, weil ich jemanden bestochen habe? Untrainiert, wie ich bin? Ich bin rausgeflogen nach den ersten Tests. Glaubst du wirklich, jemand ist so dämlich, sich dann trotzdem zu den Spielen zu schmuggeln?" Duncan sah sie unsicher an. Dann reckte er das Kinn. „Vielleicht hast du dich bei den Tests absichtlich dumm angestellt. Wenn du das Training mitgemacht hättest, hättest du dich gegen die anderen durchsetzen müssen, aber wenn du durch Bestechung gezogen wurdest, ist das eine sichere Sache!"
Annie sah ihn ungläubig an. „Du bist ein Vollidiot! Wer meldet sich schon freiwillig zu seiner eigenen Hinrichtung?" Duncans Blick war kalt. „Ich sehe es als Privileg an, für unseren Distrikt anzutreten. Und ich habe nicht vor mich hinrichten zu lassen!"
Annie öffnete den Mund, um Duncan vermutlich noch mehr zu reizen, aber das ging Finnick zu weit. „Hebt euch das für die Arena auf! Duncan, es ist egal, wieso Annie hier ist. Sie ist es und sie bleibt es. Wenn ihr getrennt voneinander gecoacht werden wollt, dann müsst ihr mir das nur sagen und ihr zwei müsst euch nicht in die Quere kommen."
Duncan blickte von Annie zu Finnick. „Ich will alleine gecoacht werden!" Von Annie war nur ein lautes Schnauben zu hören. „Gut, dann werde ich mich getrennt um euch kümmern."
Finnick holte zwei schmale Hefter hervor. „Ich habe von den Trainern die Unterlagen über Duncan erhalten. Wie ich sehe, hast du dir auch schon ein Image für das Publikum zurechtgelegt. Das ist prima!" Er legte den einen Hefter zur Seite. Der zweite war erheblich dünner. Sein Blick wanderte zu Annie, die mit verschränkten Armen steif in einem der Sessel saß. Sie war immer noch aufgebracht wegen Duncan. „Über dich habe ich kaum Informationen und wir müssen uns bis kurz vor dem Interview etwas ausdenken, wie du dich verkaufen möchtest."
Unsicher sah sie auf den Hefter, endschränkte ihre Arme und zuckte mit den Achseln. „Wozu die Mühe machen?" Finnick sah sie nur kurz an, dann wandte er sich wieder Duncan zu. „Ihr werdet die nächsten Tage trainiert – dieses Mal offiziell. Es gibt Überlebenstraining und Waffentraining. Zeige den anderen erst einmal nicht zu viel, von dem, was du kannst. Du willst ihnen nicht gleich alle Stärken und Schwächen zeigen, die sie dann in der Arena nutzen können. Aber gib' ruhig an. Die sollen schon merken, dass sie es mit einem Sieger zu tun haben!" Duncan nickte ernst. Das alles hatten ihn seine Trainer im Auswahlcamp schon erklärt.
Seufzend wandte Finnick sich wieder an Annie. „Du musst zusehen, dass du so viel, wie möglich lernst. Am besten konzentrierst du dich auf die Überlebenstricks. Feuer machen, Wasser finden, Fallen stellen, solche Dinge. Kannst du mit irgendeiner Waffe besser umgehen?" Annie sah ihn an, als habe er zwei Köpfe. „Mit den Waffen einer Frau?"
Finnick wurde langsam wütend. „Das ist kein Witz! Du wirst in einigen Tagen in der Arena sein und um dein Leben kämpfen!" Annie begann zu lachen. Finnick stand auf, mit wenigen Schritten thronte er über Annie. „Hör zu, Annie. In dieser Arena werden Tribute aus allen Distrikten kämpfen und außer unserem, trainieren nur 1 und 2 noch ihre Tribute. Du hast also genauso viele Chancen wie 4/5 aller Tribute! Ich will, dass du das ernst nimmst und es den anderen nicht zu leicht machst! Kämpfe da draußen!"
Annie war verstummt und sah ihn aus großen Augen an. Finnick hoffte, dass er sie aus ihrem Selbstmitleid gerissen hatte. Es musste ein Schock sein, so unerwartet gelost zu werden. Aber so ging es fast allen Tributen und Annie musste sich das nur klar machen.
Er drehte sich um und erklärte in den Raum hinein: „Lasst uns sehen, wer in den anderen Distrikten gezogen wurde!" damit lief er zum Bildschirm und schaltete ihn ein.
Finnick trat in die Räume von Annie. Die Ankunft im Kapitol war recht ereignislos verlaufen und die letzten Stunden hatten die Beauty-Crews Annie und Duncan behandelt, während Finnicks persönlicher Stylist sich um ihn gekümmert hatte. Er hätte gerne darauf verzichtet, aber der Stylist war ein 'Geschenk' des Präsidenten und das lehnte man nicht ab.
Jetzt wurde die Zeit knapp. Die Parade würde in weniger als einer Stunde beginnen. Duncan war schon auf dem Weg nach unten zu den Wagen. Aber Annie war nicht zur verabredeten Zeit in ihrem Aufenthaltsraum aufgetaucht.
Statt dessen stand sie in der Mitte des Raumes und sah zweifelnd auf ihr Spiegelbild. Ihr Blick traf den von Finnick im Spiegel. Man hatte ihre Augen betont und ihre Wangen mit weichen wellenartigen Mustern in Blau-Grün-Tönen bemalt. Sie trug ein Art Meerjungfrauenkostüm. Über ihren kleinen Brüsten klebten Schalen in der Form von Muscheln. Ihren Bauch zierten die gleichen Wirbel, wie ihr Gesicht. Eine Schleppe in Form eines Fischschwanzes war hinter ihr drapiert und nur durch einen dünnen Gürtel an ihrer Hüfte befestigt. Unterhalb dieses Gürtels befand sich eine dritte Muschel. Finnick hob eine Augenbraue und zwinkerte Annie im Spiegel zu.
Trotz der Schminke konnte er erkennen, wie Röte in ihre Wangen schoss. Finnick hatte schon lange keine Frau mehr erlebt, die errötete. Es sah bezaubernd aus, wie sie fast nackt ihre Augen niederschlug.
Er räusperte sich. „Du wirst alle betören, meine Liebe!" erklärte er in seiner professionellen Honigstimme. Wenn möglich wurde Annie noch eine Spur roter.
„Hach, ich hoffe, die Menge sieht das auch so. Ich hatte auf ein Mädchen mit etwas mehr ..." Lucia, die Designerin des Kostüms malte eine üppige Figur in die Luft. Annies Schultern sackten nach unten. Finnick trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Nein, mehr sähe nur billig aus! Du siehst bezaubernd aus, Annie!" Annie sah ihn dankbar an. Er konnte sehen, wie eine Gänsehaut ihre Arme überzog. „Lucia, hast du bis unten einen Mantel für Annie? Sie muss sich ja nicht jetzt schon eine Lungenentzündung holen!" Seine Hände glitten an Annies Armen entlang bis zu ihren Ellbogen, dann ließ er sie los.
Einer von Lucias Handlangern eilte davon und kam mit einem Umhang zurück. Es war eindeutig, dass der Umhang zum Kostüm gehörte und keine Wärme spenden würde. Er bestand aus einem goldenen Fischernetz, in dem einige Meeresbewohner eingearbeitet waren. Finnick verdrehte die Augen und zog seine Jacke aus. „Hier, bis unten sollte es dich warmhalten."
Er wandte sich zur Tür und hielt sie auf. „Wir müssen jetzt los!", erklärte er. Lucia begutachtete skeptisch, wie Annie die Jacke über ihr Kostüm zog. Dann wandte sie sich an eines der Mädchen und bellte ihr zu, die Farben mit nach unten zu nehmen.
Als Annie den ersten Schritt machte, verzog sie das Gesicht. „Ist alles in Ordnung?" Finnick musterte sie fragend. „Sie haben mir ein Pflaster über einen Leberfleck an der Hüfte geklebt, weil Leberflecken nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und nicht genug Zeit war, ihn zu entfernen. Das Pflaster ziept, wenn ich mich bewege." Finnick trat näher und suchte nach dem Pflaster. Knapp über dem schmalen Gürtel des Fischschwanzes erkannte er es. Ohne lange zu überlegen, griff er danach und zog es mit einem Ruck ab. Annie zischte überrascht. Unter dem Pflaster kam ein daumennagelgroßer Fleck zum Vorschein. Er hatte dir Form einer langgezogenen Insel. Vorsicht strich Finnick mit dem Finger darüber. Wie aus weiter Ferne hörte er Annie laut einatmen. Er hatte keine Frau mit einem solchen ‚Makel' gesehen, außer seiner Mutter. Die Kapitolfrauen ließen solche Dinge zusammen mit Falten und Narben entfernen. Glatte Haut in obskuren Farben war der letzte Schrei. Aber Finnick fand diesen Makel erstaunlich schön.
„Mr. Odair! Was haben Sie gemacht? Das können wir jetzt nicht mehr reparieren!" Lucia stand entsetzt neben ihm.
Lächelnd sah er auf. „Lassen Sie es! Ein kleiner Makel betont ihre Schönheit nur noch!" Damit wandte er sich endgültig zur Tür und verließ vor allen anderen den Raum.
Erst an den Paradewagen trafen sie auf Duncan. Ihn hatte man ebenfalls mit einer Fischschwanzschleppe ausgestattet. Allerdings trug er nur eine Muschel. Der Rest seines Körpers war mit den blaugrünen Wirbeln verziert. Er grinste Finnick an. „Die Mädels werden darauf abfahren!" Er begann, mit seinen Muskeln zu spielen. Duncan war ein hübscher Junge mit blonden Haaren und blauen Augen. Die blaue Farbe der Wirbel brachte seine Augen mehr zur Geltung.
Annie trat zu ihm. Nebeneinander bildeten sie ein schönes Paar. So kraftstrotzend Duncan war, so zierlich war Annie. Sie reichte ihm seine Jacke. „Danke!"
Duncan musterte Annie kurz von Kopf bis Fuß, sah Finnick verkniffen an, dann kletterte er wortlos auf den Wagen. Annie folgte ihm. Finnick sah, wie Duncan sich zu dem zierlichen Mädchen beugte und ihr etwas in das Ohr flüsterte. Annie verzog das Gesicht zu einem ironischen Grinsen. Dabei trafen sich ihre Blicke. Ruckartig wandte Finnick sich ab.
„Der Zirkus kann beginnen!" Opal, die Mentorin aus dem Distrikt 1 stand plötzlich neben ihm und besah sich die Wagenreihe. „Da habt ihr dieses Jahr aber eine kleine Prinzessin. Was kann sie? Die anderen zu Tode rühren?" Finnick sah zu Opal hinüber. Sie war Mitte vierzig und war schon seit Jahren Mentorin. „Du wirst auch nur einen wieder mit nach Hause nehmen können!" erklärte er ruhig.
Opal musterte Annie noch einmal. „Hmm, so habe ich das noch nie gesehen. Wenn man von vorneherein ein Bauernopfer mitbringt, muss man sich von vorneherein nur auf einen konzentrieren. Vielleicht sollten wir das nächstes Jahr auch probieren." Sie grinste ihn noch einmal kalt an, dann schritt sie zum nächsten Wagen.
Finnick verstand nicht, wie Opal es immer noch als Spiel ansehen konnte.
Kopfschüttelnd begab er sich zu der Limousine, die ihn zur Tribüne bringen würde. Alle Mentoren saßen auf der Tribüne unterhalb des Präsidenten-Balkons, um den Umzug genießen zu können.
Finnick suchte auf der Tribüne nach seinem Platz, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Er drehte sich um und sah sich einem Mann im dunklen Anzug gegenüber. „Präsident Snow würde sich freuen, wenn sie ein wenig Zeit erübrigen würden, Mr. Odair!"
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte der Mann sich um und lief zielstrebig zu einem abgetrennten Bereich, in dem der Präsident Hof hielt. Finnick strich sich durch seine Haare, dann straffte er die Schultern. Mit einem unguten Gefühl folgte er dem Mann.
Sobald er in die Nähe des Präsidenten kam, nahm er dessen süßes Aroma wahr. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte Finnick gelernt, Rosen zu hassen.
„Ah, Finnick! Wie schön, dass sie sich Zeit genommen haben!" Finnick setzte sein berühmtes Lächeln auf.
Snow streckte ihm die Hand entgegen und schüttelte sie. Dabei ließ er seinen Blick über den jungen Mentor wandern. Finnick hatte das Gefühl den Blick, wie eine schleimige Schnecke über seine Haut gleiten zu spüren.
„Die Investitionen in Sie haben sich wirklich gelohnt!" Finnick zuckte zusammen. Sie hatten ihm genau zwei Jahre Freiheit nach seinem Sieg gegönnt. Dann waren die Ärzte über ihn hergefallen. Er hatte Hormone erhalten, die seinen Muskelwachstum unterstützen. Außerdem hatte man alle Leberflecken und Narben von seiner Haut entfernt und seinen Mund etwas voller gestaltet. Nun war er das Idealbild eines Mannes. Zumindest nach dem verschrobenen Bild der Kapitolbewohner. Snow musterte ihn noch einen Moment, dann warf er einen Blick in die Runde. „Ich möchte, dass Sie ihre Aufmerksamkeit in den nächsten Tagen auf Marjorie Lavelle richten." Er nickte unauffällig in die Richtung einer Frau mit lila Haaren. Sie war gut aussehend, auf diese eigene Kapitol-Art. Wahrscheinlich war das meiste an ihrem Körper nicht mehr im Originalzustand. „Sollte ich etwas über sie wissen?" Snow musterte ihn, wie Ungeziefer. „Nein." Damit nickte er ihm noch einmal zu und lief zu einem Mann, der einige Meter entfernt auf den Präsidenten wartete.
Finnick sah zu der Frau hinüber. In Gedanken rieb er sich über die Stirn. Er musste sich jetzt auf die Spiele konzentrieren und konnte sich keine Ablenkung leisten. Vielleicht konnte er die Aufgabe von Snow ja vor dem Beginn der Spiele erledigen. Dann könnte er sich ganz auf Duncan und Annie konzentrieren.
Er holte tief Luft und trat auf die Frau zu. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Sein Lächeln zeigte sofort Wirkung. Unbeeindruckt blieb er so dicht vor ihr stehen, dass sie sich fast berührten. „Welche wunderbare exotische Blume haben wir denn hier?" Seine Stimme klang honigsüßen. Der Blick der Frau wurde glasig. „Marjorie Lavelle.", sagte sie leise und blickte gespielt schüchtern nach unten. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. Dabei sah er, dass der Puls an ihrer Halsbeuge raste.
„Und, Marjorie Lavelle, sind Sie heute Abend mit Begleitung hier?" Marjories Blick hing an seinen Lippen. „Mein Mann ist auch noch da." Innerlich fluchend setzte Finnick ein schmollendes Gesicht auf. „Wie schade. Ich hätte Sie gerne … besser kennen gelernt." Sie sah ihn aus großen Augen gierig an.
„Vielleicht ein anderes Mal?" fragte Finnick. Normalerweise ging er nicht so plump vor, aber er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Marjorie schluckte. „Vielleicht morgen?" Er zog eine Augenbraue fragend nach oben. „Und wo sollten wir uns morgen treffen?", fragte er leise. Sie schluckte noch einmal. „Im 'District 17' um zehn Uhr abends?" stieß sie hervor.
Finnick nickte und lehnte sich zu ihrem Ohr. „Ich freue mich schon, Marjorie Lavelle!" Er konnte die Gänsehaut sehen, die sich auf ihrem Hals ausbreitete. Zufrieden lehnte er sich zurück, lies ihr Kinn los, grinste sie noch einmal an und drehte sich dann um. Angewidert suchte er nach seinem Platz.
Ramona saß bereits auf ihrem und winkte ihn heran. Kritisch musterte sie ihn. „Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt für eine deiner Eskapaden, Finnick?" Er grinste sie nur an und zuckte mit den Achseln. Ramona seufzte und wandte sich wieder dem Programm in ihrer Hand zu.
Finnick ließ sich nieder. Auf dem leeren Stuhl neben ihm lag ein weiteres Programm. Nach der Parade würde es eine Party im Präsidentenpalast geben. Und noch etliche andere in der Stadt verteilt. Die letzten drei Jahre hatte Finnick sich dort vergnügen dürfen, nachdem man ihm nach der Siegestour ein Jahr Ruhe gegönnt hatte. Zumindest war das die offizielle Version. Inoffiziell hatte er ein ganz eigenes Trainingsprogramm durchlaufen. Nach diesem Training war er der gerngesehene Gast auf jeder Party im Kapitol. Immer auf der Suche nach den schönen Frauen der Stadt- oder zumindest den Frauen, die Snow aussuchte. Er wunderte sich nicht, dass Snow ihm ohne Rücksicht auf seine Aufgabe als Mentor eine weitere Aufgabe übertrug.
Die Hymne wurde gespielt und auf den großen Bildschirmen vor ihnen erschien der erste Wagen, der den Korso anführte. Dabei dröhnte Cesar Flickermans Stimme die Namen der Tribute und einige Information zu ihnen über den Platz.
Die Tribute von Distrikt 1 waren beide 17 und sahen aus, als könnten sie Menschen mit dem bloßen Händen töten. Die aus Distrikt 2 sahen aus, als hätten sie es schon mehrmals getan. Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 3 waren immer in der Elitegruppe. Sie trainierten von jungen Jahren an für die Spiele und waren motivierter. Man könnte es auch kaltherziger nennen, dachte Finnick. Sie waren trainiert, zu töten. Gewann einmal ein Tribut aus einem anderen Distrikt, dann meist dadurch, dass er alle anderen austricksen konnte.
Dann kamen Annie und Duncan. Finnick hörte ein Raunen in der Menge. Es war kein positives Geräusch. Annie sah aus, als käme sie aus 12 oder 11. Sie entsprach nicht den Erwartungen der Menge.
Finnick rieb sich wieder über die Stirn. Langsam breiteten sich Kopfschmerzen hinter seiner Nasenwurzel aus. Er würde sicher nicht viel Geld für sie eintreiben können und dann hatte er auch noch Marjorie am Hals.
Der Rest der Parade lief an ihm vorbei, aber keiner der Tribute stach hervor. In den albernen Kostümen konnte man auch wirklich nichts erkennen, was auf den Überlebensinstinkt der Einzelnen schließen ließ.
Mit Ramona fuhr er zurück zu ihren Quartieren. Sie trafen Annie und Duncan im Esszimmer. Die zwei hatten sich bereits umgezogen und geduscht. Ramona plapperte fröhlich, wie hübsch die zwei ausgesehen hätten und wie viel Eindruck sie gemacht hatten. Finnick versuchte, sie auszublenden. Er sah, wie Annie ihr Essen auf dem Teller hin und her schob.
„Du solltest essen. In der Arena wirst du noch früh genug auf Essen verzichten müssen." Sie sah ihn erschrocken an. Finnick hatte nicht so wütend klingen wollen, es war einfach aus ihm herausgebrochen. Der Tag nagte an seiner Maskerade. Entschuldigend zuckte er mit den Achseln. „Tut mir leid, aber ..." er zuckte erneut mit den Achseln. Sie sah ihn noch einen Moment wortlos an, dann schob sie sich die Gabel in den Mund.
Seufzend wandte Finnick sich wieder seinem Essen zu. Es verwandelte sich in Pappe, sobald es in seinem Mund war. Er versuchte nicht daran zu denken, aber jedes Mal, wenn Annie ihn ansah, wurde ihm bewusst, dass sie binnen der nächsten Tage sterben würde. Egal, was er ihr immer wieder erklärte. Jetzt, wo er die anderen Tribute gesehen hatte, war klar, dass alle außer denen aus 11 und 12 bessere Chancen als Annie Cresta hatten.
