Als wir von Fort Niobara zum Pueblo der Mescaleros zurückritten, wurde immer mehr deutlich, welche Wirkung der Tod Tujungas auf Winnetou hatte. Den wahren Zustand seiner Seele konnte jedoch auch ich, sein Blutsbruder, nicht ermessen. Er verbrachte jede Minute an der Bahre mit dem Leichnam Tujungas, in der Nacht errichtete er sein Lager dicht daneben. Tujungas Gesicht war von der Explosion nicht entstellt worden und so hatte ich Winnetou einmal dabei beobachten können, wie er vorsichtig, ja fast zärtlich darüber strich. Als sich jedoch Sam Hawkins näherte, zog er seine Hand blitzschnell zurück. Ich war in der Nähe verborgen, weil ich einen Auerhahn verfolgte, der sich ins Unterholz geflüchtet hatte. Wäre Winnetou nicht von der Trauer um Tujunga erfasst gewesen, hätte er mich unbedingt entdecken müssen.

Wäre, hätte...

Noch heute, in hohem Alter, mache ich mir Vorwürfe, auch wenn mir das Herzle gut zuredet. Ich hätte damals die Verfassung Winnetous besser erkennen müssen. Hatte ich sowenig auf meinen Reisen gelernt, dass ich meinen Blutsbruder so schlecht eingeschätzt hatte? Winnetou hatte mir nie seine innersten Geheimnisse verraten, seine Seele geöffnet, aber meistens konnte ich doch an seiner Mimik ablesen, wenn ihn etwas bedrückte, obwohl er jegliche Gefühlsregung geradezu panisch zu verbergen versuchte. Warum war er damals nicht eher zu mir gekommen? Hätten wir nicht gemeinsam den Schmerz überwinden können...?

Ich erinnere mich noch genau an jene Tage. Kaum waren wir im Pueblo angekommen, als Winnetou vom Pferd stieg, seinen Iltschi einem seiner Krieger übergab und verschwand. Wir übrigen wurden von einer jungen Frau empfangen, die uns freundlich begrüßte. Die anderen bewillkommten ihre zurückgekehrten Männer und standen denen bei, deren Angehörige wir auf Bahren, entweder tot oder verwundet, mit uns gebracht hatten.

Die junge Frau erstarrte, als ich sie zu Tujungas Leiche führte. „Wie ist das passiert?" fragte sie mit stockender Stimme. Ich erzählte es ihr. Sie veranlasste, dass der Leichnam des jungen Kriegers in Decken gehüllt und aufgebahrt wurde, um nach einer angemessenen Trauerzeit begraben zu werden. Danach stiegen wir gemeinsam zum Pueblo hinauf.

Als ich mich zur Wohnung Winnetous wandte, sprach sie mich an: „Wohin wollt Ihr, Old Shatterhand?" „Ich möchte nachsehen, ob Winnetou in seinen Räumen ist. Er war so schnell verschwunden." „Lasst ihn bitte alleine. Tujunga hat ihm sehr viel bedeutet. Wenn er es möchte, wird er euch ein Zeichen geben, dass er euch zu sehen wünscht," bat sie mich. Verwundert sah ich sie an. „Wer seid ihr und was wisst ihr von Winnetou und Tujunga?" „Hat Winnetou euch nichts erzählt?" „Nein, er hat nie mit mir über ihn gesprochen. Aber wer seid Ihr? Ich habe Euch hier im Pueblo bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren noch nicht gesehen."

„Ich stamme aus Mexiko. Ich war mit einer Botschaft von Juarez auf dem Weg zu Winnetou, als mich Banditen angriffen und verwundeten. Zum Glück war einer seiner Apatschen in der Nähe und kam mir zu Hilfe. Er brachte mich hierher und Winnetou pflegte mich gesund. Seitdem lebe ich hier. Tujunga kam etwas später auf einem ähnlichen Weg zu uns."

„Was geschah dann?" „Sagen wir es so… Nach einiger Zeit wurde Winnetous Stand als Häuptling schwieriger. Er musste immer mehr gegen einiger seiner Stammesbrüder ankämpfen, wenn es galt, Entscheidungen zu treffen." „Aber warum?" „Bitte lasst das Fragen, Old Shatterhand. Wenn Winnetou es für richtig hält, wird er es Euch selber erzählen."

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging. Ich starrte ihr hinterher. Was hatte Winnetou mir die ganze Zeit verheimlicht? Ich hatte zwar bemerkt, dass er seit unserem letzten Beisammensein vor gut drei Jahren noch ernster und zurückhaltender geworden war, aber den Grund hatte er mir weder offenbart noch hatte ich ihn irgendwie erahnen können.