Mein Name ist Ottilie Großmann und dies ist die Geschichte meines langgepflegten Geheimnisses. Eine Geschichte von Widersprüchen und Verwirrungen und von einem großen Glück.
Es begann im Januar 1940. Ich war damals gerade 25 Jahre alt und hatte das zweifelhafte Glück, früh geerbt zu haben. Meine Eltern starben zwei Jahre vorher bei einem Flugzeugabsturz und mir gehörte von da an eine Prachtvilla an der Hauptstraße mit 200 Quadratmetern Wohnfläche, einem kleinen Nutzgarten und eine winzige Buchhandlung, die sich im Erdgeschoß der Villa befand. Ich hatte viel Arbeit und schaffte es recht gut, über die Trauer hinwegzukommen, den Betrieb aufrecht zu halten und das Haus zu pflegen. Einen großen Anteil daran hatte Emilie.
Emilie Goldstein. Sie war schon bei meinen Eltern angestellt – als sie noch lebten – und ich sah damals keinen Grund sie zu entlassen. Im Gegenteil, sie war Gold wert. Ein Herz und sie arbeitete mich mehr oder weniger in mein eigenes Geschäft ein. Sie brachte mir die Buchhaltung bei und wie man auf einer Schreibmaschine blind schrieb. Den ganzen „geschäftlichen" Kram. Ich hatte mich vorher nur um die Bücher gekümmert und Kunden beraten. In dieser Zeit entstand eine Freundschaft, wie man sie nur selten im Leben erlebt. Vielleicht war auch die verrückte Zeit daran schuld…
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich bis zum November 1939 in keinster Weise für die politischen Umstände in Deutschland interessiert hatte. Noch nicht einmal für den Krieg. Ich hatte andere Sorgen. Bis zum 9. November 1939, als das große Schaufenster der Buchhandlung eingeworfen wurde. Es geschah in dieser Nacht, als auch die Synagoge in Brand gesteckt wurde. Da begann ich nachzudenken. Emilie Goldstein war Jüdin (es war kein Geheimnis in unserer Kleinstadt) und der Anschlag galt ihr, aber auch mir, weil ich sie beschäftigte. Als ich morgens früh den Schaden begutachtete, fasste ich einen Plan.
Einen teuflischen, verrückten und im Nachhinein auch selbstmörderischen Plan.
Im Dachgeschoß meiner Villa befand sich eine Rumpelkammer. Nein, falsch: das Dachgeschoß meiner Villa war eine einzige Rumpelkammer mit einem innenliegenden Zimmer. Dies richtete ich für Emilie her und musste sie fast zwingen, dort einzuziehen. Ich war ihr gewissermaßen etwas schuldig. Sie war dankbar und sprachlos vor Angst. Offiziell schrieb ich ein Kündigungsschreiben und eine Meldung zur Kammer und setzte ein Stellengesuch auf. Die Wochen vergingen. Emilie lebte tagsüber in der heimlichen Wohnung. Abends kam sie runter in meine Wohnung und wir redeten viel oder tranken einfach einen Tee. Sie verschwand von der Oberfläche und bald kamen die ersten Gerüchte auf: Sie sei tot. Sie sei nach Amerika geflohen. Sie säße im Gefängnis.
Manchmal lachten wir über diese Geschichten, manchmal weinte Emilie. Wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Wie lange sie so bei mir wohnen konnte. Aber zu dem Zeitpunkt fühlten wir uns recht sicher. Berta, meine Haushälterin, die zwei Mal in der Woche vorbei kam und ihr Mann Wilhelm, der mir ebenfalls zur Hand ging, hatten bis dato nichts von meiner „Untermieterin" bemerkt.
