Von Unfällen und Chancen

„Rokko! Gut, dass du noch da bist." – „Wieso denn ‚noch da'?", grummelte der gelockte junge Mann. „Naja, weil du doch normalerweise um diese Zeit schon arbeitest." – „Mama", nahm Rokko einen oberlehrerhaften Tonfall an. „Normalerweise, aber heute ist nicht normalerweise. Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, Journalisten bei Laune zu halten und Dinge, die die Welt nicht braucht, ins rechte Licht zu rücken. Eigentlich bin ich nur aufgestanden, um etwas zu essen – sonst weckt mich mein knurrender Magen noch einmal." – „Aber schlafen könntest du doch später auch noch, oder?", tastete Uta Kowalski sich langsam vor. „Ich könnte und so wie du guckst, werde ich das wohl müssen. Was ist denn, Mama?" – „Heute kommen die Plenskes." – „Wer?" – „Die Plenskes. Du weißt schon, wegen Machiavelli." – „Mutter, warum gibst du deinen Hunden eigentlich nie anständige Namen?", empörte Rokko sich. „Es ist nun einmal der M-Wurf und traditionellerweise müssen alle Hunde des M-Wurfes einen Namen haben, der mit M beginnt." – „Ja, aber Machiavelli? Warum nicht Mubarak? Mao? Oder Mengele?", zog Rokko seine Mutter auf. „Das wäre ja geschmacklos. Also, was ist nun? Nimmst du dir ein bisschen Zeit?" – „Das kommt darauf an, was genau ich mit Machiavelli und den Plenskes abzumachen habe." – „Eigentlich nicht viel. Machiavelli ist mit seiner Ausbildung zum Begleithund fertig, muss aber noch ein wenig mit seinem neuen Frauchen trainieren und darum sind die Plenskes für die nächsten Tage hier. Blöderweise habe ich einen Termin bei der Bank und da ich mich nicht teilen kann... Rokko, nun lass dich doch nicht so anbetteln." – „Plenske, he?", sinnierte Rokko. „An die kann ich mich gar nicht erinnern." – „Doch", widersprach Uta. „Das war doch wochenlang in allen Klatschblättern: Lisa Plenske, ihr gehört Kerima Moda. Sie ist von einem Hochhausdach gestürzt." – „Dass diese missglückten Selbstmörder nie ehrlich sein können", meckerte Rokko. „Sie hat nicht versucht, sich umzubringen. Sie ist bei einer Kostümparty von einer Dachterrasse gefallen, hat sich mehrere Rückenwirbel gebrochen, wochenlang sah es so aus, als würde sie es nicht schaffen. Sie hat wirklich gekämpft in der Reha und ist mit ihrem Rollstuhl nun ganz gut unterwegs." – „Verstehe und jetzt kriegt sie einen von Uta Kowalskis Superhunden." – „Die eigentliche Bezeichnung für meine Superhunde ist Behindertenbegleithund und auch wenn es immer so aussieht, als hätte ich nur Spaß mit den Retriever-Welpen, ist es doch viel Arbeit", wies Uta ihren Sohn zurecht. Sie fand es schade, dass ihr einziges Kind kein Interesse an der Hundezucht hatte. Wenn sie einmal in Rente ging, würde niemand ihre Aufgaben weiterführen. „Also, diese Plenskes kommen nachher, ich soll sie reinlassen und unterhalten, bis du von der Bank zurück bist, ja?" – „Genauso, mein Sohn." – „Gut, dann mache ich mich mal sozialverträglich zurecht und du machst, dass du wegkommst."

War die Strecke an die Nordsee beim letzten Mal auch schon so weit gewesen? Nachdenklich starrte Lisa aus dem Fenster und merkte gar nicht, wie Bernd über andere Verkehrsteilnehmer schimpfte. Sie freute sich schon sehr auf die Begegnung mit dem kleinen Machiavelli. Obwohl… so klein würde der blonde Hund gar nicht mehr sein. Mehrmals schon hatte sie ihn besucht und nun war es endlich soweit, dass er dauerhaft zu ihr nach Berlin ziehen würde. Das war immerhin die Bedingung ihrer Eltern gewesen. „Schnattchen, du willst ausziehen? So? In deinem Zustand?" Lisa wusste genau, dass ihr Vater es nicht so gemeint hatte, wie es geklungen hatte, aber verletzt hatte es sie trotzdem. Ja, sie war querschnittsgelähmt! Und das alles, weil sie Davids Kette hatte retten wollen. Gekleidet in eine Toga war sie von diesem Hochhaus gesegelt und hart auf einem einige Stockwerke darunter liegenden Balkon aufgeschlagen. Manchmal, wenn Erinnerungsbruchstücke sie einholten, sah sie Richards Gesicht vor sich: „Geben Sie mir Ihre Hand! Nun machen Sie schon!" Sein panischer Gesichtsausdruck, als ihre Hand aus seiner glitt. Besorgte Augenpaare um sie herum, als sie wieder erwachte: Helga, Bernd, Jürgen, Yvonne, sogar Richard, der mehr unter Schock gestanden hatte, als er zugeben wollte – nur das Augenpaar, das sie am liebsten gesehen hätte, war nicht da, keine schokobraunen Augen an ihrem Krankenbett, kein David. „Mama, ich kann meine Beine nicht spüren." – „Mäuschen, du bist ja wach. Du bist wieder bei uns." Dann panischer: „Ich kann meine Beine nicht spüren, Mama." – „Mäuschen, du darfst dich jetzt nicht aufregen. Du brauchst Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen." – „Mama, was ist los? Wieso kann ich meine Beine nicht spüren?" – „Zwei deiner Rückenwirbel sind zertrümmert", hatte Helga geschluchzt. „Die Ärzte hatten keine Wahl, sie mussten sie mit Metallplatten fixieren." – „Wie lange, Mama? Wie schlimm ist es?" – „Du wirst nie wieder laufen können, Mäuschen. Aber dein Rumpf hat fast keinen Schaden genommen." – „Du verfluchter Idiot! Ich kann doch nicht hellsehen. Blinken wäre da wirklich von Vorteil", riss Bernds aufgebrachte Stimme Lisa für einige Sekunden aus ihrer Erinnerung. „Du kannst nicht einfach ausziehen, Schnattchen. Ja, die Umbauarbeiten dauern noch, aber ich trage dich gerne die Treppe hoch und Mama hilft dir gerne beim Waschen!" – „Bernd, sie ist doch kein Kind mehr. Andere junge Frauen in ihrem Alter wohnen schon lange nicht mehr Zuhause. Wenn sie es doch will. Es gibt bestimmt Wohnprojekte für Menschen in ihrer Situation." – „Ich will nicht in ein Wohnprojekt. Ich will alleine wohnen. Ich habe eine sehr schöne Wohnung gefunden – komplett behindertengerecht und nicht weit von Kerima entfernt." – „Alleine? Ganz alleine?", war es gleichzeitig von Bernd und Helga gekommen. „Das geht nicht, Schnattchen. Alleine? Das lasse ich nicht zu." Nicht alleine war also die Bedingung. Wild entschlossen war Lisa mit ihrem Rollstuhl an ihren Schreibtisch heran gerollt, hatte ihren Laptop geöffnet und begonnen, zu recherchieren. Am Computer wurde ihr immer wieder schmerzlich bewusst, dass ihr Oberkörper doch nicht so unversehrt geblieben war, wie anfänglich angenommen. Ihre Finger waren verkrampft und so sehr sie sich auch bemühte, in der Physiotherapie hart daran arbeitete, sie konnte sie einfach nicht strecken. Wenn sie tippen wollte, musste sie sich eine Hilfe über die Hand streifen, eine Art Stift, der dann ihre Finger setzte. Wirklich lange hatte sie nicht recherchieren müssen, nur die richtige Zucht auszuwählen, war nicht so einfach gewesen. Auf Uta Kowalski war ihre Wahl dann gefallen, weil deren Homepage so liebevoll gestaltet war – und ehrlich, sehr ehrlich. Ohne überhaupt mit dieser Frau in Kontakt getreten zu sein, hatte Lisa schon damals den Eindruck gehabt, sie zu kennen. Ihr Mann hatte sie einige Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Rokko verlassen. Sie war an Brustkrebs erkrankt und ihr Mann hatte das einfach nicht ertragen können. Welche Stärke diese Frau gehabt haben muss, sich der Therapie zu stellen, die Krankheit zu besiegen und ihren Sohn alleine großzuziehen. Rokko, den hatte Lisa nur einmal von Weitem gesehen – bei einem ihrer ersten Besuche bei den Kowalskis, beim ersten Beschnuppern mit Machiavelli sozusagen. Rokko hatte einen guten Ruf als freier Werbefachmann, kümmerte sich aber hauptsächlich um seine Wunschagentur. Letztlich war Lisas Entscheidung auf die Kowalskis gefallen, weil sie so sein wollte wie Uta. Sie wollte alleine klar kommen, darüber hinwegkommen, dass David ihr seit ihrem Unfall weitestgehend aus dem Weg ging. Die Hoffnung darauf, dass er sie jemals lieben oder wenigstens als Frau wahrnehmen würde, war ja schon immer verschwindendgering gewesen, aber jetzt? Sie konnte es ihm ja nicht einmal verübeln – es gab Tage, an denen haderte sie sehr mit ihrem Schicksal, mochte sie selbst nicht. Und es gab Tage, da sprühte sie nur so vor Lebenslust, da verbrachte sie Stunden im Internet, schrieb Mails, chattete und knüpfte Kontakte. Sie war dann immer so versunken in ihre Tätigkeit, dass sie die Hilfe an ihren Händen gar nicht mehr wahrnahm, sie wie selbstverständlich benutzte, immer besser mit ihr umgehen konnte. Dann war alles so einfach. Und es würde noch einfacher werden, unabhängiger: Sie würde mit Machiavelli in ihre neue Wohnung ziehen, wieder mehr unternehmen…

„Schnattchen, komm, ich helfe dir", polterte Bernd und ehe Lisa sich versah, packte ihr Vater sie auch schon unter den Armen und wollte sie aus dem Auto zerren. „Papa, bitte", wehrte Lisa sich. „Ich kann das alleine. Halt einfach den Rollstuhl fest, den Rest kann ich alleine." – „Das wollte ich auch gerade vorschlagen", lachte eine Männerstimme hinter den Plenskes. „Rokko Kowalski", stellte er sich kurz vor. „Meine Mutter lässt sich entschuldigen. Sie kommt später. Ich bin also quasi Ihr Empfangskomitee." Während Bernd ihn musterte, ging Rokko auf Lisas Rollstuhl zu und hielt ihn fest, damit diese sich darauf abstützen und letztlich hineinziehen konnte. „Was halten Sie von einem Kaffee? Oder wollen Sie lieber gleich zu Machiavelli?", hielt Rokko das Gespräch am Laufen. „Kaffee", kam es von Helga und Bernd. „Machiavelli", hingegen von Lisa. „Puh, ein klassisches Dilemma", lachte Rokko. „Herr und Frau Plenske, Sie kennen sich ja ein bisschen aus bei uns. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann gehen Sie doch ruhig in die Küche. Die Kanne in der Maschine ist ganz frisch aufgebrüht. Ich gehe solange mit Lisa zu Machiavelli. Ich darf doch Lisa sagen, oder?", wandte er sich an die nun strahlende junge Frau. „Ja, gerne."