Lebendig: Eine Definition
Alle anderen Kinder hatten eine Mama, die lachen konnte.
Ich weiß nicht, wie meine aussehen würde, würde sie lachen. Fremd.
Früher, so sagten sie mir, hat sie viel gelacht. Aber die junge Frau auf den Fotos war für mich nie meine Mama, auch wenn sie glücklicher und lebendiger wirkte.
Meine Mama war die Frau, zu der ich fliehen konnte, wenn alles schief lief, die mich milde anschaute, und stets duldete, dass ich in ihrem Arm einschlief. Auch wenn ich dafür zu alt war, und auch wenn es sich nicht für einen Jungen gehörte. Von ihr habe ich so etwas nie gehört.
Sie hat mich nie verurteilt. Sie hat mich nie geschimpft. Sie war für mich die beste Mama der Welt.
Nur die anderen Kinder glaubten mir das nie.
Sie sagten so hässliche und grausame Dinge zu mir. Meine Mama würde mich nicht lieben. Schlimmer noch, meine Mama würde nicht einmal wissen, wer ich war.
Ich war stärker. Ich war wirklich stärker. Ich mochte so aussehen, als wäre ich ein schwacher, weinerlicher, kleiner Junge, aber ich wusste, dass sie mir und meiner Mama Unrecht taten.
Das sagte ich auch Großmutter. Großmutter antwortete mit einem mitleidigen Blick.
Dieser Blick machte mir sehr vieles klar. Ich weiß nicht, was mehr weh tat, die Wahrheit, oder die Tatsache, dass sie es war, die mir meine Illusionen nahm.
Ich hörte auf, den Kinder zu widersprechen. Ich besuchte meine Mama immer seltener im Krankenzimmer. Ich sprach weniger mit ihr und über sie. Ich schwieg einfach.
Ich schwieg sogar, als die Kinder mir sagten, da wäre nichts Lebendiges an ihr, auch wenn ihre Worte mir tief ins Herz schnitten, blieb ich stumm.
Und trotzdem, jedes Mal, wenn ich das Krankenzimmer betrat, suchten meine Augen nach etwas, das mir das Gegenteil beweisen würde.
Ich wurde so oft enttäuscht.
Aber ich konnte nicht aufhören, sie zu lieben. Ich konnte nicht aufhören, zu hoffen, zu träumen, mir zu wünschen, dass meine Illusionen doch irgendwie Wahrheit würden.
Als ich größer wurde, besuchte ich sie nur noch an ihren Geburtstagen und an Weihnachten. Die Gesichter der Patienten wechselten, die Gesichter der Krankenschwester wechselten, aber eines blieb immer gleich: Sie war still. Ihr Gesichtsausdruck war immer milde. Man hatte mir gesagt, sie kenne keine Gefühle mehr, keine Wut oder Angst, aber auch keinen Schmerz. Ich wagte nie zu fragen, ob sie lieben konnte.
Ich war acht oder neun, als ich ein neues Gesicht neben Mamas Bett sah. Patientin 388. Geistiges Alter: 5. Irreversibel.
Ich wusste nicht, was irreversibel hieß, aber ich wusste, was es hieß, in dieser Station zu liegen. Niemand wurde aus dieser Station entlassen.
Mama hatte gerade Geburtstag und ich brachte ihr Blumen. Kornblumen, blaue Kornblumen. Mein Lexikon sagt, sie symbolisieren Hoffnung.
Patientin 388 setzte sich zu uns. Sie zupfte eine Blume aus dem Strauß, und ich wollte sie gerade anfahren, sie solle das lassen, als sie sie in Mamas' Haar steckte. Sie lächelte, kindlich. "Warum sagt Alice nichts?"
Ich erinnerte mich, dass sie Schwierigkeiten hatte, Mamas' Namen auszusprechen.
"Da ist nichts Lebendiges an ihr.", sagte ich.
"Doch was ist mit der Blume?"
Drei Jahre später nannte Pomona Sprout den kleinen Neville Longbottom ihren besten Schüler. Er sollte seine Abschlussprüfungen in Herbologie mit Auszeichung bestehen und versuchte bis zu Alices Tod, ein Kraut gegen die Nachwirkungen des Cruciatus zu züchten.
Viele Jahre später war Patientin 388 eine der ersten, die sein Elixier heilte.
Neville erlebte dies nicht mehr. Er starb überraschend bei einem Unfall, im Alter von nur 31 Jahren.
An seinem Grab blühen Kornblumen.
