Loki's Tränen
Prolog
„Tut mir leid, Bruder..." flüsterte Loki Laufeyson, als er durch sein neues und doch so bekanntes Königreich stapfte. In der Gestalt seines Vaters, Odin, erkannte ihn niemand. Das war für ihn Segen und Fluch zugleich. Einerseits war er sicher, wurde wie ein König bedient und alle respektierten ihn. Das hatte er sich schließlich immer gewünscht. Andererseits... Er war zwar nun König, aber er konnte sich nicht in seiner wahren Gestalt zeigen, da ihn sonst jeder attackieren würde. Vielleicht würde sogar der Tod auf ihn warten...
Langsam lief Loki an seiner früheren Zelle vorbei. Die kleinen Dinge, die ihm einst seine Mutter Frigga mitgebracht hatte, damit er sich wohlfühlen konnte, lagen immer noch kreuz und quer herum. Alte Erinnerungen kamen in ihm wieder hoch. Die Angst, die Qual und die Trauer, welche er hier erleiden musste, hatte sich tief in seine schwache, kränkliche Seele eingebrannt. Er wollte einfach nicht mehr in diesen kleinen, weißen Raum zurück. Immer, wenn er in diesen Raum sah, begann sein Körper zu zittern und eisige Kälte überkam ihn.
Es gab in den anderen Zellen Kreaturen, die auf seine Trugbilder hereinfielen, doch dann gab es auch wieder Wesen, die ihn durchschauten. Die Angst, die von Loki ausging, konnten sie spüren und manchmal lachten sie über ihn. Loki interessierte das nicht.
Als er wieder zum Thron ging, dachte er über viele Dinge nach. „Was würden sie wohl tun, wenn sie wüssten, wer ich bin? Würden sie mir vergeben? Würden sie etwa Mitleid empfinden? ...Nein.
Sie würden mich hinfort jagen oder mich wieder einsperren! Ja, das würden sie tun. Ich kann mir selbst ja nicht mal verzeihen, also warum sollten sie es tun? ...Ich sollte endlich aufhören, mich mit diesen Gedanken zu plagen. Das bringt mich nur vom eigentlich Ziel ab."
Was sein Ziel war? Es mag für Loki untypisch sein, aber er wollte nichts anderen als Frieden.
Die Kämpfe, die er bestritten hat, haben ihn einiges gelehrt. Man kann sich seinem Schicksal entziehen. Selbst wenn alles noch so dunkel erscheint, kann man sich retten. Man sollte nicht auf Hilfe warten. Manchmal muss man auch aufgeben, wenn es keine Hoffnung mehr gibt.
Die Narben, die überall auf seinem Körper verstreut sind, bestätigen das alles nur.
Seit langem fühlte Loki trotz allem nur noch eines: Einsamkeit. Sein Bruder, Thor, war schon vor einiger Zeit zurück zur Erde gegangen und er erkundigte sich auch öfters nach ihm, doch es reichte nicht. Wo sein Vater war? Er wusste es selbst nicht. Vielleicht war er tot.
Loki schloss langsam seine Augen und blieb stehen. „Meine Trugbilder werden nicht ewig halten... Was soll ich dann machen? ...Ich bin weder der wahre König, auch wenn ich es gerne wäre, oder noch ein Verbündeter des Königreiches. Was soll ich nur tun?" Sein Murmeln wurde von niemandem gehört. Einzig seine Schritte schallten wieder durch den riesigen, kalten Saal.
Wenn er sich auf seinen Thron setzte und ein Blick nach draußen warf, konnte er die glücklichen Gesichter der Bewohner von Asgard sehen. Manchmal konnte dies seine Stimmung ein wenig heben. Auch die Danksagungen der Bewohner, die oft in Massen herbei strömten und ihn bewunderten, machten ihn in gewisser Weise glücklich. ...Doch dann gab es auch wieder Momente, in denen er sich einfach wünschte, nicht da zu sein. Es wurde über seine wahre Gestalt als Loki gelacht und es wurden lächerliche Geschichten erfunden. Aus Gruppenzwang lachte er aber oftmals einfach mit. So war es schon lange gewesen.
Doch eines Tages kam es anders. Loki hatte dieses Ereignis nicht geplant. Niemand hatte das.
Er saß, wie so oft, mit einigen anderen Asen an einer großen, gedeckten Tafel und sie aßen genüsslich. Loki langte nicht sehr zu, denn er wusste, das dieses Mahl nicht für ihn bestimmt war.
Alle lachten, tranken und erzählten freudig Geschichten. Darunter auch Geschichten über ihn, Loki. Es wurde zwar oftmals berichtet, dass er Thor im Kampf gegen die Dunkelelfen sehr unterstützt hat, aber das wurde meist ignoriert. Es wurde als kleine Wiedergutmachung angesehen und nicht als eine selbstlose Heldentat. „Lästiges Gesindel..." fluchte er in Gedanken. Das war immer so. Jedes Mal, wenn er die Geschichten mit anhören musste, wollte er die Asen, die diese Dinge erzählten, einfach umbringen. Loki konnte aber nicht. Doch dieses mal, wurde etwas anderes erzählt. Normalerweise waren alle darüber glücklich, das Loki weg war. Dieses mal jedoch, meldete sich ein noch recht junger Knabe zu Wort. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, würde man wohl davon ausgegangen sein, dass er sechzehn Jahre alt sei.
„...Ich denke, dass auch Loki gute Dinge getan hat. Es gibt keine Kreaturen, die durch und durch böse sind..." Der Ase, der den Namen Hafnir trug, wurde mit verwunderten und ungläubigen Blicken beworfen. Auch Loki sah ihn an. Sein Mund war ein wenig geöffnet und das eine Auge, welches nicht verdeckt war, hatte sich ein wenig geweitet. Ein älterer Ase meldete sich zu Wort.
„Hört euch diesen Jüngling an! ...Selbst wenn er Recht haben sollte, kann man bei Loki nie wissen! Er ist der Meister der Trugbilder, vergiss das nicht, Kleiner. Selbst Heimdall konnte er überlisten..."
Hafnir hob seinen Kopf. In seinen Augen tobte eine Mischung aus Wut, Trauer und Angst.
„S-selbst wenn es so ist, hat auch er ein Herz! ...Auch er muss sich durchs Leben quälen. Das vielleicht mehr oder weniger gut, aber trotzdem -" Jemand unterbrach ihn. „Jetzt ist aber mal gut! Du hast doch noch keine Ahnung vom Leben. Du hast ebenso wenig Ahnung, wie viele Leben er auf dem Gewissen hat, also halt deinen Mund, bevor es jemand anderes tut!" Mittlerweile sahen ihn alle mit grimmiger Miene an. Loki starrte auf die gedeckte Tafel und den Teller, der vor ihm stand. „Also gibt es wirklich noch Leute, die so denken..." Sein Flüstern wurde bemerkt.
Hafnir schluckte verängstigt, als Loki seinen Blick auf ihn richtete. Eine junge Asin rannte zu Hafnir und begann hastig zu reden: „Bitte vergebt ihm, oh großer König! Er ist in einem schwierigen Alter und weiß nicht, wovon er da überhaupt spricht!" In den Augen der Asin sammelten sich vor Angst die Tränen. Loki musste ein wenig lächeln. Doch nicht so frech, wie sonst lächelte. Nein, sein Lächeln war gutmütig. „Keine Angst." begann er zu reden und stand langsam auf. „Ich werde ihm nichts tun. Der Knabe hat mich an etwas erinnert..." Loki ging aus dem Raum und begab sich zum Ausgang des Palastes. Es war schon finster geworden und die Sterne leuchteten auf ihn herab.
Der Knabe, Hafnir, rannte ihm hinterher. „König! Bitte wartet! Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen..." Loki hielt an und drehte sich zu ihm. „Wofür? ...Du hast nichts falsch gemacht.
Lass dir nicht einreden, dass deine Worte niederträchtig und grauenvoll waren. Sie haben mir geholfen. ...Ich weiß nun, was ich tun muss. Vielen Dank, Kleiner!" Hafnir legte den Kopf schief und musterte Loki, welcher theatralisch die Augen schloss. Ein grüner Schein überkam ihn und sein Trugbild verschwand. „Loki..." flüsterte Hafnir geschockt. „Du wirst jetzt zu den anderen Asen rennen und ihnen davon erzählen, dass ich euch jahrelang betrogen habe, nicht wahr?"
Loki's Stimme war schwach, genauso wie er selbst. Hafnir schüttelte den Kopf. „Nein, dein Geheimnis ist bei mir sicher! ...Aber eine Frage habe ich: Wo ist unser wahrer König, Odin?"
Loki betrachtete verblüfft den Jungen, der ihm anscheinend vertraute und sprach nur: „Ich weiß es nicht... Vielleicht ist er tot. Vielleicht lebt er noch. ...Ich danke dir, Kleiner."
Hafnir stand mit weit offenem Mund an den Toren vom Palast und sah Loki hinterher, wie er über die Regenbogenbrücke ging.
Als Loki bei Heimdall angekommen war, sah ihn dieser nicht gerade überrascht an. „Ich hatte mich schon gefragt, wie lange du dich noch vor dir selbst verstecken willst, Loki." Anscheinend wusste Heimdall schon von Anbeginn, das Loki nur ein Trugbild seines Vaters benutzte. Loki lächelte ihn nun mit seinem frechen Lächeln an. „Und was wirst du mir jetzt antun? Mich köpfen, zerstückeln und irgendwo verbrennen?" Heimdall musste auch ein wenig lächeln. „Hättest du nicht so gute Arbeit als König geleistet, ja, dann hätte ich dies getan. Doch nun..." Heimdall zog sein Schwert und richtete es auf Loki. „Nun werde ich es gleich hier beenden!" Loki ging rückwärts aus dem Observatorium heraus und tastete seine Taschen ab. „Verdammt, ich habe keine Waffe..."
Nervös sah er umher. Heimdall's Schwertspitze war nun an Loki's Hals, welcher nun am Rand der Regenbogenbrücke stand und darum bemüht war, nicht hinunterzufallen. Heimdall schloss kurz die Augen. „Ich werde dich vielleicht nicht töten, aber du wirst den Rest deines Lebens im Universum verbringen. Vielleicht wird dich irgendwann jemand finden. ...Viel Glück, Kleiner." Heimdall schien nicht gerade zufrieden mit seiner Entscheidung zu sein. Sanft stieß er Loki mit seinem Schwert, welcher sofort nach hinten fiel und mit einem lauten Schrei in den unendlichen Weiten des Universums verschwand. Loki's Schrei hallte durch das ganze Königreich, woraufhin jeder Ase seinen Kopf hob und still wurde. Jeder erkannte Loki's Stimme. Hafnir stand immer noch an den Toren und verkniff sich die Tränen. Ein leises „Nein..." und ein kleines Schluchzen entsprang seiner Kehle. Er konnte nicht glauben, was Heimdall eben getan hatte.
Loki hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. „So sei es, Heimdall..." flüsterte er, als er immer weiter und weiter fiel. Es war wie damals. Diesmal hatte er aber keine Hoffnung. Er wusste, dass ihn niemand retten würde. Weder sein Ziehvater, sein Bruder Thor oder sonst jemand.
So dachte er zu mindestens...
