Der Text ist älteren Ursprungs, zwischen 2011 und 2012, was man merkt, auch wenn der Text recht zentral für meinen Elrond-Headcanon ist. Beim nochmaligen Drüberlesen für's Posten habe ich überlegt, ob ich das zweite Kapitel nicht besser "Söhne Maglors" nennen sollte.
Maedhros ging ihren Plan wohl zum hundertsten Mal kleinschrittig durch, während er ein letztes Mal seine Verkleidung prüfte. Die Erde erbebte ein erneutes Mal und er schwankte.
„Die Welt bricht auseinander", stellte Maglor fest.
Maedhros schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist es schon." Er richtete sich auf. „Du kennst deinen Teil?"
„So gut, wie es nur geht", bestätigte Maglor. „Und doch ist mir immer noch nicht wohl dabei."
„Der Eid, Maglor", erinnerte Maedhros ihn.
„Der Eid! Der Eid!", rief Maglor aus. „Immer dieser verfluchte Eid!"
Darauf erwiderte Maedhros nichts. Sie hatten dieses Thema schon scharf diskutiert, und es hatte ihn viel Mühe gekostet, Maglor überhaupt so weit gebracht zu haben, ihn zu unterstützen. Denn sie wollten in das Heerlager der Herren des Westens schleichen und die zwei übrigen silmarilli stehlen.
Leise schlich Maedhros durch das Unterholz des kleinen Haines, in dem sie sich verborgen gehalten hatten. Es lag am Rand des Heerlagerseeröl, sodass es ein gutes Versteck abgab. Als die ersten Lichter in Sicht kamen, hielt er an und spähte zu den Zelten herüber. Ein paar Wachen standen dort, aber es schien, dass sie leicht zu überwältigen wären.
„Sind sie sicher?", fragte sich Maglor zum wiederholten Male besorgt.
„Elrond und Elros sind gut versteckt", versicherte Maedhros ihm ebenfalls zum wiederholten Male.
„Sie sind beinahe noch Kinder, es wäre eine Schande, wenn wir ihnen durch unsere Tat Probleme bereiten würden. Ich sorge mich um sie. Und dann noch Elros … Die Valar haben ihnen die Wahl überlassen, zu welchem Volk sie sich zählen wollen, und von Elrond weiß ich ganz genau, was er wählte. Aber Erlos war mit einem Mal so schweigsam gewesen und hatte keinen Ton gesagt. Ich glaube, nicht einmal Elrond hat er es gesagt, und das ist bedenklich."
Maedhros wandte sich ihm zu. „Ich verstehe dich, mein Bruder", sagte er, doch Ernst stand in seinen Augen. „Aber gerade jetzt darfst du dich nicht ablenken lassen von deinen Sorgen, gerade um Elronds und Elros' Willen. Du nützt ihnen mehr, wenn du lebend und unbeschadet zu ihnen zurückkehrst."
Maglor schwieg und atmete tief durch. Dann straffte er die Schultern. „Na gut. Dann werden wir tun, was wir können."
Ein leichtes Lächeln umspielte Maedhros' Lippen.
Die Brüder beobachteten weiterhin die Wachen, während sie ihre Waffen in den Scheiden lockerten. Sie würden sie benötigen, denn ungesehen würden sie ohne sie nicht in das Lager gelangen. Leise schlichen sie voran. Ein rasches Aufblitzen der Klingen. Ein unterdrücktes Keuchen. Dann lagen die Wachen tot am Boden. Hastig eilten die Brüder weiter und unterdrückten zumindest für den Moment ihr schlechtes Gewissen.
Um diese Uhrzeit war es still im Lager, niemand sah die beiden Söhne Feanors auf ihrem Raubzug. Lautlos und unbehelligt schlichen sie durch die Schatten zwischen den Zelten. Nur am Rande war das Lager bewacht, im Innern waren kaum Wachen zu sehen. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Leichen der Getöteten gefunden wurden, das wusste Maedhros, und er wusste auch, dass sie bald nicht mehr so unbehelligt voran kommen würden, wenn sie sich dem Zentrum näherten.
„Bruder", wisperte Maglor. „Du hast den Kleinen Amrods und Amras' Schwerter gegeben."
Maedhros hielt inne. „Ja …"
„Du hast sie ihnen gegeben, weil du damit rechnetest, dass du selbst nicht mehr wiederkehren wirst." Maglor trat auf seinen Bruder zu. „Doch wenn ich wiederkehre, dann wirst du das auch."
Maedhros schwieg und sah weg von seinem Bruder. Ohne ein Wort setzte er seinen Weg fort. Mit besorgter Mine folgte Maglor.
Wie Maedhros vermutet hatte, wurden die Wachen und Patrouillen zahlreicher und aufmerksamer. Als wüssten die Valar, dass sie kamen … Unruhe befiel ihn. Die Pracht der Zelte erinnerte ihn an seine Kindheit und Jugend im fernen Aman; wie lange war das nun schon her! War es rechtens, was sie taten? Die Valar zu hintergehen? Hastig drängte er den Gedanken zurück. Ja, es war rechtens, denn die silmarilli waren sein ureigenes Recht!
An den Wachen vorbeizukommen, war schwierig, zumal die Feanorer nicht noch mehr Wachen töten wollten, um das Risiko einer Entdeckung nicht noch zu erhöhen. Maedhros ließ sich von seinem Gefühl leiten, und so fanden sie recht schnell ihr Ziel: ein schwer bewachtes Zelt im Zentrum des Lagers. Sie lugten aus dem Schatten hinüber.
„Wir kommen gegen die Wachen nicht an", flüsterte Maglor.
„Nein!", erwiderte Maedhros schärfer als gedacht. „Wir werden kämpfen. Die silmarilli sind unser!"
Maglor sagte nichts, doch sah er seinen Bruder scharf an. Dennoch packte er sein Schwert fester. „Geh voran", sagte er.
Maedhros zog sein Schwert und atmete tief durch. Dann griffen sie an.
Die Macht der Verzweiflung trieb sie voran und verlieh ihnen ungeahnte Kräfte. So konnten sie die überrumpelten Wachen rasch überwältigen und in das Zelt stürmen. Schmerzensschreie und erschrockene Rufe hallten durch die Nacht. Weitere Wachen erwarteten die Feanorer im Zelt, doch sie drängten weiter vorwärts, noch immer den Schwung des ersten Angriffes nutzend. Ihre Schwerter blitzen boshaft auf, Blut tropfte von den Klingen und besudelte ihre Besitzer. Maedhros achtete nicht darauf, wer unter seiner Klinge fiel, er schlug einfach blind um sich.
Die silmarilli! Bald würden sie wieder ihre sein!
Und dann … Dann leuchteten die Edelsteine durch den roten Schleier, der seine Sicht trübte. Stille hatte eingesetzt oder zumindest hörte Maedhros die Warnrufe nicht. Sein Blick war allein auf seines Vaters Edelsteine gerichtet, die zwei, die noch über waren, und nichts anderes nahm er wahr als ihre Schönheit, ihren Glanz. Langsam streckte er seine Hand nach den Steinen aus.
„Maedhros!"
Sein Herz schlug laut, sein Puls raste. Seite Atmung ging schwer. Die Pracht dieses Werkes, nach all den Jahren noch immer ungetrübt, überstrahlte alles, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Wie wunderschön sie doch noch immer waren, selbst nach der Misshandlung Morgoths! Aus ihnen strahlte der alte Glanz des Westens, ungetrübt und rein, ein Licht, das für immer aus der Welt gewichen und allein hier erhalten geblieben war …
„Maedhros!", wiederholte Maglor.
Der älteste der Feanorer schreckte auf. Nun hörte auch er den Lärm, der davon kündete, dass sie verfolgt wurden. „Schnell!", rief er, warf seinem Bruder einen Silmaril zu und streckte den zweiten in seinen Mantel. Dann eilten sie mit gezückten Schwertern los.
Draußen erwarteten sie bereits die Soldaten.
„Mörder! Verräter!", spie einer ihnen entgegen, doch Maedhros ließ sich davon nicht beirren. Gefolgt von seinem Bruder stürzte er sich auf seine Feinde, bereit, bis zum Tod zu kämpfen, auch wenn das gesamte Lager gegen sie stand. Es sollte ein wildes Gemetzel werden, denn die Übermacht der Soldaten war erdrückend, doch die Feanorer kämpften verbissen. Sie trugen viele Verletzungen davon, große wie kleine, aufgeben würden sie jedoch auf keinen Fall.
Erneut bebte die Erde, heftiger dieses Mal als all die anderen Male. Die Kämpfenden schwankten, nicht wenige gingen zu Boden. Und mitten aus diesem Gewühl trat Eonwe, der Herold des Westens. Maedhros funkelte ihn finster an und hob das Schwert. Doch als die Soldaten ihn schon niederringen wollten, hob Eonwe die Hand und gebot ihnen Einhalt.
„Ich erinnere euch noch einmal", ermahnte er die Feanorer: „Ihr habt kein Recht mehr auf die silmarilli, die ihr soeben gestohlen habt. Schon längst habt ihr dieses Recht durch eure Taten verwirkt. Gebt sie wieder her und unterwerft euch dem gerechten Urteil der Valar!"
Maglor sah seinen Bruder verzweifelt an. Würde er doch nur nachgeben, er sehnte sich doch so sehr nach Frieden! Oder zumindest dem, was für ihn dem Frieden am nächsten kommen könnte, hieße es auch, das Ewige Dunkel als sein Los anzuerkennen, wie es der Eid hieß, würde er nicht erfüllt.
Doch freilich gab Maedhros nicht nach. In seinem Zorn warf er das Schwert nach Eonwe, doch in der Hast verfehlte er ihn. Eonwe aber hielt erneut die Soldaten zurück, denn er wünschte nicht, dass die Feanorer getötet würden. So ließ er sie ziehen.
Eiligst machten die Feanorer, dass sie von dannen kamen, beschämt und gedemütigt, wie sie waren, für alle Zeit als Diebe und Verräter gebrandmarkt. Sie eilten weit fort vom Lager und zum Meer, das nicht fern war.
Nun waren von den Feanorern nur noch sie zwei über, und der silmarilli waren ebenfalls lediglich zwei. So nahm also jeder einen Silmaril, und sie teilten das Erbe ihres Vaters unter sich auf.
Gerade, als Maedhros seinen Silmaril hervorholte, durchfuhr ihn ein schneidender Schmerz und ihm wurde seine Hand auf quälende Weise versengt. Er schrie auf, ein unnatürlicher Schrei voller Pein und Leid. Maglor sprang seinem Bruder zur Hilfe, doch sogleich wurde auch er von seinem Silmaril gepeinigt.
„Der Eid!", schrie Maedhros gen Himmel. „Eonwe hatte Recht! Er ist verwirkt!"
Er ist verwirkt! Welch schreckliche Worte das doch in den Ohren der Feanorer waren! Sie hatten kein Anrecht auf die Silmaril, sie waren ihnen genommen. Niemals würden sie ihren Eid erfüllen können, nie! Dunkelheit würde sie umfangen, in Verzweiflung und ewigen Schmerz würden sie stürzen. Nein, sie würden es nicht tun, sie taten es bereits!
Welch Grausamkeit die Welt doch innehatte. Doch Grausamkeiten hatten auch die Feanorer begangen, und diese nicht gering an Zahl. Nun wurde es ihnen zurückgezahlt, und das zu Recht. Zu Recht!
Die Welt zerriss, das Meer drängte in die Lande. Tiefe Erdspalten taten sich auf, Feuer drang aus tiefen Klüften an die Oberfläche. Der gewaltige Kampf vor den Toren Angbands hatte die Welt erschüttert und ihren Norden zerrissen.
Maedhros sah seinen Bruder bedauernd an. Bittere Verzweiflung, abgrundtiefer Schmerz und wohl auch ein Hauch Wahnsinn glänzen in seinen Augen. „Es tut mir leid", hauchte er. „Es tut mir leid …" Dann trat er einen Schritt zurück und in eine tiefe Feuerspalte.
„Bruder!", schrie Maglor auf. Doch Maedhros war dahingeschieden, die Erde hatte ihn verschlungen und mit ihm seinen Silmaril. Maglor schrie auf und schrie und schrie und schrie. Er schrie sich all seine Pein von der Seele, doch es war immer noch nicht genug. Schluchzend brach er zusammen und würde wohl nie wieder die Kraft finden, wieder aufzustehen, so dachte er.
Die Pein war unerträglich, wie tausend glühende Nadeln, die zugleich in seinen Körper gebohrt wurden. Der Silmaril strafte ihn für all seine Taten, brandmarkte ihn als das, was er war: Verräter, Mörder, Dieb. Nichts hatte er erreicht, alles hatte er zerstört! All seine Brüder waren tot, seine Familie dahin, verbannt aus den heiligen Landen. Nicht einmal seine beiden Kleinen hatte er retten können … Er ertrug es nicht länger, und in einem letzten Kraftakt warf er den Silmaril weit von sich in das tosende Meer. Und nie wieder sah man etwas von ihm.
So gingen die silmarilli aus der Welt, und so ging auch Maglor dahin. Denn er verschwand aus den Geschichten dieser Welt, und es wird gesagt, dass er davonzog, allzeit am Meer entlang, und von seinem Verlust und seinem Schmerz sang. Nie wieder sollte man jemals etwas von ihm hören, dem letzten der Feanorer, und sein Schicksal war ungewiss.
