Von hier oben war die Klippe eindeutig
höher, der See in unendlicher Tiefe dunkel und bedrohlich, die
Sonne schien auch nicht mehr so hell wie sie es vor einer
Viertelstunde unten am Strand getan hatte. Frank begann, in seiner
Badehose zu frieren. Er wollte gerade etwas sagen, was ihm nach dem
Aussprechen sicher feige und zu brav vorgekommen wäre, da lief
Severus einfach los und sprang.
„Wenn er es weiter so ehrgeizig
versucht, wird es ihm sicher gelingen, sich umzubringen."
Regulus
trat neben Frank an die Kante des Felsens und sah in die Tiefe.
Severus tauchte geräuschlos ins Wasser, am Ufer schrien die
Mädchen auf. Für Sekunden, schlug Franks Herz schneller.
Dann tauchte Severus wieder auf und warf das nasse Haar zurück,
die Mädchen jubelten.
„Ein Kopf, zwei Arme, er bewegt sich
noch. Mist aber auch, wieder ein Fehlversuch."
Diesen Sarkasmus
hatte sich Regulus angewöhnt, nachdem Lucius ihm vor einem
halben Jahr den Arm gebrochen hatte. Überhaupt sprachen seine
Freunde in letzter Zeit öfter vom Tod als es Frank lieb war.
„Es
ist erstaunlich, wie einfach es ihm gelingt, uns dumm dastehen zu
lassen", versuchte Frank eine andere Interpretation. Regulus sah
ihm ins Gesicht, als würde er sie für unberechtigt halten.
Dann lächelte er und flüsterte: „Wir sehen uns unten."
Dann sprang auch er.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne.
Franks
Verstand lief erst wieder an, als sein Kopf durch das kalte Wasser in
den strahlenden Sonnenschein stieß. Alice' Stimme drang
verzerrt durch das Wasser in seinen Ohren und ihre Hände fühlten
sich heiß an, auf seiner kalten Haut.
„Ihr seid alle drei
völlig verrückt! Einer schlimmer als der andere", lachte
sie, zumindest glaubte Frank, dass sie lachte. Nach den ersten
Atemzügen ging es ihm langsam besser. Die anderen schienen
seinen Zustand nicht zu bemerken.
Ihm war schlecht.
Nicht
wegen des Sprunges, nicht wegen des kalten Wassers auf seinem vom
Klettern aufgeheizten Körper. Es war der eine Gedanke, der ihn
fertig machte, ihm die Kraft entzog, ihn erschöpft in den Sand
sinken ließ. Der eine Gedanken, nur den Bruchteil einer Sekunde
lang, in dem Moment als seine Füße sich vom Felsen
abstießen:
„Es hatte schon längst und unwiderruflich begonnen und konnte nur im Tod enden."
Ihm
fiel das Atmen schwer.
Er war überzeugt gewesen, sie hätten
noch das eine Schuljahr bevor es wirklich ernst werden würde.
Doch es war schon längst ernst.
Alice' Mutter war letzten
Herbst getötet worden, ihr Vater knapp der Folter entkommen.
Diese Zeit hatte ihn mit Alice zusammengebracht. Doch Frank war
überzeugt gewesen, dass diese schreckliche Tragödie weit
weg von Hogwarts und von ihnen geschehen war, dass sie daran weder
Schuld hatten, noch es hätten verhindern können. Die
Erinnerungen kamen wieder hoch und er sah sie mit anderen Augen.
Erinnerte sich, dass Severus Hände gezittert hatten, als er
Alice' verkrampfte Finger aus seinem Umhang löste. Damals war er
fast eifersüchtig, weil sie zu Severus gegangen war. Er hatte
das Gefühl gehabt, dass sie durch eine gemeinsame Erkenntnis,
ein Geheimnis verbunden waren und er daneben stehen würde. Jetzt
war er Teil dieser Erkenntnis und verstand Alice' Bestürzung
besser; sie hatte sich schuldig gefühlt und suchte nach
Hilfe.
Hatte sie in Severus Hilfe gefunden? Wie hatte ein
sechzehnjähriger den Mann aus den Händen des Dunklen Lords
retten können? Der Gedanke war Frank schon damals gekommen,
nachdem Alice' Vater zwei Tage, nachdem ihm Severus das verzweifelte
Mädchen in die Arme gedrückt hatte, unerwartet freigekommen
war. Damals hatte er die Überlegungen schnell verworfen, es als
glücklichen Zufall abgetan. Jetzt kam ihm das naiv vor.
Er
sah sich um: Severus saß mit Lily auf der Decke und pellte eine
Grillkartoffel. Er stellte sich dabei ziemlich ungeschickt an und
Lily lachte ihn aus - Severus lachte mit.
Jetzt fiel Frank auf
einmal so viel auf, was er bisher übersehen hatte: Severus Haar
war gar nicht schwarz, es war dunkelbraun und während es jetzt
in der Sonne schnell trocknete, verzog es sich zu einer wilden Welle.
Regulus hatte mal gesagt, Severus wäre der ideale Black. Es
musste Wunschdenken gewesen sein, denn Severus hatte so gar nichts
mit den beiden stämmigen, forschen und selbstsicheren
Blackbrüdern gemein. Regulus war fast zwei Jahre jünger als
er und Severus hätte sich trotzdem hinter dessen breiten
Schultern verstecken können. Und obwohl Regulus, verglichen mit
Sirius, ein ruhiger Junge war, kamen auf fünf Wörter von
ihm eins von Severus.
Franks Magen verkrampfte sich plötzlich
und er musste sich aufsetzen. Er hatte das Gefühl als wäre
die Erkenntnis ihrer Lage zu seinem Körper besser durchgedrungen
als zu seinem Verstand. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn und
ein Zittern ergriff seinen ganzen Körper als müsse er sich
gleich übergeben. Er wollte nicht, dass die Anderen etwas
bemerkten und zog sich ein Handtuch über den Kopf.
Zusammengekauert versuchte er, langsam und tief zu atmen, das Zittern
ließ nach und sein Magen gab wieder Ruhe.
Er überlegte,
ob er sich nicht kurz im See abkühlen sollte, und blickte zum
Ufer. Auf einem größeren Stein saß da Regulus und
betrachtete seine Hand. Der Handrücken war frisch aufgeschürft,
wahrscheinlich war er bei dem Sprung irgendwo vorbeigeschabt. Frank
schauderte. Es war erschreckend, wie glücklich Regulus die
leicht blutenden Schrammen betrachtete, als wären sie ein
Geschenk. Frank war schon lange klar, dass er Regulus nicht verstand
und wohl nie verstehen würde.
Severus war etwas anderes, ihn
verstand Frank vollkommen, er war vier Jahre lang mit ihm als Feind
konfrontiert gewesen und sie hatten sehr bewusst Freundschaft
geschlossen. Eine solche Barriere zu überwinden verband.
Natürlich war es hilfreich gewesen, dass Severus berechenbar
war. Er handelte logisch aus seinen Erfahrungen und Überzeugungen
heraus. Frank suchte nach dem richtigen Wort. Ja, Severus war schon
immer erwachsen gewesen und als Frank mit der Zeit auch erwachsen
wurde, konnten sie zusammenkommen.
Bei Regulus war es anders, er
war wie ein grimmiges Kind. Daher saß er jetzt auch allein am
See; Regulus mochte Lily nicht, er mochte den Jungen nicht, zu dem
Severus wurde, wenn sie in seiner Nähe war. Frank versuchte sich
vorzustellen, wie Regulus Leben aussehen musste. Der Zweitgeborene in
einer Familie, wo nur das erste Kind etwas zählte, nur gelobt
für das, was er zwar tat, weil es notwendig war, aber im Grunde
verachtete. Sirius erntete das Lob des mutigen Rebellen, während
Regulus als schwacher Mitläufer galt und gerade sein Bruder
zeigte ihm das immer wieder. Frank fragte sich, wieso Sirius nicht
bemerkte, dass Regulus auf seiner Seite stand. Wollte Sirius das
nicht bemerken? Oder wollte Regulus es nicht?
Frank hatte
schreckliche Kopfschmerzen, doch nie zuvor war ihm so klar gewesen,
wie unterschiedlich die beiden Blacks waren. Lag es daran, dass er
jetzt eingesehen hatte, dass Regulus, gerade mal 15, Schüler,
mit Frank befreundet und offiziell Mitglied der Jungtodesser, durch
seinen stillen Verrat, durch die Sabotage der doch so belanglosen und
widrigen Aktionen tatsächlich in Lebensgefahr schwebte? Hatte
Lucius ihm mit dem Tod gedroht, als er ihm nur den Arm brach? Frank
fiel ein, dass Severus eine merkwürdige Art hatte, mit Schmerz
umzugehen. Er analysierte ihn, stellte Diagnosen auf, für den
seelischen wie auch für den körperlichen Schmerz. Frank
hatte gedacht, dass Severus einfach unsensibel wäre, den er
brachte mit diesen Analysen vor allem Alice regelmäßig zum
heulen, doch vielleicht war es einfach eine Übung für seine
eigenen Schmerzen.
Regulus zog gerade einen kleinen Hautfetzen von
seiner Hand ab und sein Gesicht sah aus, als würde er ein
Gemälde betrachten. War das seine Art? Verarbeitete Severus
Schmerzen durch das Analysieren und Regulus durch das
Betrachten?
Frank hatte das Gefühl zu kochen, er stand
schwankend auf und ging rüber zur Decke, in den Schatten.
Severus hatte Lily zu Boden gedrückt und stopfte ihr gerade ein
Stück Schokolade in den Mund, oder versuchte es zumindest. Lily
wehrte sich lachend. Die Schokolade schmolz ungewöhnlich
schnell, auf ihrem Gesicht, zwischen seinen Fingern ...
Frank
griff nach einer Limonade und lehnte sich gegen einen Baum, ihm war
schwindelig. Alice reichte Severus ein neues Stück Schokolade,
er drohte Lily, sie eine Woche mit Schokolade zwangszuernähren,
wenn sie nicht endlich den Mund aufmache. Lily gab nach, während
Frank langsam am Baum herabsank.
„Ich werde noch rund wie die
fette Dame", beschwerte sich Lily kauend. Severus lächelte sie
an, während er sich die Finger ableckte. Frank versuchte sich zu
erinnern, wann Severus einmal ohne Lily gelächelt hatte.
Severus griff nach einem Handtuch, und Frank sah das Dunkle Mal
auf seinem Arm. Vor seinen Augen flirrte es und doch hatte er es nie
schärfer und deutlicher gesehen. Ein Totenschädel, der eine
Schlange ausspieh, als rote Narbe, ins Fleisch eingebrannt. Frank
dachte an sein letztes längeres Gespräch mit Severus, er
wusste nicht mehr, worum es gegangen war, nur noch, dass ihm
aufgefallen war, dass Severus Voldemorts Namen nicht mehr aussprach.
Er sagte nur noch „der Dunkle Lord". Jetzt wurde Frank klar, dass
Severus den Namen schon seit fast einem Jahr nicht mehr genannt
hatte, er hörte ihn auch nicht gerne. Er zuckte nicht vor
Schreck zusammen wie jene, die Du-weißt-schon-wer sagten,
Severus wurde wütend.
Jetzt versuchte Frank sich vorzustellen
wieso; ein weiteres Detail fiel ihm auf, das er bisher nie bemerkt
hatte. Dass Severus nur aus Sehnen und Muskeln bestand, wusste Frank
schon lange, sie hatten sich als Kinder oft genug geprügelt. Auf
Severus' Oberkörper konnte man jeden Muskel einzeln sehen, doch
dazwischen waren immer wieder hellere Striemen. Narben, klein, gut
verheilt, aber unendlich viele und überall. Eine besonders Große
durchschnitt die Bauchmuskeln mit einer tiefen Kerbe. Jetzt, wo Frank
wusste, worauf er achten musste, entdeckte er auch einige im Gesicht.
Eine auf der Wange, nah beim linken Ohr, eine quer über die
Augenbraue, eine weitere am Haaransatz. Ließ Severus sich
deshalb die Haare ins Gesicht fallen?
Frank fühlte sich
elend, nicht nur, weil sein Kopf zu explodieren schien und ihm
abwechselnd kalt und heiß wurde, sondern weil er die Lage so
unterschätzt hatte. Weil er nicht bemerkt hatte, dass seine
Freunde in Lebensgefahr schwebten, weil er nicht bemerkt hatte, wie
sie sich verändert hatten. Der Krieg war in vollem Gange und er
war mittendrin, ohne es gemerkt zu haben. Und dieser Krieg würde
nicht eher enden, bis entweder Voldemort oder sie tot waren.
Frank
wurde schwarz vor Augen.
„Frank! Komm schon, was ist den
los?"
„Er ist ganz heiß! Gib mir das Tuch, Lily."
„Ich
glaube, er hat einen Sonnenstich."
„Es sind immer die großen,
blonden und heldenhaften, die als erstes schlappmachen."
„Hör
auf zu schwafeln, Regulus, und hol mal Wasser. Versager, wieso konnte
er sich bei dem Sprung nicht das Genick brechen, da wüsste ich,
was zu tun wäre. Sonnenstich, sowas banales! Kennt einer einen
Zauber gegen Sonnenstich?" Frank lächelte, sein Körper
zitterte zwar wie Espenlaub und er hatte keine Kraft, auch nur den
Finger zu heben, aber er konnte lächeln. Spätestens Severus
hatte schon immer gewusst, wie kritisch ihre Lage war, und doch hatte
er nie einen von ihnen darauf aufmerksam gemacht. Weil er ihren
Enthusiasmus, ihre Naivität brauchte, um all die Narben zu
tragen und Lily immer noch anlächeln zu können, um sich
immer noch über ihn, Frank, lustig machen zu können. Frank
wurde schlecht und er nahm sich vor, auf Severus zu kotzen, sobald er
die Kraft dazu fand.
A/N: Diese Episode bezieht sich auf mein großes Projekt „Hogwartsrumtreiber" Band 1 – Die Heulende Hütte - www.hogwartsrumtreiber.de. Wenn es Dir also gefallen hat schau doch mal bei uns vorbei, da gibt es mehr.
