Albtraum

„Was…? Harry!"

Sie rannte auf das ehemals versteckte Haus zu – der Zauber war gebrochen. Sie konnte die Magiefäden noch sehen, die in Fetzen um ihr Haus herum hingen. Einige fielen zu Boden und verschmolzen mit ihm. Die Gartentür stand offen, die Haustür war angelehnt.

Wie konnte das nur passieren?

„Harry!" Ihr Mann James lief hinter ihr her, die Straße hinunter, durch das offene Gartentor, den Weg entlang auf die offene Haustür zu. Die Tür flog aus den Angeln als er sich mit voller Wucht dagegen schmiss.

Der Flur sah so aus wie immer. Der Kinderwagen stand neben der Treppe, die in den ersten Stock führte. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Glas Wasser, auf dem Teppich lagen einige von Harrys Spielsachen verstreut. Alles war so, wie sie es hinterlassen hatten, als sie einige Stunden zuvor zu Dumbledore gerufen wurden.

Sie saß auf dem Sofa und sah ihrem Mann und ihrem Sohn beim Spielen zu. James hatte seinen Zauberstab gezückt und ließ Seifenblasen in verschiedenen Farben herauspuffen, die Harry versuchte zu fangen. Ab und zu gelang es ihm. Dann platzten die Seifenblasen und pusteten bunten Dampf aus, Harry kreischte vor Lachen und James stimmte ein. Es war ein ganz normaler Halloween-Nachmittag. Abends würden Sirius, Remus und Peter vorbeikommen. Sie hatten geplant zu Abend zu essen und anschließend Harry zu verkleiden, um ihm die Muggeltradition zu zeigen. Sie hatte vor kurzem die Diskussion über die Kostümwahl für Harry gewonnen – allen Ernstes.. wieso wollte James, dass Harry als Toilette ging. Ganz ehrlich! Mein Sohn geht nie im Leben als Wasserklosett verkleidet auf die Straße! Das Tomatenkostüm lag schon auf dem Küchentisch bereit.

Als eine blaue Seifenblase platzte und Harry wieder zu kichern anfing, hörte sie ein leises Klopfen am Wohnzimmerfenster. Eine braune Eule saß dort mit einem Brief am Bein.

Das kann nur von Dumbledore sein, dachte sie und ließ die Eule herein.

Dumbledore möchte uns sehen', sagte sie, den Brief überfliegend. ‚Wir sollen zu ihm ins Hauptquartier kommen.'
‚Jetzt?', James puffte noch einige bunte Seifenblasen aus seinem Zauberstab und ging zu seiner Frau hinüber. ‚Was er wohl von uns will?'

Das werden wir ja gleich sehen.. Wir sagen nur kurz Sirius bescheid, dass er auf Harry aufpassen soll und dann können wir gehen. Je früher wir loskommen, desto eher sind wir wieder zu Hause. Mir ist nicht wohl dabei, Harry hier allein zu lassen.'

Mir auch nicht, aber mit Sirius wird ihm nichts passieren', mit diesen Worten warf er etwas Flohpulver in den Kamin und rief ‚Grimauldplatz Nr. 12, Sirius Black'.

Nach einigen Minuten zog er sein verrußtes Gesicht wieder aus dem Kamin heraus und seufzte.

Sirius hat heute ein Date. Remus ist bei seiner Familie, d.h. ich flohe Peter kurz an, dass er vorbei kommen soll.'

Lily stürmte die die Treppe hinauf, den Flur entlang, ihr Mann dicht auf ihren Fersen, doch es war zu spät. Sie sah ein grelles, Übelkeit-erregendes, grünes Licht aus Harrys Zimmer kommen, ein kaltes Lachen…

„HARRY!"

„Lily! Ssssch.. ist schon okay, alles ist okay!" Sie schluchzte auf und schon schlangen sich warme Arme um ihrem zitterndes Körper und drückten sie an einen ebenso warmen Körper.

„Es war nur ein Traum. Ssssch…" James hielt seine Frau im Arm. Sie zitterte so stark, dass er sie noch enger an sich zog.

Er brauchte sie gar nicht zu fragen, worum es in dem Albtraum ging. Es war immer derselbe. Eine stetige Erinnerung an jenen Abend vor fünfzehn Jahren. An den Abend als ihr Sohn Harry durch den Verrat eines sogenannten Freundes zum Opfer Voldemorts wurde. Selbst nach so langer Zeit ließen die Albträume weder ihn, noch seine Frau in Frieden. Ob im Hellen oder im Dunklen, bei Tag oder Nacht. Sah er einen Kinderwagen, dachte er an Harrys Kinderwagen, in dem er so gerne saß. Sah er das Grün der Bäume, dachte er an Harrys vor Lachen strahlende Augen, die so aussahen wie große runde Smaragde, die Augen seiner Mutter, hörte er das helle glückliche Kichern seines Sohnes. Einfach alles erinnerte ihn an sein Baby.

Sie hatten Peter vertraut, dachte er wütend. Sie hatten ihm das Wertvollste anvertraut, was sie besaßen, was sie je in ihrem ganzen Leben besessen hatten – das Leben ihres Sohnes. Und er hatte sie betrogen. Er hatte ihnen ihre Lebensfreude genommen.

Er war ihr Freund gewesen! Er wurde zu Familienessen eingeladen, zu Geburtstagen. Verdammt, er war sogar einer der ersten, die Harry halten durften, als er überglücklich seinen besten Freunden seinen Sohn zeigte – sein Ein und Alles. Doch es war alles nur eine Farce. Peter hat das Leben Harrys auf dem Gewissen. Und er, James, hatte es nicht vorhergesehen.

„Er war wieder da, James! Voldemort! Ich hab sein Lachen gehört! Ich hab das Licht gesehen. Ich hab das Zischen gehört. Wieso, James? Wieso muss ich immer wieder mit ansehen, wie er meinen Sohn tötet?" Lily schluchzte erneut auf und vergrub ihr Gesicht in James Schulter.

„Ich weiß es nicht, Lily. Ich weiß es nicht."

Heute war Halloween, 1996. Heute war der Todestag ihres Sohnes. Heute war der Todestag der beiden Personen, die sich weinend um drei Uhr nachts hielten und hofften, dass der Albtraum wirklich nur das war – ein Albtraum.