Prologue

Er musste sich beeilen, bevor man ihn erwischte! Sonst würde dieser Tag für ihn noch ein grauenvolles Ende finden!
Fahrig packte Severus Snape seine Sachen zusammen, verstaute Fläschchen und Behälter wieder in den Regalen und löschte das Feuer unter seinem Kessel. Dann schüttete er den letzten Rest des Trankes in den Ausguss und verstaute den leeren Kessel in einem der unteren Schränke. Er durfte keine verräterischen Spuren hinterlassen!
Plötzlich vernahm er ein leises Geräusch und hielt mitten in der Bewegung inne, um zu lauschen. Er hatte sich also nicht getäuscht. Sie waren bereits viel zu nah.
Eilig huschte er durch einen verborgenen Hinterausgang aus dem Klassenzimmer für Zaubertränke und hastete den Flur entlang.
Nur weg von diesen Wesen, die sich anschickten, ihm grauenvollen Höllenqualen zu bereiten. Er hatte geglaubt, er wäre rehabilitiert und müsste sich nicht mehr irgendwelchen übermenschlich schrecklichen Leiden aussetzen. Aber scheinbar sahen das irgendwelche höheren Mächte vollkommen anders.
Hinter sich hörte er einen seiner Peiniger lautstark seinen Namen rufen. „Snape? Wir wissen, dass Sie hier irgendwo stecken!"
Sie waren also schon in seinem Klassenzimmer! Zum Glück hatte er noch Zeit gefunden, sein Büro magisch zu sichern. Sonst wäre diese Horde dort wahrscheinlich als nächstes eingefallen und hätte vermutlich all seine Sachen durchwühlt!

„Snape! Kommen Sie schon raus! Seien Sie doch nicht so schüchtern!"
Oh, wie er McGonagall hasste! Wo hatte sie nur diese drei aufdringlichen Nervensägen her? Er hätte nie gedacht, dass er einmal in seinem Leben die Gesellschaft des eingebildeten Gilderoy Lockhart einer anderen Person vorziehen würde. Doch gegen diese Plagen wirkte der ehemalige Schriftsteller und Frauenschwarm wie ein angenehmer Zeitgenosse, mit dem man sich gerne unterhielt.
Beim Merlin, wie er diese übertriebene Fröhlichkeit und unerträgliche Liebenswürdigkeit der neuen Lehrer für Arithmetik, Alte Runen und Verteidigung gegen die Dunklen Künste verabscheute! Und heute, am Heiligen Abend, hatten die Frau und die beiden Männer, die ihn als ihren „besten Freund" bezeichneten, auch noch beschlossen, ihn zum Trinken zu animieren, um ihn etwas aufzulockern.
Nicht dass er etwas gegen Alkohol einzuwenden hatte. Nein, manchmal war ein gehöriger Schluck Feuerwhisky die einzige Möglichkeit, diese drei verhassten Kollegen ertragen zu können. Doch auf keinen Fall wollte er „aufgelockert" werden! Sogar Dumbledore und seine verrückten Ideen für die Feiertage waren wesentlich leichter zu überstehen gewesen.
Und Minerva McGonagall wagte auch noch zu behaupten, er würde übertreiben! Natürlich! Hatte sie denn nicht bemerkt, dass er sogar lieber den unfähigen Longbottom, den dümmlichen Hagrid und die verrückte Trelawney um sich hatte?
Wahrscheinlich wollte sie ihn nur ärgern!

Inzwischen hatte er einen der Ausgänge erreicht und floh regelrecht aus dem Gebäude. Er sah nicht zurück, obwohl er sich nicht sicher war, ob seine Verfolger ihm immer noch auf den Fersen waren. Er wusste, so etwas konnte fatal enden und verschwendete wertvolle Zeit.
Obwohl der Schnee auf den Wiesen des Schlossgeländes in der abendlichen Kälte teilweise vereist war, beschleunigte er seine Schritte. Die Gefahr, dass sie in diesem Moment aus einem der Fenster blickten und ihn erspähten, war einfach zu groß.
Zu einem Zeitpunkt wie diesen, in dem er sein Ziel direkt vor Augen hatte, aber noch viel zu weit entfernt davon war, konnte es verhängnisvoll sein, wenn das unerträgliche Trio ihm nach draußen folgte. Nicht auszudenken, wenn sie es schafften, ihn einzuholen, bevor er im Verbotenen Wald verschwunden war!
Zu seinem Glück schaffte er es, trotz den schwer zu erkennenden, vereisten Stellen in der hohen Schneedecke nicht auszurutschen, während er den Abhang hinunterraste.
Auf seinem Weg kam er schließlich gerade in dem Moment an Hagrids Hütte vorbei, als der Halbriese aus seiner Behausung trat. Obwohl er ihm nur einen kurzen Blick zuwarf, konnte er erkennen, dass Rubeus sich mal wieder auf äußerst lächerliche Weise herausgeputzt hatte: Seine Kleidung war in den hellleuchtenden Farben Rot und Grün gehalten und funkelte und blinkte an vielen Stellen, als hätte sich der Wildhüter eine magische Lichterkette umgehängt. In dem dunklen Bart, der allmählich immer mehr ergraute, glitzerte feiner weißer Staub.
Und dann diese verfluchte Weihnachtsmütze! So eine hatte ihm Crow auch aufsetzen wollen! Aber lieber ließ er sich von einem Werwolf beißen!

„Sie haben mich nicht gesehen!", zischte er Hagrid zu, bevor er zwischen den Bäumen verschwand.
Er spürte den erstaunten Blick des Halbriesen in seinem Rücken, bevor dieser mit einem überraschten „In Ordnung" antwortete. Dies waren die letzten Worte, die er hörte, bevor er in die friedliche und vor allem nichtmenschliche Geräuschkulisse des Waldes eintauchte.
Erst jetzt gestattete er es sich, langsamer zu werden und einen kurzen Moment stehen zu bleiben, um auf das Schloss zurückzublicken. Er hätte nie für möglich gehalten, dass er einmal einen fröhlich feiernden Dumbledore vermissen würde. Der alte Mann hatte ihn wenigstens nicht dazu gezwungen, an albernen Partyspielchen teilzunehmen oder sich hässliche Mützen aufzusetzen.
Vorsichtshalber beschloss er, noch etwas weiter in den Wald hineinzugehen. Er kannte aus seiner eigenen Schulzeit eine versteckte Lichtung, die nur dann zu entdecken war, wenn man wusste, wo sie lag. Er war schon lange nicht mehr dort gewesen, aber er würde den Ort mit Sicherheit wiederfinden. Immerhin hatte ihn Lily einst dorthin geführt.
Der Gedanke an sie erinnerte ihn wieder an das Kästchen, das sie ihm hinterlassen hatte und das immer noch ungeöffnet in dem unsichtbaren Tresor in seinem Büro lagerte.
Es überraschte ihn, dass ihn der Anblick dieser Schatulle mit größerem Unbehagen erfüllte als eine Begegnung mit dem Dunklen Lord zu der Zeit, als er für Dumbledore als Spion gearbeitet hatte.

Um sich abzulenken, konzentrierte er sich ganz darauf, den richtigen Weg vor seinem inneren Auge zu visualisieren, obwohl er ihn selbst im Schlaf hätte gehen können. Dennoch ließ er sich Zeit. Er machte sich keine Illusionen, dass diese wunderbare Weihnachtsfeier schon in den nächsten Stunden beendet sein würde. Eigentlich müsste er bis morgen früh nach der Bescherung warten. Aber wenn er Glück hatte, konnte er sich in vier Stunden wieder reinschleichen, wenn die meisten Lehrer und älteren Schüler zu betrunken waren, um ihn zu bemerken.
Nach etwa einer dreiviertel Stunde gemächlichen Spaziergangs erreichte er die Lichtung. Diese wirkte verwilderter als früher. Die Äste der Bäume ragten nun mehr in sie hinein und waren teilweise miteinander verwachsen, sodass das Mondlicht das knöcheltiefe Gras kaum erreichte. Doch trotz dieser Gegebenheiten war der breite Baumstumpf in der Mitte der Lichtung immer noch von weitem zu erkennen.
Snape schritt auf ihn zu, warf einen kurzen prüfenden Blick auf die Oberseite und setzte sich auf den mit dichtem Moos bewachsenen Stumpf. Dann holte er unter seinem Umhang seinen Zauberstab und ein Buch hervor. Er legte das Buch aufgeschlagen auf seinen Schoß und richtete seinen Zauberstab darauf. „Lumos."
Während er las, gelang es ihm für kurze Zeit, die Gedanken an Lily und das Kästchen zu verdrängen und zu vergessen, wo er sich befand und wer ihm diesen Platz gezeigt hatte.

Doch nach etwa einer Stunde, also viel zu schnell, holte ihn die Realität in Gestalt von Professor McGonagall wieder ein. „Ihre Freunde haben beschlossen, dem Eberkopf einen Besuch abzustatten. Sie haben also nun Gelegenheit, sich unbemerkt wieder ins Schloss zu schleichen."
Überrascht sah er auf und schlug dabei das Buch zu.
Die Schulleiterin schien seinen Blick falsch zu verstehen. „Was ist? Glauben Sie, Sie wären der Einzige, der einen einfachen Auffindungszauber sprechen kann?"
Er runzelte ungehalten die Stirn und stand auf. „Ich wusste gar nicht, dass Sie immer noch dieses überdurchschnittlich ausgeprägte Verlangen danach verspüren, jemanden zu bemuttern. Oder hat Dumbledore Ihnen etwa aufgetragen, mich im Auge zu behalten?"
Sie warf ihm einen genervten Blick zu. „Blödsinn. Ich wollte Ihnen nur die Gelegenheit geben, ins Schloss zurückzukehren, bevor Sie noch eingeschneit werden."
Er zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. „Wirklich? Das wäre erstaunlich gewesen. Immerhin schneit es überhaupt nicht."
Ohne ein weiteres Wort marschierte er an Minerva vorbei in den Wald. Er wartete nicht darauf, dass sie ihm folgte, sondern eilte voran, als wäre er auf der Flucht. Tief in seinem Inneren war er wütend darüber, dass sie die Lichtung betreten hatte. Selbst wenn die Möglichkeit bestand, dass sie schon dort gewesen war: Es fühlte sich an, als hätte sie gerade Lilys und seinen geheimen Treffpunkt entweiht.

Er ließ sie schnell hinter sich, schaffte es sogar, seinen Unmut soweit zu verdrängen, dass er gar nicht mehr darauf achtete, ob sie denselben Weg nahm wie er.
Auf diese Weise gelangte er innerhalb einer halben Stunde ins Schloss zurück und steuerte auf direktem Weg sein Büro an. Erst als er die Tür hinter sich verschlossen hatte, gestattete er es sich, erleichtert aufzuatmen.
Dann spürte er, dass sich während seiner Abwesenheit irgendetwas in dem Raum verändert hatte. Irritiert sah er sich um.
Doch bevor er die Veränderung entdecken konnte, machte sie selbst auf sich aufmerksam. „Du hast das Geschenk immer noch nicht aufgemacht, Severus."
Blitzschnell wirbelte er herum und erblickte zu seinem Missfallen Dumbledores Porträt, das irgendjemand direkt über der Tür aufgehängt hatte. McGonagall! Deswegen hatte sie ihn also von seinem Versteck im Wald wegholen wollen!
Sofort versteinerte sich seine Miene. „Seltsam. Und ich dachte, die Tradition verlangt, dass man die Geschenke erst am Morgen des fünfundzwanzigsten Dezember aufmachen darf.", kommentierte er sarkastisch.
Das Bild des ehemaligen Schulleiters sah ihn tadelnd an. „Du wirst doch keine Angst vor so einer kleinen Schatulle haben, oder?"
Snape schnaubte verächtlich. Allmählich ging ihm Albus mit seiner grenzenlosen Neugier auf die Nerven. „Du hättest sie schon selbst öffnen sollen, wenn du unbedingt wissen wolltest, was sie enthält, alter Mann."

Er wollte sich schon abwenden und das Porträt einfach ignorieren, als Dumbledore zu einem weiteren Schlag ausholte. „Was, glaubst du, könnte sie so Schlimmes enthalten? Erinnerst du dich? Ich sollte sie dir unter der Voraussetzung überreichen, dass du die Seiten wechselst und den Orden im Kampf gegen Voldemort unterstützest. Denkst du wirklich, dass sie dich unter diesen Umständen mit ihrem Geschenk verspotten oder dir Vorwürfe machen wollte?"
Snape drehte sich von ihm weg. „Es hat keine Bedeutung mehr für mich, was dieses Kästchen enthält. Lily ist tot. Daran wird auch dieses Ding nichts ändern."
Er hörte den ehemaligen Schulleiter seufzen. „Wenn es wirklich keine Bedeutung mehr für dich hätte, möchte ich etwas wissen: Warum hast du dann Harry all die Jahre beschützt, obwohl er für dich das Inbild seines Vaters war? Und warum warst du bereit zu sterben, damals in der Nacht vor über sieben Jahren, als Nagini dich angriff? Warum hast du dann für sie gekämpft, wenn es keine Bedeutung mehr für dich hat, was sie über dich dachte?"
Ungehalten wandte Snape sich um, doch das Bild war plötzlich leer. Voller Wut verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Wie konnte Albus verschwinden und ihn mit seinen Gedanken einfach so allein lassen? Und ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu rechtfertigen?
Weil er Recht hatte, antwortete eine kleine Stimme in seinem Inneren.
Aufgebracht durchquerte er sein Büro, schnappte sich im Vorbeilaufen die kleine Trittleiter neben seinem Schreibtisch und stellte sie vor das Regal direkt gegenüber der Tür. Er stieg trotzig die Sprossen hinauf, zog seinen Zauberstab und richtete diesen auf eine scheinbar leere Fläche auf dem obersten Regalbrett. Ein paar gemurmelte Zaubersprüche später wurde ein kleiner Tresor sichtbar. Auf die Berührung seines Zauberstabs hin öffnete sich das Schloss und die Tür schwang auf.

Zuerst zögerte er, als er die Schatulle erblickte. Dann schimpfte er sich einen Narren und holte sie mit einem Ruck aus dem Tresor. Kurz und schmerzlos. Genau wie man ein Pflaster abriss.
Dennoch war er froh, als er sie wenige Sekunden später auf seinem Schreibtisch abstellen konnte. Er wusste, es war nur eine Einbildung, aber für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck gehabt, sich an dem Kästchen die Finger zu verbrennen.
Nervös betrachtete er den Gegenstand, der ihn in den letzten Wochen häufig bis in seine Träume hinein verfolgt hatte. Hatte Dumbledore Recht und bot ihm dieses Geschenk wirklich die Möglichkeit, mit seinen Schuldgefühlen Lily gegenüber abzuschließen? Und wenn ja, wollte er dies überhaupt? Oder war ihm das Risiko zu groß, sie oder seine Schuld danach vielleicht für immer zu vergessen?
Er schnaubte frustriert auf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Was war der Zweck dieser Schatulle? Enthielt sie nur ein altes Erinnerungsstück, das Lily hatte loswerden wollen? Oder etwas viel Unerträgliches?
Dumbledore hatte erklärt, dass Lily die Aushändigung des Kästchens an ihn an die Bedingung geknüpft hatte, dass er sich gegen Voldemort wandte. Was zum Teufel hatte sie ihm unter diesen Umständen so Dringendes mitteilen wollen, das sie ihm nicht hätte persönlich sagen können? Oder hatte sie geahnt, dass es ihr Tod sein würde, der ihn gegen den Dunklen Lord aufbringen würde?

„Wenn du dieses verdammte Ding endlich öffnen würdest, wüsstest du es."
Mit einem genervten Knurren drehte er sich zu Dumbledores Porträt um und funkelte den ehemaligen Schulleiter, der inzwischen in sein Bild zurückgekehrt war, wütend an. „Ich dachte, Sie wollten mich alleine lassen, Albus.", siezte er ihn, um seine Worte noch verächtlicher klingen zu lassen.
Doch der alte Mann lächelte ihn nur geduldig an. „Ich wusste, du würdest noch etwas Zeit brauchen, und habe mir inzwischen den Weihnachtsbaum in der Großen Halle angesehen."
Allmählich kam sich Snape wirklich lächerlich vor. Pah, das war ein dämliches Kästchen, nicht einmal aufwendig verziert, sondern nur ein dummer Gegenstand aus Holz, den man grün angestrichen hatte.
Mit einer abfälligen Handbewegung öffnete er die Schatulle...
und bereute es sofort. Kaum war der Deckel vollständig aufgeklappt, schoss aus dem Inneren des Kästchens ein rotgoldener Blitz hervor und traf den Zaubertrankmeister mit voller Wucht in die Brust. Er wurde quer durch den Raum geschleudert und prallte mit dem Rücken voran auf dem Boden auf. Der Schmerz ließ ihn gequält die Augen schließen, doch auch in diesem Zustand spürte er, wie eine Woge aus gleißendem Licht auf ihn zukam und ihn bald vollkommen einhüllte.
Genau in diesem Moment verlor er das Bewusstsein.