1.

Geld oder Liebe? Eine Frage, in geschwungener Schrift mit übermäßig vielen Kringeln in elegantem Schwarz auf die Vorderseite einer Karte aufgedruckt. Darunter ist ein Foto zu sehen, das einen adrett ausgestreckten Fuß zeigt, wie ein Versprechen einer Annonce für Strümpfe - schwarze Netzstrümpfe, von einer großen, schwieligen Hand glattgestrichen. Die Blässe der Haut steht in einem verheißungsvollen Kontrast zu dem Hintergrund des Motivs, dunkler Seide, die Licht reflektiert. Es ist hypnotisierend, der Hand zuzuschauen, wie sie das Knie herabwandert und den Strumpf entlangkrabbelt. Aufregend und irritierend zugleich, ein Bild, das sich selbst widerspricht.

Vollkommen unschuldig liegt sie vor der Tür eines kleinen Reihenhäuschens, das sich kaum von den anderen Häusern in diesem schmucken Vorort unterscheidet, und reflektiert das Sonnenlicht des Morgens, der verhalten zwischen den Wolken hindurchspäht und Wärme verspricht.

Es wird noch eine Stunde dauern, bis eine junge, rothaarige Frau die Tür öffnet und den Haufen von Briefumschlägen vom Boden aufklaubt und beim Anblick der Karte innehält, die Stirn runzelt und die Tür hinter sich zuschlägt.

Harry Potter sitzt an einem eichenen, kleinen Schreibtisch vor einer dampfenden Tasse, aus der ein starker, belebender Duft entströmt und zappelt herum. Er weiß, dass er diese verdammten Formulare ausfüllen muss, aber er hasst es, weil das Wetter so schön ist und er sich nach dem langen Winter so unbeweglich fühlt.

Er nimmt einen Schluck Kaffee und hofft, aus den Buchstaben, die ihm inzwischen schon Streiche spielen und um seine Sicht herumtanzen, schlau zu werden. Er will sich ihnen mit einem leidenden Gesichtsausdruck wieder zuwenden, als er Ginny in den Raum treten hört.

Während er sich umwendet und sie ansieht, lacht sie hell und klar auf. Er weiß, sie lacht ihn aus, weil er sich so kindisch anstellt.

Sie kommt näher und legt die Post auf den Papieren ab, die er gerade bearbeitet.

"Oh nein, nicht noch mehr! Gib' es zu, du willst mich umbringen."

Ginny lacht ein weiteres Mal und gibt ihm einen federleichten Kuss auf die Wange. Bevor sie beschwingt hinausrennt, verabschiedet sie sich von ihm und erinnert ihn an sein Versprechen, die Papiere zu bearbeiten, bis sie aus Hogwarts zurückkehrt. Harry sieht aus dem Fenster, sagt nichts und verdreht die Augen.

In dem Moment, in dem Harry danach greift, verliert die Karte ihre Unschuld. Er schluckt und seine Hand beginnt zu zittern. Sein Puls verschiebt sich allmählich. Die Sekunden zerinnen zäh und auf einmal wird ihm klar, dass er ihr nicht mehr entrinnen kann, wenn er nicht sofort -

Er spingt so hastig auf, dass er den Stuhl umwirft und stolpert fast darüber, als er aus dem Raum rennt, ins Wohnzimmer stürzt, als würde sein Leben davon abhängen.

Mit einem Fluchen landet die Postkarte in dem heimeligen Kamin. Harry reißt seinen Zauberstab aus der Hosentasche, schreit: "Incendio!" und sinkt zitternd in sich zusammen.

Die Flammen beobachtend, die an dem Pappstück lecken, umarmt er seine Knie und schnauft. Erfolglos versucht er, sich zu beruhigen. Es ist nichts passiert. Aber der Schweiß, der sich in seinen Schläfen sammelt, straft seine Gedanken lügen.

Erst lange, nachdem die Sonne untergegangen ist, kann Harry sich von der erkalteten Asche losreißen. Er ist fast wieder vollkommen ruhig, fast wieder der Alte, bis auf die kleine, dünne Stimme, die an seinen Gedärmen zupft und wie ein Mantra den Spruch auf der Karte widerholt.

Plötzlich entflammt sein Kamin erneut und Harry zuckt schuldbewusst und verängstigt zusammen, aber es ist nur Rons Kopf aus Glut, der sich scharf von der Asche abhebt.

2.

Harry trägt einen Regenmantel und flucht, als wäre er ein Mitarbeiter des Komitees für Muggelgerechte Entschuldigungen, während er mit Ron an seiner Seite durch Pfützen watet und bis auf die Knochen nass wird.

"Reg' dich ab, Mann!" Ron hebt beschwichtigend die Hände vor die Brust. "Was würdest du tun, wenn ich so mies drauf wäre?"

Harry dreht sich um und bläst vor Empörung seine Wangen auf, obwohl er weiß, wie lächerlich er dabei aussieht. "Also, auf jeden Fall würde ich dich NICHT durch den Weltuntergang schleifen!" Seine Stimme hat einen leicht hysterischen Unterton. Er bemerkt das und entschließt sich, nichts mehr dazu zu sagen.

"Übertreibst du da nicht etwas? Ein bisschen Regen schadet keinem und ausserdem - sobald ich die perfekte Kneipe für unseren Männerabend" - (Harry schnaubt wie ein verschnupftes Nashorn) - "gefunden habe, sind wir doch eh wieder im Trockenen."

Seit Ron und Harry im Ministerium arbeiten, ist ein Männerabend für Ron das Mittel gegen jedes Leiden. Schon am Anfang fand Harry die Bezeichnung bescheuert, weil sie beide noch Teenager sind und sich weder Ginny noch Hermine überhaupt in England aufhalten. Es ist einfach nur ein weiterer Abend, an dem Ron Starkbier trinkt und mit rotem Kopf Vorträge hält, wie schnell man von Schnaps betrunken wird.

Die Sintflut minimiert sich zu einem Nieselregen, der die Londoner Innenstadt mit einem feuchten Nebel bedeckt, der von den Bordsteinen zurückgeworfen wird. Ron bleibt vor einem hellerleuchteten Lokal stehen und stößt Harry seinen Ellbogen in die Seite.

"Wollen wir uns kurz ins Warme setzen und warten, bis der Schauer vorbei ist?"

Harry brummt unfreundlich, eilt aber in das Café und rutscht dabei auf den dreckig feuchten Steinfliesen aus, die dem ansonsten einladenden Lokal einen heruntergekommenen Anstrich verliehen. Ron sammelt ihn lachend wieder vom Boden auf, aber Harry kann ihm das nicht auch noch verzeihen. Der komplette versaute Abend ist seine Schuld.

Eindeutig verstimmt schlittert er mit quietschenden Schuhen zu dem einzigen freien Tisch am Fenster, lässt sich auf das rote Plastik der Sitzbank fallen und starrt verbissen hinaus. Wieder gestärkt jagt der Regen die Menschen die Straßen entlang und prasselt deprimierend gegen die Fenster. Ein Männerabend wie jeder Andere.

"Wirklich nicht dein Tag heute, was?" Ron lächelt entschuldigend und stellt einen großen Becher Milchkaffee vor Harrys Nase ab. "Erzähl' mir, was passiert ist."

Um Zeit zu schinden, pustet Harry auf dem Sahnehäubchen seines Kaffees herum und beobachtet, wie die feinen Schokoladenflocken sich dekorativ auf dem Weiß verteilen. Er überlegt fieberhaft, was er Ron sagen soll. Die Wahrheit scheidet definitiv aus; Harry hat genau einen Versuch gebraucht, Ron von seinen geheimen Vorlieben zu erzählen, um herauszufinden, dass sie ihn auf eine phobische Art durcheinanderbringen. Es gibt Lustigeres, als den ganzen Abend Rons unsichere Fragen zu beantworten.

"Ginny ist heute wieder nach Hogwarts -", beginnt Harry, als Ron ihn auch schon unterbricht. "Verstehe!"

Ron nimmt einen Schluck von seiner Schokolade und lächelt wissend. "Und genau das ist der Grund, warum ein Männerabend Wunder wirkt! Heute Nacht wirst du lachen und singen, Harry, denn wir kennen kein Maß!"

Wieder verdreht Harry die Augen und heftet seinen Blick auf die nassen Straßen. Er wünscht sich unwillkürlich, wieder dort draußen zu sein, einfach nachzudenken und zu laufen, um den Kopf freizukriegen, denn er ahnt, dass dieses Unterfangen in dem Moment hoffnungslos würde, in dem Ron anfängt, davon zu schwafeln, wie toll es ist, ein Mann zu sein und dabei gar nicht merkt, dass er nur die Phrasen widerholt, die Malfoy benutzt, wenn er von Reinblütern schwärmt.

"Es ist eine kleine Revulotion, nicht wahr, Harry? Wir beide gemeinsam können die ganze Welt verändern. Ich bin der Planer und wir nutzen deinen Einfluss, um alle zu umgarnen und ihnen unsere Ideen in die Hirne zu pflanzen." Ron grinst wie ein kleiner Junge.

"Was willst du denn verändern?", stößt Harry genervt zwischen zwei Schlucken hervor. In ihm keimt ein Verdacht, der ihm ganz und gar nicht gefällt und sich zu bewahrheiten scheint.

"Wie, verändern? Nichts will ich verändern, die Welt ist super. Aber denke nur, was wir alles könnten." Der erhobene Zeigefinger, der vor Harrys Nase im Takt der Worte tanzt, kratzt an seinem Nervenkostüm.

"Wir wollen zahlen!", ruft Harry laut in Richtung Theke. Ron protestiert lautstark und trinkt hastig seine russische Schokolade aus. "Du machst dich lächerlich, wenn du dich in einem Café betrinken willst -", knurrt Harry, aber Ron untebricht ihn erneut.

"Wer macht sich denn hier lächerlich? Mann, du übertreibst total, wenn du dich so anstellst - hast du schonmal darüber nachgedacht, für wen ich das hier alles mache?", schimpft Ron. Harry sieht ihn nicht an. "Siehst du."

Während Harry der Kellnerin das Geld in die Hand drückt, beobachtet er aus den Augenwinkeln, wie Ron schnell nach dem Kaffee, der sich schlussendlich doch als Irish Coffee entpuppt hatte, greift und an dem Strohalm nuckelt, als sei er ein Lutscher. Rons Ohren sind bereits verdächtig rot.

Es ist nicht so, als würde Harry ihm jeden Spaß missgönnen oder als würde er sich besonders um das scheren, das Andere von ihnen denken, vielmehr führt Rons Leidenschaft für alkoholische Getränke dazu, dass er sich immer mehr vor dieser Art Zeitvertreib verschließt. Er versucht, sich selbst zu besänftigen, ist dabei jedoch wenig erfolgreich und es bleibt dabei: Er fürchtet sich davor, dass Rons Fokus zu einer Sucht wird. Kein Wochenende vergeht mehr, ohne dass ein Kater eine Rolle spielt.

Sie gehen schweigend durch den Regen und die Nacht. Beide hängen ihren Gedanken nach. Auch Ron ist jetzt schlecht gelaunt, seine Augenbrauen haben sich zusammengezogen und er beißt auf seiner Lippe herum. Harry weiß, dass es nicht mehr lange dauert, bis eine grausame Wahrheit aus ihm herausbricht. Er kennt ihn lange genug, um die unmissverständlichen Warnzeichen lesen zu können.

Anders als früher möchte Harry keinen großen Streit, möchte sich nicht mehr abreagieren. Er wünscht sich nur, die schöne Realität, die er sich gezimmert hat, aufrecht zu erhalten. Auch Harry knabbert jetzt an seiner Lippe.

"Ron, hör' zu, es tut mir leid. Ich bin heute einfach nur am Ende", bringt er zerknirscht hervor. Es fällt ihm noch immer ungewohnt schwer, sich zu entschuldigen und er kann einen gewissen Stolz nicht aus seinem Gesicht vertreiben, als er Ron ansieht.

"Wird das jetzt immer so sein?", fragt Ron düster. "Du fährst mich an, obwohl ich dir nur helfen will und stellst dich an, als würde ich dir sonstwas antun? Weißt du, an wen du mich erinnerst?"

Harry schüttelt den Kopf und würde sich am Liebsten die Ohren zuhalten. Um Nichts auf der Welt will er erfahren, an wen er seinen besten Freund erinnert, wenn er einen Hassanfall hat. Leider reagieren seine Arme zu langsam und kurz bevor sie an seinem Kinn ankommen, ist es raus.

"An Snape in seinen schlimmsten Zeiten! Du bist genauso unerträglich, genauso spaßverderbend und gemein!" Ron klingt wie ein kleines Kind, trotzig und unleidlich, und obwohl Harry Snape alles verziehen hat, obwohl er ihn insgeheim als den einzigen Helden betrachtet, den es je gab, fühlt er sich verletzt, weil Ron Snape hasst.

Harry steht stocksteif da, lässt sich vollregnen und von den Passanten herumschubsen und verfolgt verblüfft Rons wütenden Stechschritt, während er tiefer in die Stadt eilt. Erst, als er die wehenden roten Haare nicht mehr sehen kann, dreht er sich um und läuft nach Hause, wobei er versucht, möglichst gedankenlos zu sein.

Als er die Tür hinter sich zuknallt und die nassen Sachen auf dem Weg zum Badezimmer verteilt, erlaubt er es sich, bewusst durchzuatmen. Der alptraumhafte Teil dieses Abends ist jetzt offiziell vorbei, er ist allein und nun kann ihm Niemand mehr Irgendetwas verderben. Er würde sich in die Badewanne legen, langsam wieder warm werden, sich einen Tee machen, danach ab ins Bett und einen Krimi lesen. Bloß Nachdenken darf er nicht.

3.

Am nächsten Morgen, einem Montag, stellt Harry mehrere Dinge fest.

Erstens, dass er bei Ron nicht mehr willkommen ist. Hustend und sprotzend sitzt er vor dem Kamin, das Gesicht rußverschmiert, und ärgert sich endlos darüber, dass Ron ihn ausgesperrt hat. Was hatte er ihm noch einmal angetan?

Zweitens, dass er schon bei seiner Familie gejammert hat, offenbar besonders bei Ginny. Ihr Gesicht bröckelt aus seiner Feuerstelle und bevor Harry sich darüber freuen kann, ermahnt sie ihn bereits, sich bei Ron für sein hässliches Betragen zu entschuldigen und dass es ungerecht war, ihn so zu behandeln, wenn er helfen will.

Und drittens, dass er seine dunkle Seite am Vortag erfolgreich zurückgedrängt hat, um heute wieder mit ihr konfrontiert zu werden, in einem schwachen, einsamen Moment voller Selbstzweifel. Eine weitere Postkarte liegt auf der Fußmatte und Harry fällt erst auf, was es damit auf sich hat, als es zu spät ist.

Es muss witzig aussehen, wie er da im Pyjama auf der Außentreppe seines kleinen Hauses steht, eine Postkarte in der einen Hand und die andere auf seinen Augen. Der Puls ist wieder da, genau da, wo er nicht sein soll, die Panik kriecht wieder seine Beine hoch und lässt sie zittern.

Und dann grüßt eine Nachbarin im Vorbeigehen (er hat ihren Namen vergessen) und er grüßt verschüchtert zurück und eilt wieder ins Haus. Hastig atmend lässt er sich gegen die Tür sinken und putzt nervös seine Brille. Er weiß, dass er dieses Bild nicht mehr vergessen kann.

Harry glaubt zu wissen, dass der Alptraum erst jetzt richtig beginnt und fragt sich, wie er ihm begegnen soll und ob es auch nur einen Menschen gibt, an den er sich jetzt wenden könnte.

4.

Der Junge hat dunkles Haar, ob es braun oder schwarz ist, ist wegen den Sepiatönen, die dieses Bild dominieren, unklar. Es ist schulterlang und wellt sich am Ende ein wenig. Von dem Gesicht ist nur der Mund zu sehen, der träge lächelt, der Rest ist nach oben hin abgeschnitten. Sein Hals ist schlank und filigran wie seine Schultern. Er trägt ein glänzendes Korsett, das vorne nachlässig mit dicken Kordeln geschnürt ist und einen Teil der Brustwarzen freilässt - und noch mehr für die Phantasie. Man sieht nur eine Hand, vor seinem Schritt gespreizt - er trägt Armstulpen aus schwarzem Netz und Nagellack. Es ist nicht erkennbar, ob sein Unterkörper bedeckt ist.

Es ist ein Bild von herausfordernder Perfektion und Harry braucht die Postkarte nicht einmal mehr, um es zu sehen. Erschöpft und von Schuldgefühlen zerfressen liegt er auf dem Sofa und sucht noch immer nach Hilfe, obwohl die Erkenntnis schon lange durch sein Gehirn gesickert ist und ihm jetzt nichts mehr helfen kann.

Ihm fällt auf, wie gelassen er ist, obwohl es ihm vorkommt, als könne ihm nichts Schlimmeres passieren als das und fragt sich, ob er das nicht hätte wissen müssen.

Die Zeichen, die es in seiner Schulzeit gab, sind so unbedeutend und klein, dass er keinen großen Gedanken daran verschwendet hat. Es war ein vereinzeltes Ziehen zwischen den Beinen unter der Dusche, ein leichtes Kribbeln bei Berührungen, das durchaus auch eingebildet hätte sein können und so mancher Zweifel, der aber schnell wieder vergessen war, etwa weil Voldemort gerade wieder angriff oder die Prüfungen näherrückten. So banal, so alltäglich. Und das soll alles gewesen sein?

Schockierend, wie schnell ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann. Wie schutzlos er ist und wie sicher er sich ironischerweise gefühlt hat, weil der Krieg vorüber ist und er endlich leben kann. Wie trügerisch der Frieden ist und wie zerbrechlich die Unschuld.

Er wandert wie ein Geist durch das Haus, das er vor zwei Monaten gekauft hat. Es ist schön und wohnlich, aber es fühlt sich nicht an wie ein Zuhause, wie Hogwarts oder der Fuchsbau. Es ist seltsam unbelebt. Harry kann nicht sagen, ob es der Holzboden ist, der marode wird oder ob seine Beine wieder unsicherer werden, aber der Boden bebt.

Manchmal sitzt er auch mitten auf der Treppe, die in den ersten Stock führt und grübelt über Sexualität nach und das Bild, das er von ihr besitzt, über die paar verschüchterten Fummeleien, die er mit Ginny schnell hinter sich gebracht hat und über deren Ende er sich am Meisten gefreut hat. Es sind immer sehr unwohle Treffen gewesen, mit ausgeschaltetem Licht und einer beinahe ungebührlichen Hast.

Es schmerzt in der Brust, derart abschätzig darüber nachzudenken, aber die Frage, wie er all das hatte übersehen können, drängt sich ihm förmlich auf. Seine bisherigen Erfahrungen widersprechen dem, was er nachts mit sich selbst macht, viel zu sehr.

Harry hat nicht viel gegessen und getrunken, seitdem er grübelt und ihm ist nicht ganz klar, wie lang es her ist, dass er mit Jemandem gesprochen hat. Er fürchtet sich davor, mit Ginny zu sprechen, weil er sich jetzt schon vorkommt wie ein Verbrecher, wie ein gefühlskalter Lügner, der alles tun würde, um sein Leben zu bereichern und seine Welt so zu behalten, wie sie ist. Er hat Angst vor Hermine und ihrer mitfühlenden, aber rechtschaffenen Art, weil er weiß, sie würde sowohl Ginny als auch ihn bemitleiden - und das verdient er jetzt nicht auch noch. Und Ron würde ihm die Tür anzünden und sein Urteil bezüglich Harrys Ähnlichkeit mit Snape bestätigt sehen.

Jetzt wischt er ein weiteres Mal die Asche fort, die ein explodierter Heuler, der ihn daran erinnert, dass er sich freinehmen muss, wenn er nicht zur Arbeit kommt, hinterlassen hat und ihm wird seine Ratlosigkeit mit aller Macht bewusst.

5.

Hermine lächelt erfreut, als sie sich in den Drei Besen auf die ausgebleichte Eckbank an einem der Fenster fallen lässt, die Harry bereits seit mehreren Stunden besetzt, doch nach wenigen Augenblicken fällt es in sich zusammen und lässt ihre Wangen schlaff herunterhängen, wie ein aus dem Leim gegangener Luftballon. Harry stellt fest, dass sie zugenommen hat und dass es ihr ausgezeichnet steht. Er nickt ihr zu, ohne ihre anfangs stürmische Freude zu erwidern und schon erscheint er, der dicke Krater zwischen ihren Augenbrauen.

"Was stimmt nicht mit dir, Harry?" Ihr Ton ist misstrauisch, wie er befürchtet hat. Er schluckt an einem dicken Kloß im Hals herum und kann sie nicht ansehen und auch nicht antworten.

"Du - du weißt, dass Ron schon hier war, betrunken, wie immer, und uns zugejammert hat, wie sehr du dich verändert hast. Und du musst zugeben, etwas ist nicht in Ordnung. Du siehst... grauenhaft aus." Sie tastet sich vorwärts, bis sie das Thema, das sie eigentlich anschneiden will, erreicht. Er erinnert sich an diese Taktik. Sie fürchtet einen Ausbruch seines Temperaments, was sie nicht weiß, ist, dass Harry sich klamm und kalt, verloren und führerlos, aber nicht wütend und unverstanden fühlt. Wieder reagiert er nicht, um zu prüfen, ob er Recht hat.

"Du gehst auch nicht mehr zur Arbeit."

Nichts, warten. Auf Urteile, falsche Schlüsse. Er ist sich sicher, dass sie nicht ahnen kann, was wirklich in ihm vorgeht.

"Du siehst aus, als hättest du seit Tagen weder gegessen noch geschlafen", präzisiert sie ohne ein Zittern in ihrer Stimme. Nach einer Weile lehnt sie sich vor und nimmt sein Kinn in die Hand, um es dann bestimmend hochzudrücken, zwingt ihn, in ihre Augen zu sehen. Nichts trübt ihren Blick, aber ihre Mundwinkel hängen herunter wie ein kleiner perfekter Torbogen.

"Betrügst du Ginny?"

Harry kann nicht verhindern, dass ein triumphierendes Lächeln in seinem Gesicht aufzieht, das sich seltsam bröckelig und schal anfühlt. Schnell versucht er, seinen Kopf abzuwenden, aber sie hält fest und sieht es.

"Du hast nichts mit Schwarzer Magie zu tun, oder?" Ihre Hand zieht sich zurück, als habe sie sich verbrannt.

"Hermine, nein!", ruft Harry mit krächzender Stimme, die er seit Tagen nicht mehr benutzt hat. "Das habe ich bestimmt nicht, ich -" Er bricht ab, denn einige Köpfe haben sich ihnen zugewandt. Zweifelnd sieht er sich um und gibt Hermine ein Zeichen, um zu folgen.

6.

Vor der heulenden Hütte liegt noch ein wenig Schnee. Das Frühlingswetter scheint sich nicht lange gehalten zu haben, denkt Harry, gleichgültig verglichen mit seinen Sorgen. Hermine schnauft hinter ihm den Hügel hinauf und kommt neben ihm zum Stehen. Ihr Gesicht ist von einem zartrotem Schimmer überzogen. Aus den Augenwinkeln beobachtet er, wie sie ihre Hände in die Hüften stemmt und tief Luft holt.

"Wenn ich dir erzähle, was mit mir nicht stimmt, kannst du dann bitte Ginny sagen, dass es mir wirklich Leid tut, aber ich... ein furchtbarer Mensch bin, der sie nicht verdient hat? Und... dass sie das Haus behalten kann... Würdest du das tun?" Mit einem tauben Gekribbel im Körper dreht er sich um und schaut Hermine offen in ihr erstauntes und bestürztes Gesicht und bereut diesen Schritt bereits.

"Egal, was du getan hast, das hat sie nicht verdient." Ihre Stimme ist leise und eindringlich. Insgeheim zollt Harry ihr tiefen Respekt, denn dies weckt seine Schuldgefühle effektiver und vehementer, als Gekreisch es vermocht hätte. "Vielleicht verzeiht sie dir auch - aber das kann sie nicht, wenn du ihr keine Chance gibst."

Harry beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf. "Es macht keinen Unterschied. Ich kann mir nicht verzeihen."

"Du hast Voldemort besiegt und jetzt vergräbst du den Kopf im Sand. Und es macht sehr wohl einen Unterschied, ob du ihr erklärst, dass es nicht mehr geht, weil... anstatt mich einfach mit einem... einem Schlüssel zu ihr zu schicken. Davon mal abgesehen, dass ich deine Drecksarbeit bestimmt nicht gern erledigen will. Weißt du, wie dieser Unterschied heißt?" Die Empörung füllt ihre Wangen mit leuchtendem Rot.

"Hermine, bitte, tu' mir den Gefallen, ich -"

"Der Unterschied -", Hermine macht eine Kunstpause, "heißt Respekt, Harry Potter!"

"- habe herausgefunden, dass ich Männer anziehender finde als Frauen und bin echt am Ende, geliefert, verstehst du?", beendet Harry den Satz, den er vor Hermines Unterbrechung begonnen hat, damit er heraus ist, bevor er sich bremsen kann und Gründe erfinden kann, es zu verschweigen.

Hermine schaut ihn lange an, bis er sich schon fragt, was sie sieht. Dann stößt sie den angehaltenen Atem aus und grollt hörbar.

"Ich hasse es, aber ich helfe dir. Und du findest währenddessen heraus, was du eigentlich vom Leben erwartest." Es klingt nicht, als würde sie ihm helfen wollen, aber das ist er von ihr gewöhnt - sie dreht sich so zackig um und rauscht davon, dass man meinen könnte, er habe sie tödlich beleidigt. Harry sieht ihr nach, bis sich der Himmel zuzieht und den Rest des Tages verschluckt.

7.

Mr. Reddock ist ein Mensch, dem man die unbeschreibliche Gier nach Geld ansieht. Er steht unter einer Gaslaterne, die ihn unvorteilhaft beleuchtet, die Hand, die das Geld hält, auf dem gigantischen Bauch abgelegt und zählt und Harry ist fest davon überzeugt, dass diese Geste typisch für ihn ist. Die goldene Armbanduhr tickt rythmisch hin und her, jedesmal, wenn er den Arm nach vorn wirft und einen weiteren Geldschein nimmt, während das Leckgeräusch, wenn er sich den Finger befeuchtet, für einen schauderhaften Chorus sorgt. Harry schaudert und findet ihn widerlich.

"Und sie behaupten, sie hätten kein Bankkonto, Mr... Potter?", schmatzt er.

Harrys Ablehnung wächst. "Hören Sie, ich zahle bar und möchte keine weiteren Angaben machen, das war so ausgemacht -"

Reddock lacht pfeifend und zuckt bei jedem Ton zusammen. "Ist ja schon gut. Einen Moment -" Seine Hände reichen die Banknoten schneller von der einen zur anderen, jetzt, wo nur noch wenige übrig sind. Nach dem Letzten leckt er seinen Finger erneut ab und schmiert ihn in sein fettiges, eng anliegendes Haar und Harry spürt seine Mundwinkel nach unten sinken.

"Stimmt so. Bittesehr, Mr. Potter -" Er zeigt in den ersten Stock der Bruchbude, vor der sie stehen. Die Fenster mit Balken vernagelt wird sofort klar, dass Harry zuviel bezahlt hat, aber er hat es aus gutem Grund getan. "Sie gehört Ihnen." Reddock streckt seine rechte Hand vor und hält ihm einen rostigen Schlüssel entgegen, der sich falsch in Harrys Hand anfühlt. Er beobachtet, wie der ehemalige Eigentümer seiner Wohnung das Geld blitzschnell in einen Leinensack steckt und davonhüpft. Es hätte ihn weder gewundert noch gekümmert, wenn auf dem Sack ein Dollarzeichen abgebildet gewesen wäre wie in einem zweitklassigen Krimi.

Abgestoßen von alledem steht Harry vor seiner neuen Unterkunft und erholt sich von der Übernahme der Wohnung, die er bislang noch nicht angesehen hat. Eine morbide und objektive Neugier befällt ihn, als er sich fragt, wie er heute Nacht wohl schlafen wird. Und wieviele unregistrierte Mitbewohner er wohl hat. Und zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges ist ihm klar, wieviel unberechtigtes Glück er bisher gehabt hat. Mit diesem Gedanken bewaffnet wagt er sich, die Haustür aufzustoßen.

Einen Schritt hinein und er steht in einem dunklen, länglichen Flur, in dem es nach Schimmel und Staub riecht. Zu seiner Rechten findet er einen großen Raum mit einer Bar, doch ohne Stühle. Die Hocker wurden rücksichtslos aus dem Parkettboden gerissen, Harry kann die Krater von der Eingangstür aus sehen. Er schluckt heftig, knallt die Tür hinter sich zu und wird prompt von einer Staubwolke eingehüllt. Hustend arbeitet er sich zu der morschen Treppe am Ende des Flures vor.

Jede Stufe knarrt und Harry ist erleichtert, als er unverletzt oben am Absatz steht und versucht, Zutritt zu seiner Wohnung zu erlangen. Der Schlüssel scheint zunächst nicht zu passen, aber mit einem bestimmten Trick (den Schlüssel ganz leicht zurückziehen), geht es dann doch.

Harrys neue Wohnung ist verdreckt, aber zu seiner eigenen Verwunderung ansonsten in Ordnung. Er hatte eingestürzte Räume erwartet, Uringeruch in jeder Ecke und Kakerlaken, Müll und benutzte Kondome (seine Inspiration zu diesem Gedanken verdankt er seinen Erinnerungen an einen beliebigen Bahnhof bei Nacht), aber ausser dem alles einnehmenden Dreck und der unfassbaren Tristesse, die von den grauen Tapeten ausgeht, findet er nichts, was ihn abstoßen würde.

Die Schutzzauber, die er von Hermine im letzten Jahr auf ihrer Suche nach den Horkruxen gelernt hat, sind ihm jetzt wieder dienlich. Zwar kann er sich auch mit der größten Mühe nicht vorstellen, dass tatsächlich Jemand versuchen würde, hier einzubrechen, aber er will es nur ungern auf einen Versuch ankommen lassen - und fühlt sich tatsächlich wohler, als seine Wohnung unortbar und unbetretbar für ungeladene Gäste ist.

Seufzend geht er von einem Raum in den nächsten und versucht, sich für ein Schlafzimmer zu entscheiden.