CaRWash

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Vielleicht war es die ganz kurze Umarmung, eine Sekunde lang, nachdem er bei einem Einsatz fast von diesem verdammten Truck überfahren wurde. Vielleicht war es aber auch ihr erleichtertes Lächeln danach, oder ihre großen, strahlenden grünen Augen, die ihn auf eine gewisse Art angeglüht hatten. Oder ihr glänzendes, blondes, langes Haar, das im Wind wehte, wie in einer Werbung für Haarshampoo. Ryan weiß es nicht. Er weiß nur, dass dieser Moment irgendetwas in ihm bewegt hatte. Etwas...Unbeschreibliches, Seltsames, Heißes, Aufwirbelndes, Kribbliges, aber trotzdem Tolles. Es ist ihm unheimlich.

Natürlich hat er dieses Gefühl schon einmal gehabt, vor einiger Zeit. Bestimmt drei Jahre ist es her, als er es das letzte Mal so intensiv gespürt hatte. Und es hatte in einem Fiasko geendet. Ein reines Fiasko. Er will es nicht noch mal erleben. Niemals und zu keiner Zeit. Deshalb darf er dieses Gefühl nicht zulassen, er darf es einfach nicht, aus seinen ganz eigenen Gründen.

Dennoch weiß er, dass er sich damit ein eigenes Bein stellt, sich quasi selbst belügt. Man kann Gefühle nicht verbieten. Sie kommen einfach so. Eigentlich kann man nichts dagegen tun, außer versuchen sie zu ignorieren und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Und genau das muss er in diesem Fall tun.

Calleigh Duquesne ist nicht an ihm interessiert. Jedenfalls nicht so, wie er es vielleicht gerne hätte. Klar, sie sind gute Freunde. Sie haben sich auf Anhieb gut verstanden, als er vor längerer Zeit neu zum CSI kam. Er hatte sie schon mal vorher gesehen. Da war er in einem ihrer Kurse und er war ziemlich beeindruckt von ihr gewesen, schon immer. Er fand sie toll. Aber nur so toll, wie man eben jemanden sympathisch findet. Vielleicht war es schon ein bisschen mehr als Sympathie. Er bewunderte sie. Heute immer noch, aber es ist eben irgendwie anders. Eine andere Art von Bewunderung, er kann es nur nicht richtig in Worte ausdrücken. Sie wirkt so stark, selbstbewusst und sicher in allem, was sie tut. Sie ist so...unabhängig, macht was sie will, nimmt die Zügel in die Hand. Sie ist anders, als die meisten Frauen, die er bisher kennt.

Und sie geht ihm seit diesem einen Moment nicht mehr aus dem Kopf. Verdammt. Es darf einfach nicht sein. Warum muss das ausgerechnet ihm passieren? Na ja. So ungewöhnlich ist eigentlich nicht mal, dass jemand sich in seine Kollegin, beziehungsweise in seinen Kollegen...Ähm, mehr für ihn, beziehungsweise sie, empfinden könnte. Zum Beispiel Eric und Natalia? Aber es ist gar nicht sicher, ob zwischen denen wirklich was läuft. Also zählt das nicht!

Ryan gerät immer in Zwielicht mit seinen Gefühlen. An diesem Tag, wo es passiert war, saß er daheim vor dem Fernseher auf seiner bequemen Couch. Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm, aber bekam den Inhalt des Films überhaupt nicht mit. Er führte Krieg. Den Krieg der Gedanken. Auf der einen Seite war das Nein und auf der anderen das Aber warum eigentlich nicht?:

Das kann gar nicht funktionieren, ich muss mir gar keine Hoffnungen machen.

Warum?

Weil das komisch wäre.

Aber was genau wäre komisch?

Ja, irgendwie, weil halt...weil...weil das komisch ist.

Ja, aber warum eigentlich?

Na, weil...weil halt.

Weil ist keine Antwort!

Es ist eben komisch. Wir sind Kollegen!

Na und?

Na ja, es ist eben komisch.

Aber warum? Das ist doch nichts ungewöhnliches! Denk nur an Natalia und Eric.

Das ist was ganz anderes!

Ach ja?

Ja!

Und was ist daran anders?

Das ist...eben anders.

Aha.

Sie will mich sowieso nicht.

Wie kommst du darauf?

Ist eben so.

Gibt es einen Grund, der dich das annehmen lässt?

Ja. Nein. Na ja, ich weiß es eben.

Aha.

Ja.

Aber ihr seid doch gute Freunde.

Ja.

Na also!

Dabei wird es aber auch bleiben.

Warum?

Hab ich doch schon gesagt!

Mit dieser Antwort gebe ich mich nicht zufrieden.

Okay, vergiss es einfach. Es ist sowieso sinnlos.

Wenn er so in Gedanken debattiert, jede Möglichkeit hin und her schiebt, könnte er jedes Mal verrückt werden. Das Endresultat ist jedoch immer nur, dass ihm klar wird: Es kann sowieso nicht klappen. Und dass er sich hinterher noch schlechter fühlt. So ein Mist.

Wenn er ihr wenigstens aus dem Weg gehen könnte. Aber nein, das geht natürlich nicht, weil sie jeden Tag zusammen an einem Fall arbeiten.

Er hat Angst, sie könnte etwas merken, oder dass sie sogar schon etwas gemerkt hat. Das wäre nicht gut. Warum, kann er mal wieder nicht genau sagen, es ist ihm einfach lieber, wenn sie es nicht weiß.

-C-

Vielleicht war es da, als er bei der Vernehmung einer Zeugin ein bisschen gestottert hatte, wenn sie in den Raum kam und sich neben ihn setzte. Vielleicht war es sein hilfloser Blick gewesen, wie er sich nervös in den Haaren rumfummelte und diese damit ziemlich durcheinander brachte. Vielleicht war es aber auch da, als sie mit Marc, mit dem sie an diesem Abend ein Date gehabt hatte, telefoniert hatte. Ryan war zur Tür reingekommen, hatte die letzten Worte „Bis heute Abend, Marc, ich freu mich drauf." Mitbekommen und bekam ziemlich schlechte Laune, ganz plötzlich.

Calleigh weiß nicht, wann es genau war, als sie das erste Mal vermutete, Ryan könnte sie...na ja, könnte mehr für sie empfinden. Mehr als bloß Freundschaft oder einfache Kollegen beim CSI.

Sie ist sich allerdings auch nicht 100 ig sicher. Sie vermutet es nur. Immer wieder kommen solche Momente, wo sie sich bestätigt fühlt. Aber am nächsten Tag, wenn sie besonders darauf achtet, kommt meistens kein solcher Moment, dann vergisst sie es einfach. Bis wieder einer kommt. Dann sieht er sie mit diesem speziellen Blick an. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen, die großen, dunklen Augen wachsam auf sie gerichtet. So, als bewundert er jede Bewegung von ihr. Sobald er merkt, dass sie seinen Blick erwidert, sieht er meistens verlegen zur Seite, schaut auf seine Hände.

Calleigh kann sich nicht genau festlegen, ob sie es gut findet, mal davon abgesehen, ob es tatsächlich stimmt. Einerseits schmeichelt es ihr ein bisschen und Ryan ist wirklich nett, lieb und süß. Er ist irgendwie...knuffig. Wenn er einen mit seinen traurig wirkenden Augen ansieht, möchte man ihn am liebsten in den Arm nehmen und knuddeln. Seine Haare sind genauso dunkel, wie seine Augen. Er hat einen kleinen Mund, der immer ein verstecktes Lächeln zu tragen scheint und eine sehr schöne Nase. Vielleicht klingt es seltsam, eine Nase als schön zu bezeichnen, aber ihr fällt kein passenderes Wort ein.

Alles in Allem: Er war ihr von Anfang an sympathisch gewesen, als er seinen ersten Tag beim CSI hatte, auch wenn sie es sich vorerst nicht so ganz eingestehen wollte. Es lag nicht an ihm, eher an der Tatsache, dass er eben Speedles Nachfolger war. Sie und Speedle waren gut befreundet gewesen. Sehr gut. Aber dann wurde er bei einem Einsatz erschossen.

Aber Andererseits waren Calleigh und Ryan einfach nur Kollegen beim CSI. Ja, ein bisschen mehr, als das schon. Es kommt schon manchmal vor, dass sie auf eine gewisse Weise flirten. Bei der Arbeit. Wenn sie es machen, merkt sie es meistens erst hinterher, wenn sie beide schon längst wieder in ihre Arbeit vertieft sind. Dann hört sie immer eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr ein „Was war denn das?", zuflüstert.

Aber das hat überhaupt nichts zu bedeuten! Ryan ist einfach nur ein guter Freund, mehr nicht. Und falls sich theoretisch doch noch was entwickeln sollte...Ach was, das kann gar nicht passieren! Weil...weil das eben nicht geht. Er ist jünger als sie. Na ja, vielleicht ist das kein richtiges Argument, schließlich wird immer betont, dass das Alter in der Liebe keine Rolle spielt, aber für sie ist das anders. Warum genau, weiß sie nicht, aber irgendwie kann sie es sich gar nicht vorstellen. Überhaupt: Ryan und Calleigh. Calleigh und Ryan. Es hört sich so unreal an.

Sie beschließt, es einfach zu ignorieren, so gut es geht. Sie wird einfach weiter machen, so wie bisher. Sie wird ganz normal mit ihm arbeiten, ganz normal mit ihm reden und wenn sich wieder völlig unerwartet ein Flirt entwickeln sollte, dann...dann sei es eben so. Es ist ja dann schließlich nicht ihr Problem, sondern seins.

Oder?

„Bringst du das bitte zu Horatio?"

Sie hält ihm ein Blatt entgegen.

„Was ist das?"

Er nimmt das Blatt und sieht sich das daraufgeschriebene kurz an, dann ruht sein fragender Blick wieder auf ihr.

„Horatio arbeitet doch gerade an diesem Fall mit der verschwundenen Frau. Das hier ist die Analyse für das Zeug, das auf ihrem Schreibtisch zu Hause lag."

„Okay.", sagt er leise und lächelt sie an.

„Ich würde es ihm ja selbst bringen, aber ich muss kurz noch mit Marc telefonieren. Wegen heute Abend."

Sie weiß nicht, warum sie es gesagt hatte. Warum sie es auf diese Weise gesagt hatte. Vielleicht wollte sie ihn unbewusst testen. Aber jetzt nachdem sie diese zwei Sätze ausgesprochen hatte, ist ihr klar, wie daneben es gewesen war.

Doch Ryan grinst nur leicht verlegen, blinzelt irritiert, schaut auf seine Hand, die immer noch das Blatt hält, sieht wieder Calleigh in die Augen, sagt; „Bis gleich.", dann geht er.

Irrt sie sich, oder hatte er eben etwas traurig gewirkt? Sie fühlt sich mies. Warum zum Teufel, hatte sie das gesagt? Legt sie es etwa darauf an, Ryan zu verletzen, falls es denn tatsächlich stimmen sollte? Schlechtes Gewissen. In diesem Moment mag sie sich selbst nicht.

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Immer wieder kommen leise Hoffnungen in ihm auf. Von ihm selbst verbotene Hoffnungen, aber er kann gar nichts dagegen tun, sie kommen einfach, schleichen sich in seinen Kopf und verschwinden erst wieder, wenn eindeutig klar ist, dass es nie passieren wird. So wie jetzt.

„Ich würde es ihm ja selbst bringen, aber ich muss kurz noch mit Marc telefonieren. Wegen heute Abend."

Mit Marc, wegen heute Abend.

Verdammt noch mal!

Er könnte jetzt gegen diesen Türrahmen treten, an dem er gerade vorbei läuft. Er könnte den Mülleimer im Gang umschmeißen. Er könnte jeden, der an ihm vorbeiläuft, ohne Rücksicht anrempeln.

Immer diese bescheuerten, versteckten Andeutungen, direkt vor seiner Nase! Genau das ist das, was ihm so zu schaffen macht. Er kann ihnen gar nicht aus dem Weg gehen. Sie tun weh. Sie machen ihn wütend. Wann hört das endlich auf? Hoffentlich bald. Es macht ihn emotional fertig.

Später, nach der Arbeit, als er in seinem Auto sitzt, ist seine Laune im Minusbereich angekommen. Er dreht das Radio auf.

Obviously

She's out of my league

I'm wasting my time

Coz she'll never get mine and I know

I never will be good enough for her

Passender kann es gar nicht kommen. Er fährt los, durch den Straßenverkehr. Hier in Miami leuchten Nachts alle Lichter, es ist schon beinahe ein richtiges Schauspiel. Eigentlich genießt er es jedes Mal. Nach einem anstrengenden Fall, scheinen ihn die vielen Lichter und das Leuchten zu beruhigen, aber diesmal nicht. Er will einfach nur nach Hause, in sein Bett und schlafen. Wahrscheinlich wird er mal wieder nicht einschlafen können. Er wird wieder wach daliegen und nachdenken. Mist.

Jetzt erreicht er den Teil der Stadt, wo nicht so viel los ist und mehr die Natur herrscht. Er fährt durch die Dunkelheit, nur seine Scheinwerfer zeigen ihm den Weg, auf dem er fahren muss. Schatten von Bäumen und kleineren Häusern scheinen an ihm vorbei zu fliegen.

Etwa eine viertel Stunde später liegt er in seinem Bett und kann nicht einschlafen.

-C-

Das Date war eigentlich ganz okay. Marc hatte ihr Komplimente gemacht, ihr die Tür des Autos aufgehalten, sie nach Hause gefahren. Er war sehr nett und auch charmant. Es hatte nur das gewisse Etwas gefehlt. Das Kribbeln, wenn er ihre Hand nahm. Das Herzklopfen, wenn er sie berührte. Es war keines von Beidem da gewesen. Trotzdem war es ganz schön gewesen. Und wer weiß, vielleicht würde es ja doch noch was werden. Schließlich ist Marc wirklich ein netter, bescheidener Mann, der weiß, wie man Frauen behandelt. Und schlecht aussehen tut er auch nicht. Okay, sein Mittelscheitel ist etwas aus der Mode gegangen, aber letztendlich kann nicht alles perfekt sein. Außerdem kann man einen altmodischen Mittelscheitel gut wegkämmen. Und falls er sich dazu nicht erweichen lässt, bleibt einem immer noch sein guter Charakter und seine Baby-blauen Augen.

Als sie an diesem Abend allein daheim in ihrem warmen, gemütlichen Bett liegt, denkt sie noch kurz an Ryan. Was er wohl grade macht? Höchstwahrscheinlich schläft er.

Sobald sie an ihn denkt, nagt das schlechte Gewissen wieder an ihr. Warum hatte sie es nur gesagt?

Sie kann nur hoffen. Entweder, dass es ohnehin nicht stimmt und sie es sich nur einbildet, oder hoffen, dass ihr letzter Satz, den sie zu ihm gesagt hatte, keinen Keil zwischen ihnen treiben wird. Sie will Ryan nicht verlieren.

Nicht verlieren. Wie das klingt. Das klingt irgendwie...nach Beziehung. Dabei ist da doch gar nichts. Also, nichts Richtiges. Bloß Freundschaft. Ihrerseits, jedenfalls.

Ryan ist sauer. Das spürt sie. Er versucht ihr aus dem Weg zu gehen, was nicht gerade einfach ist, wenn man zusammen an einem Fall arbeiten muss. Aber er schickt manchmal Eric vor, mit seinen Ergebnissen. Eric versteht es nicht und will wissen, was denn dieses Theater soll.

„Habt ihr irgendwie Streit?", fragt er Calleigh, nachdem Ryan ihn wieder zu ihr geschickt hatte, weil er angeblich noch etwas anderes Wichtiges zu erledigen hatte.

Als Antwort erhält Eric nur ein tiefes Seufzen von Calleigh.

„Aha.", sagt Eric und geht. Wahrscheinlich kann er es sich schon ungefähr denken. So schwer ist das ja auch nicht zu erkennen.

Aber es gibt jetzt Wichtigeres als das. Sie macht sich an die Arbeit.

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Es ist nicht so, dass Ryan sauer ist, oder so. Er ist nicht wütend. Wenn überhaupt, dann ist er verletzt. Aber dafür kann sie ja nichts. Sie weiß schließlich nichts. So weit er weiß, jedenfalls.

Es wäre eine Katastrophe, wenn sie es wissen würde! Bestimmt wäre es komisch für sie und sie würde nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.

Wahrscheinlich wäre es nicht so, aber irgendwie kann Ryan solche Gedanken nicht stoppen. Sie scheinen einfach in seinen Kopf zu springen, sich dort festzuhaken und sich nur mit einer großen Welle aus Optimismus und Selbstvertrauen fortspülen lassen. Und genau diese Welle hat Ryan nicht. Nicht in so einem Fall. Bei seiner Arbeit schon. Da ist er eigentlich überhaupt nicht schüchtern. Nein, da fühlt er sich stark und selbstbewusst. Aber in Sachen Beziehungskram ist er der absolute Pessimist, der dazu neigt in Selbstmitleid zu versinken. Und genau dafür hasst er sich. Warum kann er nicht den Mut aufbringen Calleigh einfach zu sagen, was dieser eine Satz in ihm bewirkt hatte? Warum kann er sie nicht einfach mal zu einem Drink einladen?

Vorher, bevor es passiert ist, hätte er es locker getan. Was ist schließlich dabei?

Aber jetzt ist es eben passiert und jetzt kann er es nicht mehr. So was blödes. Es wäre doch viel logischer und sinnvoller, wenn es umgekehrt wäre.

Ryan weiß, dass es nicht besonders klug ist, immer Eric vorzuschicken, nur um Calleigh aus dem Weg zu gehen. Früher oder später würde sie wissen wollen, was denn los sei und dann? Was sollte er dann sagen? Er wusste ja noch nicht mal, was er Eric als Erklärung sagen sollte, dann würde ihm bei ihr unter Garantie auch nichts einfallen.

Er beschließt, sich zusammenzureißen. Irgendwie wird es schon gehen. Es muss einfach gehen. Wenn nicht, dann...dann muss er gehen. Aber so weit darf es eben nicht kommen und wird es auch nicht!

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Vielleicht hatte sie sich geirrt und Ryan ist doch nicht sauer. Oder er lässt sich nichts mehr anmerken. Vielleicht hatte er einfach einen Tag gebraucht, um ihren Satz zu verarbeiten. Jedenfalls ist er wieder ganz normal. Kein vorgeschickter Eric. Nein, nun kommt Ryan persönlich, um seine Ergebnisse zu präsentieren. Er wirkt zwar auf irgendeine Art und Weise etwas gezwungen, als würde er es nicht ganz freiwillig tun, aber immerhin tut er es.

Ryans Augen sind wie ein offenes Buch. Man muss sie nur kurz ansehen und sofort weiß man, wie er gerade fühlt. Woran genau, weiß Calleigh auch nicht. Vielleicht liegt es an diesem speziellen Glitzern in seinen Augen. Manchmal glitzert es traurig, manchmal wütend, manchmal enttäuscht, manchmal entsetzt, und so weiter...Es gibt bestimmt noch tausend weitere Gefühle, die man in Ryans Augen lesen kann.

In den weiteren Tagen verebbt dieser gezwungene Ausdruck in seinem Gesicht allmählich. Zwar langsam, aber er verebbt. Ryan redet wieder ganz normal mit ihr. Kein nervöses Blinzeln, kein verlegenes Grinsen. Es scheint so, als hätte er es vergessen. Und sie ist erleichtert darüber. So erleichtert, dass sie sogar wieder richtig mit Ryan lachen kann.

„Das Wetter hier passt nicht.", sagt Ryan auf einmal. Er steht neben Calleigh, sieht ihr dabei zu, wie sie die Kleidungsstücke der Toten untersucht.

„Wie?" Calleigh richtet sich auf und sieht ihn an. Sein Blick ruht auf der Jacke, die sie in der Hand hält. Es sieht aus, als würde er träumen, als wäre er mit seinen Gedanken ganz wo anders, nur nicht hier.

„Das schöne Wetter passt nicht zum Tot."

Sie fixiert ihn mit ihrem Blick, als wolle sie ihn damit dazu bringen, wieder aufzuwachen.

Er schließt kurz die Augen und als er sie wieder öffnet, sieht er ihr direkt ins Gesicht.

Ihr fällt auf, dass seine Augen in diesem Licht grün sind. Sonst sind sie immer dunkelbraun. Sie beschließt, bei nächster Gelegenheit noch mal genauer darauf zu achten.

„Hier geschehen so viele Morde. Täglich. Aber die Sonne scheint die ganze Zeit, keine einzige Wolke ist zu sehen. Das passt irgendwie nicht zusammen."

Sie sagt nichts, sieht ihn nur etwas verwirrt an.

Er schaut verlegen auf seine Hände. „Kleiner philosophischer Einwurf."

Sie schüttelt lachend den Kopf. „Ach Ryan. Du bist schon irgendwie..."

Als er den Kopf hebt und ihr direkt in die Augen sieht, hält sie kurz in ihrem Satz inne. Es ist, als hätte sie einen kleinen Aussetzer. Als hätte sie für einen kurzen Moment den Faden verloren. Seine Augen funkeln diesmal eine Spur zu...sie findet kein richtiges Wort dafür. Ein kurzer Schauer läuft ihr über den Rücken. Aber nur ganz kurz.

„...süß."

Da war er. Das Ende ihres Satzes. Hatte sie ihn so wirklich beenden wollen, oder hatte sie vorher was anderes sagen wollen?

Sie weiß es nicht mehr.

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Süß? Hatte sie das wirklich gesagt, oder hatte er nur irgendwas falsch verstanden? Etwas verstanden, was er so verstehen wollte?

Nachdem sie ihren Satz auf diese Weise beendet hatte, war es für einen Moment still gewesen. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, ihm wurde das Gesicht heiß und sie widmete sich wieder grinsend der Jacke, die sie untersuchen musste.

Wie schafft sie es nur immer, ihn so durcheinander zu bringen? Einmal erwähnt sie etwas von einem Date mit einem diversen Marc und jetzt sagt sie ihm, dass sie ihn süß findet? Oder, dass er süß ist? Oder ist das genaugenommen das Selbe? Eigentlich schon.

Aber vielleicht heißt das ja überhaupt nichts. Also, bestimmt heißt das überhaupt nichts. Sie hatte es nur gesagt, um ihn aufzumuntern. Warum hatte er eigentlich von dem Wetter angefangen? Jetzt, hinterher, kommt ihm das, was er gesagt hatte komplett bescheuert vor. Aber irgendwie hatte er das Bedürfnis gehabt, irgendetwas zu sagen. Irgendetwas geistreiches. Geistreich. Na toll, er hatte sich blamiert.

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Süß? Warum hatte sie das gesagt? Also, sie hätte es ja denken können, aber sie hätte es ja nicht gleich sagen müssen!

Sie findet Ryan ja wirklich, wie gesagt, knuffig. Wie einen Teddybären. Aber musste sie ihm das sagen? Nein, eigentlich nicht.

Aber dieses Wort war ihr einfach so rausgerutscht, sie konnte gar nichts dagegen tun.

Im Nachhinein ärgert sie sich darüber. Was, wenn Ryan sich jetzt nur wegen ihr Hoffnungen macht? Also, falls es überhaupt stimmt. Es besteht immerhin noch eine klitzekleine Möglichkeit, dass es gar nicht wahr ist und dann ist es sowieso egal.

Es ist Feierabend. Calleigh steht da. Steht da und sieht zu, wie Ben Madigen, der Mörder von Sarah Znoyd, in Handschellen abgeführt wird. Er wirft noch kurz einen feindseligen Blick in ihre Richtung, bevor er ins Polizeiauto gestoßen wird.

Ein leiser Luftzug verrät ihr, dass jemand hinter sie getreten ist. Sie weiß, ohne sich umzudrehen, wer es ist.

„Ich bin froh, dass er es war und nicht ihre Mutter.", hört sie Ryans raue Stimme von hinten.

Sie muss lächeln, dreht sich aber immer noch nicht zu ihm um.

„Das klingt komisch. Aber ich bin es auch."

Gemeinsam sehen sie zu, wie schließlich auch die Polizisten einsteigen und das Auto davonfährt. Als es nur noch als kleiner Punkt in der Ferne zu sehen ist, wendet sie sich endlich zu Ryan um.

„Immer noch schönes Wetter, nicht wahr?"

Ryan sieht sie an, als wisse er nicht, was er jetzt sagen sollte. Der kleine Mund leicht zu einem dieser versteckten Lächeln geöffnet, die inzwischen wieder dunklen Augen wachsam auf sie gerichtet. Er wirkt etwas peinlich berührt.

Calleigh muss lächeln. Sie wirft einen kurzen Blick auf die Felder, die sich hinter dem Gebäude erstrecken und von der Sonne golden angestrahlt werden.

„Hättest du Lust, auf einen kleinen Spaziergang?"

Da! Plötzlich hatte sie es gesagt, einfach so. Wieder war es ihr einfach so rausgerutscht. Es ist, als hätte sie keine Kontrolle mehr über das, was sie sagt. Als würde ihr Mund machen, was er will. Das darf nicht noch einmal passieren. Nachher sagt sie noch irgendetwas, daran mag sie überhaupt nicht denken. Am Ende würden sie alle für verrückt halten.

Aber jetzt hatte sie es gesagt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Kein Zurück mehr, das klingt so negativ. Dabei ist es doch wirklich schönes Wetter, Sonnenuntergang, und sie verspürt richtig Lust darauf, durch die Felder zu wandern. Nur nicht alleine.

Ryans Blick verändert sich nicht, er neigt nur ein wenig den Kopf zur Seite.

„Okay."

Sie gehen nebeneinander her, langsam, schlendernd. Ihre Hände baumeln nebeneinander, nur etwa drei Zentimeter voneinander entfernt.

Sie gehen einfach schweigend den Weg am Feld entlang, dem Sonnenuntergang entgegen. Der Himmel scheint zu glühen und taucht die Getreidefelder, die im leichten Wind leise rauschen, in bronzenes Licht. Es riecht nach Natur. Nach frischem Gras und nach Erde. Ein paar Vögel zwitschern noch und Grillen zirpen.

Das Wort romantisch drängt sich in Calleighs Kopf, ohne dass sie es will. Vielleicht wäre es besser, wenn nicht Ryan es wäre, sondern Marc, der jetzt mit ihr zusammen ist. Also, zusammen spazieren geht. Oder doch nicht? Es hat ja eh nichts zu bedeuten! Sie geht einfach nur mit einem guten Freund spazieren und es herrscht ein bisschen romantische Stimmung. Mal davon abgesehen, dass sie sowieso nicht auf solchen Kitsch steht.

„Was hörst du eigentlich für Musik?", bricht sie das Schweigen. Wahrscheinlich um ihre Gedanken zu stoppen. Und es ist eine gute Frage. Weil sie sich das schon vorher gefragt hat, aber es irgendwie immer vergessen hat, ihm diese Frage mal zu stellen. Zum Glück fällt sie ihr jetzt ein.

Er sieht sie an, lächelt und sie erwidert es. In diesem Licht schimmern seine hübschen Augen gelblich. Und grün und braun.

„Hauptsächlich Rock. Und in dieser Richtung verschiedenste Arten. Aber bloß kein HipHop, davon krieg ich Ohrenschmerzen."

Sie muss kurz lachen.

„Was denn für Arten von Rock?"

Er neigt wieder etwas den Kopf zur Seite, hebt eine Augenbraue, so als frage er sich, warum sie das wissen will.

„Okay." Er holt Luft und steckt seine Hände in die Hosentaschen. Fast hätte er ihre Hand dabei berührt, aber nur fast.

„Indie, Rock'n'roll, Alternative, ein bisschen Punk und Poprock...Emo gefällt mir auch. Bei Bands finde ich unter anderem Taking Back Sunday, Mando Diao, The Strokes, und so weiter, ziemlich gut. Ich mag auch eher solche Bands, die hier fast niemand kennt."

„Wow." Calleigh bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr der Wind dorthin geweht hatte. „Kennst dich aber aus in der Szene. Von diesen Bands habe ich persönlich noch nie etwas gehört."

„Ich kann dir ja mal eine CD mitbringen. Die sind echt gut."

„Okay." Sie lächelt ihn an.

„Und du?"

Seine Augen mustern sie erwartungsvoll. In diesem Moment sieht er aus, wie ein kleines Kind. Sie muss schmunzeln.

„Also, Rock'n'roll finde ich auch gut. Ich höre viel von Queen und den Beatles. Ich mag Oldies."

„Das ist gut. Kein HipHop, das ist am besten."

Sie lachen beide. Er nimmt langsam seine Hände aus den Taschen und für einen klitzekleinen Moment berührt er die ihre. Es ist wirklich nur kurz, aber beide zucken zurück, als hätte eine Wespe ihren Stachel gezückt.

Ein flaues Gefühl macht sich in Calleigh breit. Ein seltsames Gefühl. Zu außergewöhnlich, um es als flau oder seltsam zu beschreiben. Es ist irgendwie kribblig, aufwirbelnd, unheimlich, heiß, toll, unangenehm...unbeschreiblich.

Beide sind stehen geblieben und sehen sich stumm an. Nur das Zirpen der Grillen und der Gesang der Vögel ist zu hören.

Calleigh hört ihr Herz schnell schlagen, ihr ist heiß.

Was hatte diese kleine Berührung in ihr ausgelöst? Warum ist es ihr plötzlich unangenehm ihn zu berühren? Vorher hatte sie sich so gut gefühlt, richtig wohl, wie sie nebeneinander hergegangen sind und über Musik geredet hatten.

Musik...ein gutes Thema, um dieses seltsame Schweigen zu brechen.

Als sie anfängt zu sprechen, hört ihre Stimme sich heißer an. Es ist, als gehöre diese Stimme gar nicht zu ihr.

„Spielst du ein Instrument?"

Ryans Augen fixieren ihre. Sie kann seinem Blick nicht standhalten, muss wegsehen. Auf ihre Hände. Doch sie kann seinen Blick immer noch spüren.

„Ja.", hört sie seine Stimme. Es klingt, als wäre er in Trance. „Schlagzeug und Gitarre. E-Gitarre, aber auch Akustik."

Sie zwingt sich, ihn anzusehen, mitten in die Augen. Sie schafft es. „Zwei Sachen? Wow."

In seinen Augen glitzert es wieder. Nur kann sie dieses Glitzern diesmal nicht richtig zuordnen.

„Du?", fragt er, die Stimme gesenkt.

Sie schüttelt langsam den Kopf, ihr Blick auf seine Augen geheftet um zu ergründen, was er gerade denkt. Es funktioniert nicht, sie kann sich aus irgendeinem Grund nicht richtig darauf konzentrieren. „Nichts."

Fünf weitere Sekunden vergehen, wo sie sich stumm, etwa einen und einen halben Meter voneinander entfernt, gegenüber stehen. Ryan scheint alles an ihr zu mustern: Ihre Haare, ihre Schultern, ihre Nase, ihren Mund, ihre Beine, ihre Füße...

Sie selbst dagegen schaut auf seine Hände, wie sie neben seinem Körper hängen, ganz normal. Schöne Hände, wohl gemerkt. Eher klein für einen Mann. Sie sehen eben und weich aus. Nicht so, wie die von Marc, oder anderen Männern, mit denen sie zu tun hatte, beziehungsweise hat. Die von Marc zum Beispiel sind groß, fast schon prankenartig, wie die eines Bären. Sie sind rau und trocken. Seine Finger sind gelb. Er ist Raucher.

„Sollen wir zurück gehen?", fragt Calleigh, auch wenn sie dabei das Gefühl hat, einen magischen Moment zu zerstören. Was daran magisch sein soll, sich stumm gegenüber zu stehen und sich den anderen anzuschauen, weiß sie selbst nicht, aber das Gefühl ist da.

Ryan sieht ihr wieder in die Augen, holt Luft, räuspert sich und grinst.

„Wie du willst."

Will sie?

Ja.

Nein.

Keine Ahnung., aber irgendwie schon.

Sie gehen zurück. Auch, wenn das kein langer Spaziergang gewesen war.

Kurz bevor sie in ihren Wagen steigt, wirft sie ihm noch ein knappes „Tschüss, bis Morgen!" zu, dann fährt sie. Im Rückspiegel sieht sie ihn noch da stehen, vor seinem Auto, wie er ihr nachsieht. Schließlich fährt sie um die Kurve und weg ist er. Aber dieses unbeschreibliche Gefühl lässt sie nicht zurück. Es bleibt.

-R-

Ryan zählt die Sekunden auf seinem Digitalwecker mit. Er liegt in seinem Bett, es ist inzwischen 23.56 Uhr und er kann einfach nicht schlafen. Diesmal ist es aber anders. Diesmal klopft ihm das Herz nicht vor Wut, oder Enttäuschung, oder Trauer, sondern vor Glück. Wenn er nur daran denkt, wie sich ihre Hände für einen Bruchteil von einer Sekunde berührt hatten, läuft ihm ein angenehmer Schauer über den Rücken. Er lässt ihn zu, weil es sich gut anfühlt. Richtig gut. Obwohl es eigentlich nicht wirklich was heißt. Oder doch? Sie hatte irgendwie den Eindruck gemacht, als würde sie...

Ach was!

Oder?

Nein!

Vielleicht doch.

Krieg der Gedanken. Aber so langsam gewinnt das Ja die Oberhand.

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Irgendwas ist anders. Irgendetwas hat sich verändert zwischen ihnen. Nicht negativ.

Vielleicht fängt es schon bei der morgendlichen Begrüßung an. Sonst war es immer nur ein kurzes „Hi Ryan!"

Jetzt ist es erst ein Lächeln, vielleicht ein kurzer, verlegener Blick, dann ein „Guten Morgen, wie geht es dir?"

Es ist komisch, was Momente, auch wenn sie noch so kurz sind, bewirken können. Sie können ganze Leben verändern. In diesem Fall ist es kein ganzes Leben. Was ist das eigentlich? Man könnte sagen, dass sie sich noch näher gekommen sind. Wegen diesem einen Moment. Was nicht heißt, so richtig nah. Nur näher. Aber sie fühlt sich gut dabei.