Harry erwachte jäh aus einen unglaublich schrecklichen Albtraum und atmete schwer. Wieder hatten diese grauenvolle Augen ihn verfolgt, ihn durch die Dunkelheit gehetzt und schließlich in die Falle getrieben. Und wieder hatte die knochigen Arme sich ihm entgegen gestreckt, die dünnen langen Finger nach ihm getrachtet. Nur langsam konnte er seinen bescheunigten Atem beruhigen. Langsam, um seinen Körper zu entspannen, atmete er ein.
Moment!
Er atmete ein?
Er atmete überhaupt?
Unmöglich, er müsste tot sein. Nur zu gut erinnerte er sich an den leuchteten Zauberstab, der den letzten von vielen qualvollen Zaubern auf ihn geleitet hatte, den Avada Kedavra. Er hatte den leuchtend grünen Strahl aus purer Magie auf ihn zu sausen sehen, doch merkwürdigerweise hatte ihn dieser Strahl keine Angst eingeflößt. Im Gegenteil, er war froh endlich nach den scheinbar endlosen Stunden voller Qual erlöst zu werden, egal wie.
Er hatte nicht mehr gewusst, was ihm nicht wehgetan hatte. Stundenlange Folter hatten ihn zu Grunde gerichtet und nur noch ein zerschundenen Körper, der kaum noch lebendig genannt werden konnte, zurückgelassen.
Die logische Schlussfolgerung daraus war also, dass er tot sein müsste. Warum atmete er dann? Vielleicht hatte ihn der Orden doch noch da raus holen können? Immerhin hatte er nicht mehr den ganzen Weg des Todesfluches miterlebt, da er einfach stumm und kraftlos die Augen geschlossen hatte und in die Bewusstlosigkeit geglitten war.
Hatten sie es also geschafft und ihr Versprechen, was sie ihren neuen Anführer vor scheinbar so langer Zeit gemacht hatten – ohne, dass dieser das gewollt hatte – eingelöst.
Traurigerweise hoffte Harry nicht darauf. Er hoffte, dass er tot war. Tot bedeutete Freiheit und Frieden. Und seine Familie.
Mit diesem Ziel war er in diesen Krieg gezogen, im Kampf gegen den Unnennbaren sein Leben zu lassen, um endlich dann seinen Frieden zu finden.
Vorsichtig bewegte er sich und spürte ein entsetzliches Ziehen in seinem Rücken. Er bäumte sich leicht auf und ließ sich wenige Sekunden später wieder völlig kraftlos ins durchaus weiche und angenehme Kissen gleiten. Ein leises Stöhnen entrann seinen Lippen.
Damit war die Hoffnung auf den Tod dahin, denn diese Schmerzen waren zu echt, als dass sie ein Traum sein könnten und im Himmel gab es keine Schmerzen, oder?
Dann hörte er ein Geräusch und wenige Sekunden später hörte er das Rücken eines Stuhles. Jemand näherte sich leise seinem Bett. Dort angekommen, konnte Harry ihn leise atmen hören und wenige Sekunden später beugte diese Person über ihn und Harry beschloss, das Schlafen zu lassen und die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer ihm da das Leben gerettet oder ihn zu mindestens geholfen hatte.
Er schlug also die Augen auf und hörte ein leises Aufkeuchen, des Fremden über sich. »Du bist wach?«
Harry nickte nur stumm. Der Fremde trat vom Bett zurück und verließ in Windeseile das Zimmer, was Harry an den Öffnen und Schließen der Tür hören konnte.
Vorsichtig versuchte er sich erneut zu bewegen und tastete unsicher nach seiner Brille, ehe ihm einfiel, dass sie zerstört worden war. Voldemort hatte sie direkt vor seiner Nase zertreten.
Er seufzte und versuchte mit aller Kraft, die ihm geblieben war, sich aufzusetzen, um seinen Zauberstab zu suchen, was allerdings nur damit endete, dass er schwer atmend und mit schmerzenden Körper, wieder ins die Kissen sank, wo sich seine verklärte Sicht begann zu drehen. Ein weiteres Stöhnen.
Dann wurde die Tür wieder geöffnet und zwei Personen betraten den Raum. Beide eilten zügig zum Bett und Harry, der in der Zwischenzeit wieder die Augen geschlossen hatte, um den verschwommenen Baldachin sich nicht mehr drehen sehen zu müssen, öffnete wieder die Augen und sah in das Gesicht der beiden Fremden, zu mindestens vermutete er, dass dies die Gesichter der Männer war.
Außerdem konnte er beide unterscheiden, was er allerdings nur den verschiedenen Haarfarben zu verdanken hatte, denn der eine hatte rabenschwarzes wie Harry selbst, wogegen der andere eine weitaus hellere Farbe hatte, die ihn an die Haarfarbe von Hermine erinnert, nur noch ein Stück heller.
Bei den Gedanken an Hermine zog sich für einen kurzen Augenblick etwas in Harrys Brust schmerzhaft zusammen, ehe er sich wieder den beiden Männern widmen konnte.
»Kannst du mich hören?«, fragte der Blondschopf.
Harry nickte.
»Kannst du sprechen?«
Harry schüttelte kraftlos und müde den Kopf. Die Stimme kam ihn seltsam bekannt vor, doch er konnte sie nicht einordnen. Er wusste, er kannte sie. Ja sogar gut, da war er sich sicher, aber woher nur?
Der Blonde überlegte kurz ehe fragte: »Tut dir was weh?«
Harry hätte am liebsten laut auf gelacht. Die Antwort wäre einfacher, wenn er gefragt hätte, was ihm nicht weh tun würde. So konnte Harry nur nicken und schwach mit der Hand auf seinen Oberkörper deuten.
»Der Bauch?« Harry schüttelte den Kopf. »Die Brust, die Rippen?« Die auch, aber Harry verneinte wieder. Der Fremde schien zu überlegen, doch da griff der andere ein. »Der Rücken?«, fragte er und Harry nickte schwach.
Wieder entstand kurz Stille, dann begann der Blonde wieder zu sprechen. »In Ordnung, wir werden versuchen dir zu helfen, aber dafür müssen wir dich auf dem Bauch drehen. Denkst du, dass du das aushältst? Du hast zwei gebrochene Rippen, das wird ziemlich weh tun. Willst du es trotzdem?«
Harry nickte wieder und er fuhr fort, diesmal an den Schwarzhaarigen. »Geh auf die andere Seite des Bettes, wir müssen ihn möglichst gleich umdrehen, damit die Schmerzen nicht allzu groß sind.
Er nickte und verschwand aus Harrys Blickfeld nur um wenige Sekunden später wieder auf der anderen Seite des Bettes aufzutauchen.
Beide sahen sich an und der Blonde meinte: »Wir fangen jetzt an.« Ein letztes Nicken von Harrys Seite und es begann.
Beide fasten Harry sowohl an der Schulter, als auch an der Hüfte an und versuchten ihn möglichst sacht und sanft umzudrehen, doch schon bei der kleinsten Bewegung schoss ein so starker Schmerz durch all seine Glieder, dass die Dunkelheit ihn wieder in seine kalte Umarmung zog.
Um ihn herum war Dunkelheit. Nur tiefes Schwarz. So wie immer, wenn er träumte. Er wusste, dass er die Fähigkeit zu träumen, verloren hatte, vor langer Zeit, so kam es ihm vor und doch scheinbar erst seit gestern.
Was hatte noch mal dazu geführt? Er erinnerte sich nicht mehr.
Es waren viele Dinge, erinnerte ihn sein Gewissen, was sich mit der Zeit immer mehr an Hermines Stimme angeglichen hatte.
Stimmt schon, es war kein einziger Grund, aber er hat zu einen wichtigen Punkt in meinen Leben geführt, erinnerte er sich selbst.
Du meinst diesen bestimmten Tag, nicht?, fragte Hermines Stimme.
Dieser besonderer Tag. Das war für die meisten Menschen wohl ein Tag wie jeder anderer gewesen – so normal und gleich die Tage in jener Zeit gewesen waren.
Das war der Tag, an dem er seine gesamte Hoffnung verloren hatte und sich selbst aufgegeben hatte.
Der Tag an dem er seinen Namen – den ruhmvollen Namen Harry Potter – aufgegeben hatte.
Das Dunkel verschwand und machte einer Szene platz, die nun schon mehr als einen halben Jahr zurücklag, ihm selbst aber wie ein halbes Leben vorkam.
»Das kannst du nicht wirklich tun, Harry!«, erklang Remus gebrochene Stimme. Er war kreidebleich, wie noch nie und Harry hatte selbst zu diesen Zeitpunkt schon gewusst, dass es ihr letztes Treffen sein würde, obwohl er sich dieses nie eingestanden hätte.
Der Werwolf in ihm lag im Sterben. Während einer ihrer Einsätze hätte man ihm mit einen für Werwolfe tödlichen Gift infiziert. Es wirkte langsam und quälte dem Körper, bis nur ein Schatten von einem selbst übrig bleib. Und so richtete es Remus Lupin, die wohl letzte Person in Harrys Leben, die ihm wichtig war, einfach so hin und er konnte nichts dagegen tun.
Doch seine Gedanken wurden von der brüchigen Stimme seines selbst erkorenen Paten unterbrochen und er kehrte in die Wirklichkeit zurück.
»Doch Remus, das werde ich und nichts kann mich davon abhalten. Und gewöhn dir lieber meinen neuen Namen an, ich heiße von jetzt an Chris und nicht mehr Harry, Chris Fuller und du solltest dir diesen Namen angewöhnen, denn ich möchte vor allem, dass du mich so ansprichst.«
Er belog sich selbst und das wussten beide. Harry wollte nicht einsehen, dass Remus starb und so leugnete weiterhin die Tatsache, dass Remus schon seit Wochen nicht mehr auf Einsätze gegangen war.
»Harry – Chris, dass wird niemals funktionieren, ich meine, er wird es erfahren und dann war die ganze Sache völlig umsonst.«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein, Remus, ich hab alles genau durchdacht. Ich hab diesen Plan seit Monaten. Ich hab mich aus den Aktivitäten den Ordens fast vollständig zurück gezogen. Es sind bereits die verschiedensten Gerüchte im Umlauf, was mit mir passiert ist. Glaub mir, jene, die von meinen Plan wissen, stehen unter einen Zauber, der es ihnen nie ermöglichen wird, darüber zu sprechen, es sei denn ich sterbe. Ich ...«
Doch Remus unterbrach ihn wirsch. »Und dann, Harry? Was dann? Wirst du dich vollständig aus diesen Krieg raushalten oder mit deiner neuen Identität der neue Anführer des Ordens werden? Verdammt Harry, das kann niemals funktionieren.«
Remus Gesicht zeigte deutlich seine Missgunst. Er sorgte sich um Harry mehr denn je, seit seine beiden besten Freunde im Kampf ums Leben gekommen waren und Harry sich wie so oft die Schuld daran gegeben hatte.
Harry schwieg. Seine Zweifel waren nie ganz verschwunden und doch wollte er diesen Namen endlich ablegen. Den Namen, der ihn so viel Kummer bereitet hatte. Er hatte Hermine und Ron verloren, weil er Harry Potter war. Dumbledore hatte ihn mit seinen Leben beschützt, weil er Harry Potter war.
Wenn er nun einen völlig neuen Namen annahm, eine völlig unbekannte Identität konnte er noch mal von vorne beginnen und niemand würde mehr wegen Harry Potter sterben.
Nein, er würde diesen Plan auf keinen Fall mehr rückgängig machen. Dies war seine Entscheidung und damit Schluss, Ende, aus. Das sagte er auch Remus.
Dieser sah ihn mit schmerzen Zweifel in den Augen an und seufzte. Er gab sich geschlagen.
Er schlug die Arme um Harrys viel zu dünnen Körper. »Pass ja auf dich auf, wenn ich nicht mehr da bin, hörst du?«, sagte er leise und spürte wie Harry sich verkrampfte.
Er entwand sich der Umarmung und sah ihn streng an. »Sprich nicht so achtlos, Remi, du wirst auf keinen Fall sterben, dass lasse ich nicht zu. Wir sind nah an einen Gegenmittel dran. Du darfst nur auf gar keinen Fall aufgeben, hörst du? Auf gar keinen Fall!«
Remus lächelte ihn müde an, drückte ein letztes mal seine Hand und ließ sich wieder müde in die Kissen fallen. Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf seiner Haut gebildet und er atmete schwer, dann entspannte sich der gesamte Körper und Harry wusste, dass er eingeschlafen war.
Harry stand an seinen Bett und besah den schlafenden Remus, dessen Gesicht nur im Schlaf wirklich glücklich aussah. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. An der Tür machte er noch einmal kurz Halt und sah zurück. »Auf keinen Fall aufgeben, hörst du!« Mit diesen Satz verließ er sein Zimmer und das große Anwesen, welches der zerbröckelten Orden des Phönix als eines der Quartiere nutze.
Zwei Tage später erhielt Harry die Nachricht von Remus Tod.
»Er ist mit einen Lächeln auf dem Gesicht gestorben.«, hatte die junge Frau, die Remus gepflegt, hatte gesagt.
Natürlich mit einem Lächeln, warum auch nicht. Im Tod erst konnte er alle wieder sehen, die er in diesen Krieg verloren hatte, im Tod erst konnte er seinen verlorenen Frieden finden.
Und irgendwie beneidete Harry dem grauhaarigen Mann in diesen einen Moment.
Er war frei.
