Dying
-London, 1926-
Diese Geschichte beginnt an einem grauen, stürmischen Winterabend. Es ist ein bitterkalter Tag, und ganz vereinzelt tummeln sich Schneeflocken in der Luft, bevor sie leise auf dem grauen Straßenpflaster auftreffen und wegschmelzen.
Kaum jemand ist bei dieser Witterung auf den Straßen zu finden, nur diejenigen, die unbedingt müssen, sind noch unterwegs, und das sind nur wenige.
In wenigen Stunden allerdings würden die Straßen zu ungewohnter Stunde voller Leben und Lärm sein. Es ist schließlich Silvesterabend. Mit viel Lärm, Krach, und Gelächter wird ein neues Jahr begrüßt werden – und die Dämonen und das Unheil des letzten hoffentlich vertrieben.
Nun, wie gesagt, es sind dennoch ein paar Leute unterwegs. Einer dieser Gestalten soll unsere Aufmerksamkeit gelten: Einer jungen Frau, die sich durch die Gassen eines der unbelebteren und einfacheren Viertels Londons müht, sichtlich abgekämpft und erschöpft. Sie ist erkennbar schwanger, hochschwanger. Sie steuert auf ein schmiedeeisernes Tor zu, hinter dem ein wuchtiges, düsteres Gebäude zu erkennen ist. Hinter einigen der Fenster ist noch Lichtschimmer auszumachen.
Die letzte Zeit kann nicht einfach gewesen sein für die junge Frau. Kleidung und Schuhwerk ist zerlumpt und völlig ungepflegt. Auch die langen Haare, die eigentlich hätten schön sein können mit ihrem weizenblonden Farbton, starren auch vor Schmutz und das Gesicht wirkte ausgezehrt, so als ob die Anzahl der Mahlzeiten seit Monaten zu gering gewesen ist.
Immer wieder hält sie auf ihrem Weg inne, offensichtlich von Schmerzen geschüttelt. Es scheint, als mobilisiere sie ihre letzten Kräfte um das wuchtige Tor aufzustoßen und den kleinen Hof, der sich vor dem Gebäude befindet, zu betreten. Dort sinkt sie zu Boden, unfähig sich weiterzubewegen. Nach einer Weile erhebt sie sich und geht langsam über den Hof zu dem Eingang des Gebäudes. Sie klopft an der Tür. Nichts geschieht. Sie versucht es nochmal. Als sich nichts rührt, sieht man, dass sie sich schon fast abwenden will, aber vielleicht sind es auch nur wieder die Schmerzen, die ihre Aufmerksamkeit fordern.
In dem Moment wird die Tür geöffnet.
Eine kleine, schlanke Frau ist in der Tür zu sehen. Sie trägt ein schlichtes, dunkles Kleid, die braunen Haare zu einem strengen wirkendem Dutt frisiert. Im ersten Moment scheint ihr Ausdruck etwas ungehalten, als ob sie sich über die späte Ruhestörung ärgern würde, aber er ändert sich sofort, als sie die Frau- und deren Zustand- wahrnimmt, die sich vor der Tür befindet.
" Du meine Güte," ruft sie aus, "kommen Sie mal schnell rein…" und mit diesen Worten hilft sie der jungen Frau über die Türschwelle und ins Haus hinein.
" Wie heißen Sie denn, Kindchen?- Tilly, " über die Schulter gewandt und in einiger Lautstärke den Flur hinunter," könntest du mir mal helfen? Bereite mal unser Krankenzimmer vor. Mach dort Feuer, bring ein paar Decken, Leintücher und setz einen großen Kessel mit Wasser auf. Und BEEILUNG".
Zwei Stunden später ist das nächste Mal Zeit für etwas anderes als pures Luftholen. Die kleine Frau mit dem Dutt- die im übrigen Mrs. Cole ist- lässt sich mit einem hörbaren Seufzer in einen Stuhl vor dem Kamin im Krankenzimmer niedersinken. Sie sieht zu, wie Tilly die letzten Sachen zusammenpackt, und blickt dann auf das kleine Bündel in ihren Armen, das momentan ruhig schläft. Tilly ist mittlerweile fertig und zündet eine Kerze auf den Nachttisch an. Miss Cole merkt, wie ihr langsam eine Träne die Wangen herunterläuft.
Es ist aber auch alles so schnell gegangen. Kaum hat sie den Zustand der jungen Frau bemerkt, Tilly gebeten, alles im Krankenzimmer für eine Geburt vorzubereiten und jemand losgeschickt, eine Hebamme zu holen, da ist auch schon fast alles vorbei gewesen. Die Geburt ist weiter fortgeschritten, als sie zuerst angenommen hatte. Mit Merope, wie sich die junge Frau vorgestellt hat, ist sie kaum in das Krankenzimmer gelangt. Zum Glück war heute Abend der Nachbar anwesend gewesen (ein pensionierter Arzt), als die Schwierigkeiten begannen, zwar keine Geburtshelferin, aber besser als nichts. Aber auch so ist die Mutter nicht mehr zu retten gewesen. Auch wenn sie noch einige Zeit ausgehalten hat. Dem schnellen Eingreifen des Arztes hatten sie allerdings zu verdanken, dass das Baby gerettet werden konnte.
Der Kleine- sie blickt wieder auf das kleine Bündel in ihren Armen. Sie würden sich hier natürlich des Kindes –er sollte , so wollte die Mutter es, Tom Marvolo Riddle heißen- annehmen, schließlich waren sie ja ein Waisenhaus.
Zunächst würden sie natürlich versuchen den Vater des Kindes, oder Verwandte zu finden, auch wenn sie persönlich nach dem Zustand der Mutter zu urteilen, nicht davon ausging, dass liebende Verwandte involviert waren. Viele Hinweise sind es allerdings auch nicht, die ihnen da vorlliegen.
So wie es aussieht, ist die junge Frau wohl schon etwas länger aus geordneten Verhältnissen herausgerissen -vielleicht hatte sie sie auch nie gekannt. Der Name Marvolo ist auf jeden Fall ungewöhnlich, nun es wäre bestimmt das Beste, eine Anzeige zu schalten, und zu hoffen, dass die Verwandten sie lesen und Tom holen würden.
So wird es auch in die Tat umgesetzt.
Aber weder ein Riddle noch ein Marvolo sollten sich je melden.
Und so kommt es, dass Tom Marvolo Riddle in einem Londoner Waisenhaus groß wird.
