Wo ist der Abendstern?

Es war ein warmer, sonniger Tag Ende Juni.

Wer auch immer Minas Tirith an diesem Tag besuchen würde, um die Weiße Stadt in all ihrer Pracht zu sehen, würde zum Abschluss des Rundgangs selbstverständlich Ecthelions Turm besteigen und – Howard Shores epische Filmmusik im Ohr - die Sicht über die gesamte Ebene genießen.

Die Straßen waren wie an jedem Markttag vollgestopft mit Menschen, die Dinge kauften, verkauften oder versuchten, lebend von einem Ende eines Platzes zum anderen zu gelangen.

Einige von ihnen – es waren etwa fünfzig – stachen durch ihr Erscheinungsbild aus der Menge hervor: Sie trugen dunkelgraue Umhänge über stumpfgrauen Rüstungen und hatten trotz der Hitze die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Hin und wieder tauchte einer im Gedränge auf, hielt einen der Verkäufer an und sprach kurz mit ihm. Andere blieben am Straßenrand und gingen leicht gebückt, als suchten sie etwas auf dem Boden. Erstaunlicherweise gingen sie dabei so geschickt vor, dass die meisten nur alle vier, fünf Meter von jemandem umgerannt oder von einem Karren über den Haufen gefahren wurden.

„Die Spezialeinheit der Dúnedain", würde ein Stadtführer dem neugierigen Touristen nun erklären. „Sie ist König Elessar persönlich unterstellt und wird nur mit Aufträgen betraut, die strengster Geheimhaltung unterliegen. Seit kurzem ist Prinz Eldarion ihr Hauptmann – Sie können ihn dort drüben sehen." Und er würde auf eine vermummte Gestalt deuten, die in diesem Moment von einem streunenden Hund angestoßen wurde, das Gleichgewicht verlor und eine Bruchlandung im nächstgelegenen Misthaufen hinlegte.

„Das kann doch nicht sein!" Noch nie hatte sich König Elessar so aufgeregt gezeigt. Mit schnellen, energischen Schritten lief er durch den Raum und wandte sich dann wieder seinem Hauptmann zu; dabei achtete er sorgfältig darauf, einen gewissen Abstand zu ihm einzuhalten und nur durch den Mund einzuatmen. Zwei Stunden Schrubben hatten den Geruch von Pferdemist nur notdürftig von Eldarion abwaschen können. „Wir haben die ganze Stadt abgesucht", sagte er nun verzweifelt. „Aber keine Spur von ihm." „Vielleicht hättet ihr auf die Kapuzen verzichten sollen", schlug Aragorn bissig vor. „Das erweitert das Sichtfeld enorm, habe ich mir sagen lassen. Und möglicherweise wäre meine Truppe dann mit etwas weniger Verletzungen davongekommen."

„Es gehört zur Tradition", verteidigte sich Eldarion. „Und du hast Anweisung gegeben, dass Mama uns nicht erkennen darf." „Ich hatte Anweisung gegeben, dass sie euch nicht bemerken darf", gab Aragorn zurück. „Das bedeutete im Klartext, ihr solltet nicht die offizielle Uniform der Sondereinheit tragen. Die gesamte Stadt hat euch erkannt! Jetzt darf ich mir heute Abend wieder irgendwelche feindlichen Spione ausdenken, die wir aufzuspüren versucht haben."

„Wir haben überall nachgesehen, wirklich. Vielleicht solltest du es ihr einfach sagen...", schlug Eldarion zögerlich vor und zog sofort den Kopf ein, als sein Vater einige Schritte auf ihn zumachte. Aber Aragorn ließ sich nur auf einen Stuhl neben der Tür fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Das klingt so einfach", stöhnte er. „Wie, um Himmelswillen, soll ich Arwen erklären, dass ich ihren Abendstern verloren habe?!"