Happy Family
14. Oktober 2002 , Manchester
„Anh Tién, ich habe dir schon vor zehn Minuten gesagt, du sollst schlafen. Lösche das Licht, du kannst „Alice im Wunderland" morgen lesen. Es läuft dir nicht weg", ermahnte die Mutter des zwölfjährigen Mädchens sie streng. „Aber Mama, ich kann nicht warten. Es ist gerade so spannend", protestierte Anh Tién, die in ihrem Bett lag.
Der nächste Tag würde wieder lang werden. Schule, Klavierunterricht und Hausaufgaben.
„Das ist es immer, nicht wahr? Aber du sollst dich morgen auf die Schule konzentrieren und nicht übernächtigt die Schulbank drücken. Du sollst es doch mal".
„Besser haben. Als wer? Wieviel besser sollte ich es denn haben als ihr? Papa ist Anwalt und du hast ein eigenes Blumengeschäft", erwiderte das Mädchen.
Ihr hing es zu den Ohren heraus.
„Du sollst es einfach nur…leichter haben um deine Zukunft zu gestalten. Und dafür braucht man gute Schulnoten", konterte ihre Mutter.
Es gefiel der Mutter zwar nicht, dass ihre Tochter Widerworte gab, aber insgeheim musste sie ihr zugestehen, dass sie sie nicht dumm war. Sie hatte ein kluges Kind. Kein Genie, außer im Klavierspielen vielleicht, aber ein kluges Kind. Ihr älterer Bruder mit seinen sechzehn Jahren machte der Chinesin dagegen mehr Sorgen. Er war noch immer nicht heimgekommen, dabei war es bereits nach acht Uhr. Er hätte schon längst daheim sein sollen.
Anh Tién seufzte schwer, legte schmollend das Buch zur Seite und löschte das Licht. Ihre Mutter kam zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich hab´ dich lieb, mein Schatz", flüsterte sie ihrem Kind ins Ohr.
„Ich dich auch, Mama", murmelte Anh Tién, nun doch etwas schläfrig.
Als die Mutter die Tür des Kinderzimmers ihrer Tochter schloss, hörte sie wie ihr Ältester die Treppen hinauf schlürfte.
„Abend, Mama", brummte der Teenager.
„Guten Abend, der werte Herr. Hast du deine Uhr verloren, oder warum erscheinst du erst so spät?", fragte sie ihren Sohn streng.
„Ach Mama, sei nicht so. Ich habe die Zeit einfach vergessen. Wir waren im Skatepark nach der Schule", rechtfertigte sich der junge Mann.
„Ich nehme mal an, ihr habt da auch eure Hausaufgaben gemacht?".
Diese Frage war rhetorisch und der Teenager rollte mit den Augen.
„Du hast nur noch dein Skateboarden im Kopf und bei deinem Violinen-Unterricht warst du schon ewig nicht mehr. Wir zahlen viel Geld für diesen Lehrer. Er berechnet uns die Stunden. Auch wenn du fehlst. Das ist dir schon bewusst, ja?", stellte sie ihren Sohn aufgebracht zur Rede.
Anh Tién hörte das alles mit, der Streit zwischen ihrem Bruder und ihrer Mutter ging schon lange und er hatte immer dasselbe Thema.
Ihr Vater kam immer erst spät nach Hause, er war ein Anwalt in einer großen Kanzlei. Menschenrecht und Einwanderungsrecht. Das waren seine Spezialgebiete. Er war Vietnamese, kam selbst aus einem Land in dem Krieg getobt hatte und Menschenrechte mit Füßen getreten und mit Granaten bombardiert worden waren. Er war ihr Held.
Obwohl sie noch recht jung war verstand sie ihren Bruder. Sie verstand den Druck, der auf seinen Schultern noch stärker lasten musste als auf ihren. Sie war nur ein Mädchen, von ihr wurde erwartet die Familie angemessen zu repräsentieren und einen guten Eindruck zu vermitteln, von ihrem Bruder hingegen erwartete man mehr, irgendetwas Großes. Ihre Eltern mochten nicht so konservativ eingestellt sein, aber der Rest der Familie, auf beiden Seiten, war es irgendwie schon. Ihr Vater hatte mit seiner Karriere so große Fußstapfen geschaffen, ihr Bruder musste das Gefühl haben darin zu versinken. Jedenfalls hatte er ihr das so einmal anvertraut. Nicht in diesen Worten, aber sie konnte seinen Gedanken folgen.
Ihr großer dummer Bruder begriff allerdings nicht, dass er mit seinem Verhalten den Konflikt nur anheizte. Sie seufzte schwer.
Irgendwann schickte ihre Mutter ihren Bruder ins Zimmer und ging die Treppe hinunter. Anh Tién hörte wie der Wagen ihres Vaters vorfuhr. Der Kies knirschte unter den Rädern des Autos. Der Vater stieg aus, schloss die Wagentür und betrat das Haus. Ihre Mutter begrüßte ihn und sie aßen gemeinsam im Wohnzimmer eine Kleinigkeit. Ihre Mutter aß immer nur noch ein wenig Gemüse, da sie meist nur mit ihr und ihrem Bruder, wobei dieser seit einiger Zeit häufiger beim Dinner fehlte, die Abendmahlzeit einnahm.
Dann gingen sie zu Bett. Wie jeden Abend. Mehr oder weniger lief jeder Tag genauso ab. Die Kinder zur Schule, die Eltern zur Arbeit, die Mutter überließ am Nachmittag ihren Angestellten den Laden. Hin und wieder übernahm sie wieder eine Spätschicht, ihre Kinder waren schon alt genug, sich einmal selbst zu versorgen. Bis end endlich Wochenende war. Dann hatten sie meist mehr voneinander. Unter der Woche sahen Anh Tién und ihr Bruder ihren Vater so gut wie nie.
Bis zu jenem Tag im Oktober, dem Vierzehnten, um ein Uhr in der Nacht.
Ein großer Schatten näherte sich leise dem Haus. Ein Mann, breitschultrig und hochgewachsen, lief die Straße entlang. Er hatte eine Umhängetasche aus schwarzem Stoff sein Gang war beschwingt. Er wirkte fast harmlos, wie ein nächtlicher Spaziergänger. Sein Auto stand ordnungsgemäß geparkt einige Meter von dem Haus der Familie Hoang entfernt.
Er betrat den gepflasterten Weg zum Eingang des Hauses, in dem der Anwalt mit seiner Familie lebte. Der Mann wusste, was er zu tun hatte und wie er es zu tun hatte. Keiner durfte noch leben, wenn der Morgen anbrach. Es war sein Handwerk und er verstand sich darin.
Leise öffnete er mit einem Dietrich die Haustür und zog eine kleine aber starke Taschenlampe hervor. Er ging durch das Erdgeschoss, zielgerichtet auf das Schlafzimmer des Anwalts zu, in dem seine Opfer schliefen. Aus seiner Umhängetasche zog er eine Waffe, mit einem Schalldämpfer daran. Der erste Schuss war auf den Mann gerichtet, das eigentliche Ziel der ganzen Aktion. Er schoss auf seinen Kopf. Die Schüsse waren zwar gedämpft aber eben nicht lautlos. Die Mutter erwachte aus ihrem von Hause aus leichten Schlaf. Es nutzte ihr nichts, sie hatte nicht einmal Gelegenheit die Situation zu erfassen als ein weiteres Geschoss in ihren Schädel eindrang und wieder austrat, dabei Blut, Hirnmasse und Schädelsplitter auf der weißen frischen Bettwäsche verteilte, die sie erst am Abend zuvor gewechselt hatte.
Dann machte er sich auf den Weg zu den Kinderzimmern ins obere Stockwerk.
Der Fremde in dem Haus konnte ja nicht ahnen, dass er nicht ganz unbemerkt geblieben war. Unter der Bettdecke hatte Anh Tién sich der Anweisung ihrer Mutter widersetzt und mithilfe ihrer Taschenlampe weiter die fantastische und surreale Welt des Wunderlands durchstreift, Seite an Seite mit Alice. Ihre guten Ohren mit dem feinen Gehör hatten dabei die Schritte vor dem Haus wahrgenommen. Zu solch später, beziehungsweise früher Stunde waren selbst die Hundebesitzer der Straße nicht unterwegs, schon einmal gar nicht so nah am Haus. Sie hatte nur noch den Schatten in ihrem Haus verschwinden sehen können. Sie krabbelte aus dem Bett und wollte zu ihrem bruder hinüberlaufen. Sie hörte die Schritte im Haus, die nicht zu ihren Eltern gehörten. Anh Tién löschte ihre Taschenlampe und öffnete vorsichtig ihre Tür. Sie wusste, dass ihr Bruder schon ein Handy besaß. Sie selbst sollte erst eines mit vierzehn bekommen. Die Polizei musste kommen. Schnell. Auf dem Weg zum Zimmer ihres großen Bruders, erfasste sie ein Lichtstrahl. Sie drehte sich in die Richtung, kniff die Augen zusammen und sah ganz kurz den Mann, der in ihrem Haus nichts zu suchen hatte, den sie aber flüchtig sah und erkannte. Er war vor ein paar Tagen erst hier gewesen. Der Elektriker, den sie hatten rufen müssen, weil der Strom ausgefallen war. Anh Tién kam kaum dazu sich zu fragen, was das zu bedeuten hatte, schon war es vorüber. Die Kugel traf sie genau wie ihre Eltern und sie fiel zu Boden. Ihr Blut rann ihr Gesicht herab, war warm und dick, und drang in die Fugen des Holzes unter ihr ein.
Der Mann kam die Treppe herauf, dieser Zwischenfall war nicht eingeplant gewesen, aber er hatte die Situation gemeistert. Er stieg über den leblosen Körper des Mädchens hinüber und öffnete die Tür zum Zimmer des Jungen. Keine zehn Sekunden später war der Letzte der Familie Hoang tot. Der Auftrag war noch nicht ganz beendet. Der Fremde machte noch Unordnung, es sollte nach Raubmord aussehen. Er ließ ein paar Schmuckstücke der Mutter und andere Wertgegenstände mitgehen. Alles mit Handschuhen, damit er auch ja keine Spuren hinterließ. Er war dabei ruhig und professionell, dies war nicht sein erster Mord, er hatte nicht zum ersten Mal eine ganze Familie ausgelöscht.
Als er das Haus verließ, ließ er die Haustür einen Spalt breit offen. Um den Eindruck zur vermitteln es handelte sich hierbei um einen Raubmord beschädigte er noch ein wenig das Schloss und den Türrahmen.
Es dauerte noch einige Stunden bis der erste Nachbar beim Joggen die offene Haustür bemerkte und die Polizei benachrichtigte, die kam und sah was geschehen war.
