Ein Gasthaus an der Oststraße

Schallendes Gelächter hallte durch den großen Schankraum des Gasthauses am Breeberg. Polternd tanzten zwei Halblinge auf einem der alten, unerschütterlichen Tische und sangen aus voller Kehle, während der Rest der illustren Gesellschaft mit einstimmte und die hölzernen Bierkrüge in die Höhe reckte.

„Ein Heller und ein Batzen,
Die waren beide mein, ja mein
Der Heller ward zu Wasser,
Der Batzen zu Wein, ja Wein,
Heidi, heido, heida
Heidi, heido, heido hahaha"

Die Luft war stickig und stank nach Alkohol, kaltem Rauch und dem intensiven Geruch der Reisenden, die seit Tagen auf dem Grünweg oder der Oststraße unterwegs waren - gleichwohl schien Kíli in diesem Augenblick nichts vergnüglicher und so willkommen, wie dieser Geruch, rief er in ihm doch das warme Gefühl der Freiheit und des Frohmuts wach. Er zweifelte, dass er sich je wieder wirklich frei fühlen würde, wenn diese Nacht vorüber war. Hätte es in seiner Macht gestanden, so wäre die Sonne nie wieder aufgegangen und dieser fröhliche Abend in dem Gasthaus, das die Halblinge schlicht das Pony nannten, hätte nie geendet. Doch so sehr er sich auch weigerte die Zeit loszulasse, sie floh dahin. Er hob lachend seinen Krug und reckte ihn dem Kreis seiner Begleiter entgegen. „Trinkt aus auf drei", rief er. „Drei!"

Die zwei jungen Zwerge am anderen Ende des Tisches rissen grölend ihre Krüge an die Kehlen und stürzten den kühlen Gerstensaft hinunter, für den Shamrock Butterblumes Familie bereits seit Generationen weit über die Grenzen Brees und des Auenlandes hinaus bekannt war. Feixend und brüllend ließen sie die leeren Krüge auf den Tisch krachen. Nur Fíli stimmte nicht in ihr Johlen ein und beobachtete seinen jüngeren Bruder mit bekümmerter Miene. „Was habt ihr Herr Fíli?" fragte Nori lallend. Sein Atem roch nach Bier und Fíli verzog angewidert das Gesicht. „Ihr solltet Herrn Kílis letzte Nacht in Freiheit mit uns feiern. Es ist schließlich nicht so, als wüsstet ihr nicht, welch betrübliches Abenteuer ihm bevorsteht." Er schlug sich mit der Faust auf die Brust und rülpste lautstark. „Eines, auf das ich mich im Übrigen niemals einlassen werde." Er grinste von einem Ohr zum anderen, während Ori ihm auf die Schulter schlug. „Sag das nur nicht so laut Nori, wir glauben dir am Ende noch!"

Fíli griff nach seinem Bier. „Glücklich kannst du dich schätzen Nori, wenn nichts zwischen deine guten Absichten und dich kommt. Ich habe gelernt, dass Vorsätze wie Aale sind – leicht zu fassen, doch schwer zu halten. Auch ein Zwerg vermag dem Schicksal nicht in den Rachen zu greifen." Nori musterte Fíli zweifelnd und schob ihm eines der Bier über den Tisch, die das dralle Fräulein Butterblume soeben gebracht hatte. „Sei kein Quengler Fíli, heute Nacht ist nicht die Zeit zum Philosophieren."

Fíli nickte müde und nahm einen Schluck von seinem Bier. „Was ist los Bruder", fragte Kíli. „Du siehst aus, als sei dir eine Laus über die Leber gelaufen." Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er seinen Krug auf ein Neues an die Lippen hob und einen kräftigen Schluck nahm. Der Alkohol hatte seine Wangen rot gefärbt. Lang schon war er über dem Punkt hinaus, an dem man noch hätte sagen können, er sei angeheitert. Er war betrunken, seine Augen glasig und der Blick berauscht. „Es ist selten eine gute Idee seine Sorgen im Alkohol ertränken zu wollen Kíli – sie sind hervorragende Schwimmer. Weder Bier noch Wein können abwenden, was auf dich wartet und sie werden es auch nicht ändern. Es wäre besser, du würdest deinem Schicksal mit klarem Kopf und wachem Geist begegnen. Du wirst es morgen nur bereuen." Kíli verzog die Augen zu schmalen Schlitzen und legte die Stirn in Falten.

„Bei allen sieben Vätern Fíli", sagte er. „Wer dich reden hört, glaubt das Schlachtfeld warte auf mich." Fíli nahm noch einen Schluck von seinem Bier und starrte in seinen Krug, als läge auf dessen Grund die Wahrheit allen Seins. „Glaub mir, wenn Krieg und Frieden sich erst täglich die Klinke in die Hand geben, dann wünschst du dir irgendwann, es wäre nur eine Schlacht, die du mit einem Schwert in der einen und einer Axt in der anderen Hand austragen könntest." Er presste die Zähne aufeinander und sprach mit gedämpfter Stimme. Als er den Kopf wandte und Kíli ansah, starrte sein Bruder mit fiebrigen Augen an ihm vorbei. Der jüngere hatte nicht ein Wort von dem gehört, das Fíli gesagt hatte und als er dessen Blick folgte, erkannte er ohne Mühe den Grund für Kílis Unaufmerksamkeit.

Am Tresen der belebten Schenke stand eine Zwergin und unterhielt sich mit Shamrock dem Wirt. Sie trug einen staubigen Mantel und hatte die ledernen Handschuhe noch nicht abgelegt. Sie konnte eben erst zur Tür hinein gekommen sein.

Fíli schnalzte abwertend mit der Zunge und drehte sich wieder zu seinem Bruder herum. „Denk nicht einmal dran!" sagte er scharf und packte Kíli am Ärmel seiner schwarzen Tunika. Der jüngere lächelte versonnen und starrte von seinem Ärmel hinauf zu Fílis Gesicht. „Warum, nur weil es das letzte Mal sein wird, ohne das mein Gewissen selbst über mich richtet?" Er griff mit der Rechten nach Fílis Hand und schob sie von sich. „Du bist mein Bruder. Gönn mir die kurze Lust Fíli, ehe ich jeden untreuen Gedanken allein schon mit Reue büßen muss." Beschwingt stand er auf und entzog sich mit einer tänzelnden Bewegung der Hand seines Bruders, die erneut nach ihm griff. „Setz dich wieder hin Kíli", zischte der ältere der beiden Zwergenprinzen und sah zornig zu seinem Bruder auf. „Du machst dich nur zum Narren. Es rinnt so viel Bier durch deine Adern, dass du schon aus jeder Pore danach stinkst. Du wirst froh sein, wenn sie erst dankend ablehnt und dir dann eine Ohrfeige gibt und nicht anders herum."

Doch Kíli hörte ihn bereits nicht mehr und schlängelte sich leichtfüßig durch die sich dicht drängende, ausgelassene Menge in Richtung des Tresens. Seine Schritte waren nicht mehr ganz fest und er wankte mehr, als dass er ging. Sorgenvoll sah Fíli ihm nach und entschied, dass es seinem Bruder noch schlechter bekommen würde, wenn er ihn inmitten all der Menschen, Zwerge und Halblinge versuchen würde mit Gewalt aufzuhalten. Er musste dem Schicksal seinen Lauf lassen.

Nori blickte Kíli mit einer Mischung aus gespielten Neid und echter Besorgnis hinterher. Mit einem Brummen wandte er den Blick zu Fíli und fragte: „Glaubst du, er ist dazu überhaupt noch in der Lage?" Fíli wäre nicht der Bruder gewesen, der er war, wenn er nicht wenigstens in diesem Augenblick Partei für Kíli ergriffen hätte und so langte er nach einem der halbleeren Bierkrüge auf dem Tisch und leerte ihn schwungvoll über Noris Haupt, um ihn alsdann mit dem leeren Krug zu krönen. Sprachlos starrte Nori den Zwergenprinzen an und leckte sich das schäumende Bier von den Lippen, während Ori in ein prustendes, schallendes Gelächter ausbrach.

Kíli schob sich am Bauch eines beleibten Herrn vorüber und hatte das Objekt seiner Begierde fast erreicht. Über den Lärm der Schenke hinweg hörte er, wie Shamrock der wohlgewachsenen Zwergin sagte, dass er sich sogleich um ihre Ponys kümmern werde und der Bursche das Gepäck bereits auf die Zimmer gebracht hätte, als am anderen Ende des Raums Ori sein dunkles Lachen lachte und sich sowohl Shamrock, als auch dessen Gast sich je umdrehten. Kíli blieb vor ihren Fußspitzen stehen und fing ihren kristallenen, grünen Blick mit seinem. Für einen winzigen Moment fragte er sich, ob ihre Augen wirklich so schön waren, oder ob das Bier und die späte Stunde seinen Blick verklärten. Er entschied, dass es kaum eine Rolle spielte und lächelte sie an.

Verwirrt sah sie zu ihm auf. Sie war nicht klein und reichte ihm doch gerade bis zum Kinn. Ihr aschblondes Haar hatte sie mit einem losen Zopf zusammen gebunden und ihr Gesicht war schmutzig von der Reise und gezeichnet von Müdigkeit und Erschöpfung. Shamrock trat an ihr vorbei. „Ich werde die Ponys in den Stall bringen", sagte der Wirt im Vorbeigehen. Abwesend nickte sie und sagte dann über ihre Schulter hinweg, dass sie gleich nachkommen werde. Sie musterte Kíli mit argwöhnischem Blick.

„Wollt ihr mir nicht verraten, wie euer Name ist?" fragte er schließlich. Sie trat einen Schritt zurück und beäugte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. „Wie ist der eure?" gab sie die Frage zurück.

„Wie immer ihr mich nennen wollt", erwiderte Kíli, was der Zwergin ein abfälliges Schnauben entlockte. Sie schüttelte den Kopf und durchbohrte ihn mit einem vielsagenden Blick, doch als sie an ihm vorübergehen wollte, hielt er sie am Arm fest. Ihr Blick traf den seinen mit zornigen Funken, als sie abrupt stehen blieb und wieder zu ihm aufsah. „Lasst mich los!" Forderte sie mit erboster Stimme und zog an ihrem Arm.

„Ihr tut mir unrecht", sagte Kíli indem er sie tatsächlich losließ und die Hände hob, um zu zeigen, dass er sie nicht wieder gegen ihren Willen anfassen würde. Sie neigte den Kopf etwas zur Seite und eine steile Falte zeichnete sich zwischen ihren Augenbrauen ab. „In Aules Namen", sagte sie. „Ich habe eine weite Reise hinter mir und bin müde. Treibt eure Spielchen mit jemand anderem und lasst mich in Frieden!"

Kíli musste sich eingestehen, dass er gehofft hatte, es würde einfacher werden die junge Zwergin, die keinen Tag älter sein konnte als er selbst, zu erobern. Doch er war noch nicht Willens aufzugeben. Mit Daumen und Zeigefinger fuhr er sich über die Augenlieder und warf dann einen flüchtigen Blick zu seinen Freunden am anderen Ende des Raumes. Als er sich ihr wieder zuwandte, verneigte er sich und sagte: „Ori. Mein Name ist Ori." Erwartungsvoll sah er sie an. „Und nun ihr. Ihr seid es mir schuldig!" Er lächelte noch immer und seine Augen waren im trüben Licht der schwachen Öllampen fast schwarz.

Sie seufzte. „Tamielí, und nun lasst mich endlich gehen." Auf ein Neues unternahm sie den Versuch an ihm vorbei zur Tür zu gehen. Kíli, vom Alkohol ermutigt, stellte sich ihr beherzt in den Weg. „Ich bitte euch", sagte er. „Trinkt wenigstens etwas mit mir. Ich verspreche, dass es nicht zu eurem Schaden sein wird." Sie hob abwehrend die Arme, als sie gegen ihn prallte und er sie auffing. Für den Augenblick eines Herzschlags waren sie sich gefährlich nah und Kíli spürte die Wärme ihres Körpers und die Klinge, die sie unter dem verdreckten Mantel trug.

„Ihr seid bewaffnet." Stellte er verwundert fest, ohne über seine Worte nachzudenken. Sie schob sich von ihm, doch er griff nach ihren behandschuhten Handgelenken. „Es ist eine gefährliche Reise über die Oststraße nach Bree", sagte Tamielí und nun lächelte auch sie, doch Kíli war viel zu betrunken, um zu erkennen, wie gefährlich dieses Lächeln war.

„Dann tragt ihr ein Schwert, um euch gegen Wegelagerer und Diebe zu verteidigen?"

„Ich trage vor allem ein Schwert, um meine Herrin vor Männern wie euch zu schützen!"

Kíli versuchte sie an sich zu ziehen. „Und wer beschützt euch vor Männern wie mir?"

Mit einem schnellen, heftigen Ruck hatte sie ihm ihren rechten Arm entrissen, drehte sich einmal um die eigene Achse und zog ihn mit sich. Ehe Kíli wusste, wie ihm geschah, hatte sie den Spieß herum gedreht und die Finger ihrer linken Hand um sein Handgelenk geschlungen. Sie drehte ihm den Arm auf den Rücken und schob ihn mit einem kraftvollen Stoß nach oben. Ein brennender Schmerz schoss zu Kílis Schulterblatt empor. Er war so überrascht von ihrem Angriff, dass der Schmerz ihn überwältigte und ihn in die Knie zwang. Sein Oberkörper sackte nach vorn, um sich aus ihrem Griff zu lösen und mit einem einzigen großen Schritt stieß sie ihn mit der Wucht ihres Körpers um. Er fiel der Länge nach auf den sandigen, ausgetretenen Dielenboden. Ehe er sich besinnen konnte war Tamielí über ihn hinweg getreten. Mühevoll stemmte er sich auf die Arme und wollte sich aufrappeln, als er sie bereits durch die Tür verschwinden sah.

Irgendjemand hielt ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen, doch er schlug sie verärgert fort. Langsam zog er die Knie an und blieb mit schmerzender Schulter und verletzter Ehre am Boden sitzen. Die Ärmelnaht seiner Tunika war gerissen und bei seinem Aufprall auf den rauen Boden hatte er sich das Kinn abgeschürft. Gedankenverloren rieb er die brennende Stelle in seinem Gesicht, als ein Paar Stiefel neben ihm haltmachen. Er musste nicht zu ihm aufblicken, um zu wissen, dass er mit wissendem Grinsen auf ihn hinab sah. „Na bravo!" Sagte Fíli.