Miss Frys Erinnerung
Miss Fry lebte in einer Studentenwohnung mitten in London. Sie besaß diese Wohnung seit vielen Jahren und war einfach nicht bereit diese aufzugeben. Zu viele Erinnerungen klebten an ihr sowohl gute als auch schlechte, doch Miss Fry erinnerte sich an jeden ihrer Tage gern zurück.
Fast ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Mit 20 war sie als Studentin eingezogen nun ging sie auf die 60 zu und dachte besonders gern an ihre Jugend, weil ihr das Alter auch nichts Neues mehr brachte außer Schmerzen in den Gelenken. Grade deshalb wollte sie auch ihre letzten Tage noch in ihrer kleinen Wohnung verbringen, auch wenn ihr Sohn sie wöchentlich bat zu ihm und seiner Familie zu ziehen. Doch die Studentenwohnung mitten in London war nun einmal Miss Frys zu Hause.
Ihr Vater hatte ihr die Wohnung besorgt in der Hoffnung, dass zumindest seine jüngste Tochter etwas aus ihrem Leben mache, wo doch die ältere mit einem verheirateten Mann durchgebrannt war. Julia Fry hatte sich vorgenommen erst nach dem Studium an ihre familiäre Lebensplanung zu denken, was aber nicht lange gehalten hatte. Ein ganzes Jahr hatte sie studiert, doch schließlich war sie schwanger geworden. Von ihrem Vater konnte sie keine Hilfe mehr bitten, denn er war zornig darüber, dass er all das umsonst für sie getan hatte und schämte sich für seine Töchter. Nun war sie auf sich allein gestellt mit dem Kind. Den Vater kannte sie auch nicht wirklich. Es war eine Nacht gewesen. Sie kannte damals nicht mal seinen Namen, eigentlich wusste sie gar nichts über ihn.
Zwei Freundinnen von der Uni hatten sie überredet mit ihr in eine der Diskotheken zu gehen, die bei den Studenten so beliebt waren. Weil sie so vorgeschwärmt bekam und schließlich doch neugierig geworden, hatte sie sich mitschleifen lassen. Drei Wochen lang war nichts außergewöhnliches passiert. Sie hatten sich amüsiert und Julia Fry hatte sich auch nichts dabei gedacht. Doch nach drei Wochen, sie war grade durstig vom Tanzen geworden und wollte sich einen Drink bestellen, da sah sie einen jungen Mann an der Theke stehen. Er hatte rabenschwarze Haare, die er etwas länger trug und die ihm perfekt ins Gesicht fielen. Auch insgesamt sah er unverschämt gut aus. Als sie zu ihm herüberkam, grinste er sie von der Seite an. Ein unwiderstehliches Lächeln. Sie unterhielten sich lange… sehr lange und Julia Fry hatte die Zeit vergessen. Als sie es bemerkte, waren auch ihre Freundinnen schon nach Hause gegangen. Nur noch sehr wenige Leute hielten sich in der Diskothek auf. „Soll ich Sie nach Hause fahren?", hatte der Mann höflich gefragt und Julia war einverstanden und er fuhr sie mit seinem Motorrad nach Hause. Doch dabei blieb es nicht. Aus dieser Nacht wurde mehr und doch nicht, denn nach dem Frühstück am nächsten Tag war der gut aussehende Mann verschwunden. Das einzige was sie von ihm zurückbehielt war ein Kind. Ein Kind, das sie alleine, mit größten Mühen und ohne fremde Hilfe aufzog. Es waren harte Zeiten für sie gewesen und zu gern hätte sie Samuel einmal seinen Vater vorgestellt, damit er sah von wem er sein schwarzes Haar hatte. Samuel konnte genauso unwiderstehlich lächeln wie sein Vater und auch die Augen waren genauso grau wie die seinen. Samuel sah zwar aus wie sein Vater, doch Julia fand, dass er vom Typ her eher ihr glich. Natürlich wusste sie nicht wie Sams Vater wirklich gewesen war, doch sie erkannte sich selbst in Sam wieder. Zu schön wäre es gewesen die beiden mal miteinander bekannt zu machen. Doch leider würde dieser Wunsch nie für sie in Erfüllung gehen. Oft hatte sie sich erträumt, wie er wohl lebte, wer er war. Genaueres über ihn herauszufinden wäre schon alles gewesen, was Julia Fry sich erhofft hatte.
Einmal hatte sie im Fernsehen in den Nachrichten einen Mann gesehen der ihm in gewisser Weise ähnelte, eigentlich wollte sie das gar nicht denken und sie verbannte diesen Gedanken auch sofort wieder aus ihrem Kopf, doch wenn man die ganzen Ungepflegtheiten des entflohenen Sträflings hätte weggelassen, ohne sein ausgemergeltes Gesicht hätte er es vielleicht sein können. Aber Julia wollte nicht denken, dass der Vater ihres Sohnes ein solcher Mensch war. Sie wusste es besser, dachte sie.
Zu der zeit war Samuel ungefähr 13 gewesen, mittlerweile wohnte er etwas abseits von London in einem Vorort. Seit ein paar Jahren war er verheiratet und hatte einen Sohn namens Max. Das Aussehen hatte Sam komplett an Max weiter gegeben. Auch Max glich seinem Großvater und seinem Vater wie ein Ei dem anderen. Er war gerade erst elf geworden und würde im Sommer auf eine höhere Schule kommen. Samuel hatte eine recht gute Ausbildung genossen. Jedenfalls hatte er es zu etwas gebracht und er konnte gut für seine jetzige Familie sorgen, jedenfalls besser als sie damals.
Größtenteils hatte Julia ihren Lebensunterhalt sowie auch die Miete für die Wohnung durch Kellnern und andere Nebenjobs verdient, dadurch mussten sie immer etwas kürzer treten. Trotz des Geldmangels waren sie immer glücklich gewesen und das war auch das einzige was Julia Fry jetzt noch wollte, glücklich sein, bis an ihr Ende.
