Kapittel 1 - Lisas Brief
Zum Glück war es Bruno Lehmann, der an diesem Tag die Post der Plenskes aus dem Kasten holte und so Lisas Brief als erster in die Hand bekam. Er hatte ihn gelesen und war auf der Stelle zu Jürgen in den Kiosk gefahren. Auf keinen fall dürften Bernd und Helga diesen Brief sehen, die könnten keine Nacht mehr schlafen, das war klar. Jürgen hatte Bruno gleich angemerkt, dass etwas nicht stimmte, als dieser grußlos in seinen Kiosk eintrat. „Was ist los?" hatte er sofort gefragt, und daraufhin ohne einen Kommentar einen zusammengefalteten Zettel in die Hand bekommen, den Bruno aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Jürgen faltete den Brief auf und las:
Liebe Mama, lieber Papa,
es fällt mir wirklich nicht leicht, Euch diese Zeilen zu schreiben, denn was ich euch zu sagen habe, ist traurig und bitter. Ich habe Euch angelogen die letzten anderthalb Jahre – euch, und vor allem mich selbst.
Die Wahrheit ist, dass die schönen, glücklichen Postkarten, die Ihr regelmäßig von mir erhalten habt, nur die Oberfläche zeigten. Wenn ich sie geschrieben habe, saß ich meist allein in unserer jeweiligen Unterkunft. Am Anfang habe ich David geglaubt, als er mir sagte, er wolle in den Staaten der Südsee neue Connections für die Firma knüpfen und müsse deshalb öfter mal ohne mich weggehen. Schließlich war er immer mit Leib und Seele Kerima gewesen und eigentlich war es ja nur liebenswert von ihm, dass er mir die Erholung gönnen wollte und diese Geschäftstermine ohne mich über die Bühne brachte. Ich wehrte mich innerlich dagegen, all die ach so offensichtlichen Zeichen wahrzunehmen oder gar zu deuten. Nach einem halben Jahr jedoch konnte ich das erste Mal nicht mehr an mich halten, und stellte meinen Mann zur Rede. Er gab alles zu, gelobte auf Knien Besserung und flehte mich an, ihm zu verzeihen. Ich tat es natürlich.
Danach änderte sich - nichts. Liebe macht blind und mein Herz beschloss, sich zu arrangieren. So übersah ich wieder beflissentlich die Zeichen, wie es nur eine Frau tut, die liebt, oder die nicht aus einem schönen Traum von Liebe erwachen will?!
Doch als David mir vor zwei Monaten eine junge, schwangere Frau vorstellte, mir wie selbstverständlich offenbarte, dass sie sein Kind erwartete und mir, da ich doch eh wüsste wie er ist, eine offene Ehe vorschlug, war ich mit meiner Kraft und meiner Duldsamkeit am Ende.
Ich habe mir eine Weltkarte genommen, die Augen geschlossen und mit dem Finger darauf getippt. An dem Ort, auf dem mein Finger die Karte berührte, bin ich jetzt. Es ist eine idyllische Landschaft mit einfachen Menschen und gutem Essen. Ich lebe hier sehr zurückgezogen und ich glaube, ich will hier alt werden. In meinem Leben soll es nun keine hirnrissigen Träume und Illusionen mehr geben, es soll einfach sein, von einem Tag zum anderen, ohne hohe Ziele, denn ich habe schmerzlich gelernt, dass hohe Ziele sowieso nie erreichbar sind.
Es würde euch nur weh tun, mich so zu sehen, deshalb möchte ich nicht, dass ihr wisst, wo ich bin. Ich werde für den Rest meines Lebens hier bleiben und in Einheit mit der Natur alt werden. Weder beruflicher Aufstieg, noch romantische Liebe haben mich glücklich gemacht, also will ich hier mein stilles Glück annehmen und genießen. Ich wünsche Euch von Herzen alles, alles Gute. Sagt all den lieben Menschen bei Euch und in der Firma einen herzlichen Gruß von mir. Ich werde Euch alle in meinem Herzen behalten und sehr, sehr vermissen, aber ich weiß, so ist es besser für alle. Bleibt gesund und seid Glücklich!
Herzlichst Eure Lisa!
PS:
Bitte macht euch keine Sorgen um mich und vor allem – kein Mitleid! Ich war nicht erwachsen genug, Verliebtheit von Liebe – Traum und Illusion von Glück und Realität - zu unterscheiden! Wir alle wissen, dass ich eine andere Wahl gehabt hätte, dass jemand, der es wahrlich nicht verdient, wegen mir wohl Höllenqualen gelitten hat, die er jetzt hoffentlich nicht mehr leidet?! Ich werde mir das nie verzeihen und meine Situation jetzt ist nur gerecht! Bitte lasst auch ihm meinen Gruß ausrichten, falls einer noch Kontakt zu ihm haben sollte. Ich würde diesen Menschen gern um Vergebung bitten, doch das steht mir nicht zu… Ich brauchte diese Erfahrungen wohl leider, um endlich in der Realität anzukommen, dem Leben ohne Illusionen und Träume.
Jürgen faltete den Zettel wieder und gab ihn Bruno zurück. Nachdenklich sah er ihn an. „Ich hab es immer gewusst!", murmelte er. „Jürgen, Du musst mir alles erzählen." Bruno sah seinen Freund ernst an. Jürgen kannte diesen Blick nicht von ihm. Ernst, tief besorgt, und auf eine Art neugierig. Aber nicht so vorwitzig neugierig wie sonst, sondern eher um Verständnis ringend. „Ich weiß nicht viel über meine Halbschwester,", sprach Bruno weiter. „Aber ich weiß, wie viel sie meinem Vater und Helga bedeutet." Er schluckte. „Jürgen, ich habe Helga Plenske mit meinem auftauchen wohl den größten Traum ihres Lebens weggenommen, den Traum von der absoluten Ehrlichkeit zwischen ihr und meinem Vater. Sie hat sich nur mühevoll erholt davon, sie wird es nicht überstehen, jetzt ihre Tochter zu verlieren. Und auch mein Vater wird ein gebrochener Mann sein." „Mensch, Bruno, so kenn ich dich ja gar nicht!" sprudelte es aus Jürgen heraus, der einfach nicht mehr an sich halten konnte, seiner tiefen Überraschung Ausdruck zu geben. „Ich weiß, so kennt mich fast keiner.", antwortete Bruno ruhig. „Aber aus diesem Brief spricht so viel Verzweiflung. Diese Frau, die so Großes erreicht hat! Sie ist Mehrheitseignerin einer großen Firma. International bekannt! Und jetzt will sie zurückgezogen irgendwo ohne Träume und Illusionen leben? – Jürgen, ich muss etwas tun, sonst geht diese Familie, die ich gerade erst gefunden habe, schneller zugrunde, als irgendeiner gucken kann!"
Jürgen seufzte. „Bruno, ich werde Dir gerne alles erzählen, aber…" Es fiel ihm wahrlich nicht leicht auszusprechen, was ihm die ganze Zeit so schwer auf der Seele lag. „Selbst, wenn du alles weißt. Du hast nichts in der Hand, um Lisa zurückzuholen. Idyllische Landschaften mit gutem Essen und einfachen Menschen… das kann überall sein." „Bitte, Jürgen, erzähl mir trotzdem alles!", flehte Bruno. „Ich weiß, wie aussichtslos es eigentlich ist, aber ich habe noch ein Bisschen Hoffnung, mir würde schon etwas einfallen, wenn ich nur mehr über sie wüsste" Ihr Mann, das war doch David Seidel, der Sohn von meinem Chef!" „Ja, das stimmt!", bestätigte Jürgen. „Und wieso hast Du dann vorhin gesagt, Du hättest es schon immer gewusst?" „Naja." Jürgen suchte nach Worten. Schließlich verband ihn zu David irgendwie immer noch eine Art Freundschaft. „Sagen wir mal so. David ist eigentlich echt total in Ordnung, aber er konnte seine Finger noch nie nur bei einer Frau lassen. Und Lisa, die stellt im Grunde das Sinnbild von Treue und Ehrlichkeit schlechthin dar."
Während er das sagte, dachte er an Rokko. Ja, ehrlich war sie zu ihm wohl gewesen, an jenem schicksalsträchtigen ersten September 2006. Aber von ihrem berühmt/berüchtigten Mitgefühl, das seine Freundin aus Schultagen so auszeichnete, hatte er nichts gespürt in diesem Moment. „Aber er hat sie doch geliebt!", riss Brunos Stimme ihn wieder aus seinen Gedanken. „Sonst hätte er sie doch nicht geehelicht." „Ja, ich denke schon!", entgegnete Jürgen sinnend. „Aber Liebe und Treue waren für David niemals das selbe." „Und das hat sie in Kauf genommen? Sie muss ihn ja fast vergöttert haben!" „Ja, das hat sie, deshalb hat sie ja auch ihn geheiratet und nicht Rokko." „Rokko? Wer ist denn das nun schon wieder?", Bruno sah Jürgen mit großen staunenden Augen an. „Rokko Kowalski war damals der PR-Chef von Kerima. Ein ziemlich ausgeflippter, schriller Chaot, aber herzensgut und grundehrlich. Er hat Lisa aus tiefster Seele geliebt, aber er war eben nicht David Seidel…"
Und dann erzählte Jürgen dem verblüfften Bruno Lisas ganze Geschichte. Wie sie zu Kerima kam, als Assistentin der Geschäftsführung abgelehnt wurde, im Catering landete und David gleich am ersten Tag das Leben rettete. Wie sie doch noch Davids Assistentin wurde, wie sie für ihn vor seiner Verlobten immer und immer wieder gelogen hatte. Er erzählte von Sophie und Richard von Bramberg, die Kerima feindlich übernehmen wollten. Von B-Style und davon, wie Lisa Mehrheitseignerin der Firma wurde. Er berichtete von Mariellas Trennung von David, von ihrem Weggang und von Davids Verzweiflung darüber. Davon, wie Rokko Kowalski in der Firma auftauchte. Von Lisas Abneigung Rokko gegenüber und wie sie sich dann doch annäherten, sogar zusammenkamen. Von Davids plötzlichem Liebesgeständnis nur ein paar Tage später, das prompt Lisas Trennung von Rokko zur Folge hatte. Von Davids Entführung, seiner Rettung durch Lisa und Rokko, und wie er ihr dann einen Korb gab. Schließlich von Rokkos und Lisas zweitem Versuch miteinander, von den Hochzeitsplänen, von Davids Antrag auf dem Schimmel, vom Polterabend. Er Endete mit der Beschreibung des Hochzeitstages, Richards Sprengabsichten, dem Schuss und Lisas Entscheidung, Rokko den Ring zurückzugeben.
Bruno zog noch einmal den Brief aus seiner Tasche. „…Wir alle wissen, dass ich eine andere Wahl gehabt hätte, dass jemand, der es wahrlich nicht verdient, wegen mir wohl Höllenqualen gelitten hat, die er jetzt hoffentlich nicht mehr leidet?! Ich werde mir das nie verzeihen und meine Situation jetzt ist nur gerecht! Bitte lasst auch ihm meinen Gruß ausrichten, falls einer noch Kontakt zu ihm haben sollte. Ich würde diesen Menschen gern um Vergebung bitten, doch das steht mir nicht zu…" „Sie hat nicht einmal gewagt, seinen Namen zu nennen.", sagte Bruno leise. „Ja.", entgegnete Jürgen. „Und Rokko war der wirklich fairste und aufrechteste Verlierer, den man sich nur vorstellen kann." Bei diesen Worten erinnerte er sich genau an Rokkos Blick, als sie ihm den ring zurück gab - so voller Liebe für Lisa, ja, sogar Freude über ihr Glück, und gleichzeitig so verzweifelt, so gebrochen, so verletzt. „Alle haben den armen Rokko damals stehen gelassen.", fuhr er traurig fort. „Sogar ich."
