Die Geschwister Gisborne

Kapitel 1:

Gisborne spürte wie er in tiefer Dunkelheit versank. Das Letzte was er sah war Robins Angesicht, das letzte was er spürte waren seine Arme, die ihn festhielten. Irgendwie beruhigte ihn der Gedanke, dass sein Tod Robin nicht gleichgültig war. Wenigstens einer, der nicht über sein Ableben frohlocken würde. Selbst seine Schwester verabscheute ihn. Sie hatte ihn umgebracht! Ihren eigenen Bruder! Er hätte niemals gedacht, dass Isabella dazu fähig wäre.

/Du meinst so wie du/, erklang auf einmal eine Stimme die von überall und nirgendwo zu kommen schien, aber er konnte sie nicht zuordnen. /Wie oft hast du nun schon versucht deiner Schwester das Leben zu nehmen? Du wolltest sie ebenfalls einst mit deinem Schwert durchbohren, sie ertrinken lassen und selbst als ihre Hinrichtung bevorstand hast du nicht einmal mit einem Wort versucht diese abzuwenden. Du hieltest sie für gerechtfertigt, obwohl du doch selbst viel schlimmere Gräueltaten begannen hast. Ich denke tief in deinem Inneren wusstest du das auch. Um dein Gewissen zu beruhigen, wolltest du ihr Gift zu trinken geben, um sie vor einer grausamen Urteilsvollstreckung zu bewahren. Stattdessen hättest du sie befreien, oder dich wenigstens vor Gericht für sie einsetzen können! Dir wurde vergeben, warum also auch nicht ihr?/

„Wer bist du?", knurrte Guy in diese merkwürdige Leere hinein. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob seine Lippen, oder seine Gedanken diese Worte erzeugt hatten.

/Ein Mensch der ebenfalls viele Fehler in seinem Leben begangen hat. Ich bin mitverantwortlich für dieses furchtbare Schicksal was dich und deine Schwester ereilt hat. Ich hätte es aufhalten können, wenn ich nur ein wenig mehr an euch und ein bisschen weniger an mich gedacht hätte. Aber das spielt nun keine Rolle mehr. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber du Guy, kannst das Schicksal noch abwenden!/

„Abwenden? Wovon redest du?"

/Kämpfe! Lebe! Und sorge für deine Schwester, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann./

„Für meine Schwester sorgen? Diese zweizüngige, bösartige Schlange hat sich mit dem Sheriff verbündet, Robin vergiftet und mich ermordet!"

/Du bist nicht tot Guy. Nur bewusstlos. Und auch Robins Leben ist noch nicht verwirkt. Erinnerst du dich an die lila Blume Guy? Die hinter dem großen Moor wächst und mit der ich einst das Leben des alten Gerbers gerettet habe, als eine giftige Schlange ihn gebissen hatte?/

„Mutter? Mutter bist du das?" Nun wusste Guy woher er diese Stimme kannte. Er hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr vernommen.

/Erinnerst du dich Guy?/

„Ja. Ja ich erinnere mich. Ich werde Robin retten. Aber erwarte nicht von mir, dass ich meiner Schwester ihren Verrat vergebe!"

/Ihren Verrat? Was ist mit deinem Verrat? Sie hat in ihrem Leben weit aus mehr durchleiden müssen, als du. Denk daran, auch ihre Eltern starben damals in den Flammen. Du warst immerhin schon vierzehn Jahre alt, sie war gerade mal acht. Sie trug keine Schuld an diesem furchtbaren Unglück und dennoch jagten die Dorfbewohner sie fort. Ein Kind, was sich noch nicht einmal selbst ernähren kann. Sie folgte dir. Sie vertraute dir. Du warst der einzige Mensch den sie noch hatte. Aber du verkauftest sie mit dreizehn Jahren wie eine Straßendirne an den Meistbietenden, um dein eigenes Überleben zu sicher. An einen Mann der sie jahrelang schändete und misshandelte. Du liest sie einfach dort zurück. Hast dich nie nach ihrem Wohlergehen erkundigt. Jahrelang harrte sie aus, in der Hoffnung, dass du irgendwann zurückkehren und sie aus dieser Hölle befreien würdest, aber du bist nie gekommen. Sie durchlitt ein Leben voll Qualen, Einsamkeit und Ängsten. Ohne eine Menschenseele die ihr auch nur einen Funken Liebe entgegenbrachte. Irgendwann begriff sie, dass niemand kommen würde, um sie zu retten. Sie musste sich selber aus diesem Alptraum befreien. Sie floh aus Thorntons Händen nach Nottingham, um ihren Bruder um Hilfe zu ersuchen. Trotz des Vertrauensbruchs, den er an ihr begannen hatte./

„Ich habe ihr Obdach gewährt und wie hat sie es mir gedankt? Sie hat sich mit meinem Feind verbündet!"

/Du meinst mit dem Mann, mit dem du nun selber im Bunde stehst? Sie wusste nicht wer er war, als sie ihn das erste Mal traf. Er hatte sie gerettet. Er war der erste Mensch gewesen, der sich für sie eingesetzt hatte und das ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Während du ihr bei eurer ersten Widerbegegnung eiskalt sagtest, dass du sie Thornton überlassen hast, weil er einen guten Preis für sie geboten hatte, ohne einen Funken von Reue zu zeigen. Doch selbst dies hätte sie dir verziehen, wenn du dich nur ein Mal bei ihr entschuldigt hättest. Eine Entschuldigung, mehr wollte sie nicht. Sie gab dir mehr, als nur eine Gelegenheit dazu. Selbst als du schon ein Geächteter warst, bot sie dir an sich für dich bei Prinz John zu verbürgen, wenn du sie nur ein einziges Mal um Verzeihung bätest. Aber du warst zu stolz dafür./

„Sie ist doch nicht nur mir, sondern auch Hood in den Rücken gefallen!"

/Weil sie sich von ihm verraten fühlte. Er hatte ihr Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft gemacht und diese im nächsten Moment wieder zerschlagen. Ich will damit nicht ihre Verbrechen rechtfertigen, denn auch sie hat viele Fehler begannen und ihre Reaktion auf Robins Abweisung, war ungeheuerlich. Aber sie fühlte sich von allen Männern dieser Welt verraten./

„Wie kannst du ihr so viel Verständnis entgegenbringen?"

/Sie ist meine Tochter und trotz allem liebe ich sie. Genauso, wie ich dich liebe./

„Und was ist mit Meg? Wie entschuldigst du, was Isabella ihr angetan hat?"

/Ich versuche nicht Isabellas Verhalten zu entschuldigen, sondern dir ihre Sicht der Dinge begreiflich zu machen. Meg war ein gutes Mädchen. Das arme, unschuldige Ding hatte ein solches Schicksal nicht verdient. Doch auch sie war in Isabellas Augen eine Verräterin. Nachdem sie mit Robins Verlust ihren Glauben in die Männer verloren hatte, suchte sie nun nach einer Freundin. Einer Verbündeten gegen die Welt der Männer, denn noch immer sehnte sie sich nach Schutz und Zuneigung. Doch wie wir beide wissen galt Megs Hingabe eher dir, als Isabella. Daraufhin löschte deine Schwester jeden Funken von Mitgefühl und Liebe in ihrem Herzen aus. Sie glaubte, dass diese Empfindungen Schuld daran seien, dass sie in ihrem Leben immer wieder enttäuscht wurde. Sie glaubte nur Macht könne ihr die ersehnte Sicherheit gewähren. Isabella war nicht von Anfang an schlecht. Als sie nach Nottingham kam hatte sie noch viel Gutes in sich. Sie wollte den Menschen dort helfen, doch in kürzester Zeit hatte das Leben dort ihre Seele vergiftet./

„Ich kann ihr nicht vergeben!"

/Wenn du ihr schon nicht vergeben kannst, dann komm wenigstens deiner Pflicht als ihr älterer Bruder nach! Beschütze sie vor der Außenwelt und vor sich selber. Das bist du ihr schuldig./

Mit diesen Worten verstummte die Stimme in seinem Kopf und Guy öffnete die Augen. Er befand sich noch immer in demselben unterirdischen Gang, aber dieser lag beinahe gänzlich in Schutt und Asche. Guy war anscheinend nur knapp einem umgestürzten Pfeiler entgangen. Sein Körper war mit einer Schicht von Asche, Staub und Sand bedeckt. Außerdem litt er höllische Qualen. Der Schmerz war so groß, dass ihm die Stimme versagte. Er tastete an seinem Körper hinab. Seine Kleidung war durchtränkt mit Blut, aber als seine Finger die Stelle berührten, wo ein großes Loch sein müsste, spürte er eine frische Naht.

„Na, wieder bei Bewusstsein?", erklang auf einmal eine heisere Stimme. Erschrocken wand Guy den Kopf zur Seite und zog scharf die Luft ein, weil ihm diese plötzliche Bewegung furchtbare Schmerzen bereitete.

Nur wenige Meter von ihm entfernt stand eine gebückte Gestalt, die er im ersten Moment für einen Geist gehalten hatte, da sie über und über mit Staub und Asche bedeckt war. So ähnlich musste er selbst wohl gerade auch aussehen. „Wer bist du?", versuchte er zu fragen, aber es war nur ein leises Wispern. Der Fremde schien ihn jedoch verstanden zu haben.

„Sag bloß du hast mich schon wieder vergessen. Wer weiß. Ist vielleicht auch besser so. Du hattest großes Glück. Nicht nur, weil ich dich noch rechtzeitig fand und deine Wunden verarztet habe, sondern weil du auch die Explosion überlebt hast."

„Explosion?", krächzte Guy heiser.

„Ich muss gestehen, sie hat sogar mich überrascht. In meinem Fall wäre es vielleicht sogar eine Gnade gewesen, wenn ich so von dieser Welt geschieden wäre. Besser, als bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Ich sagte bereits ich bin schwer krank und mir bleibt nicht mehr lange zu Leben. Aber du Guy bist noch jung."

Nicht mehr lange zu Leben? Die Räder in Guys Kopf begannen sich zu drehen und schließlich klärte sich der Nebel, welcher seinen Geist umhüllte. „Locksley?", knurrte er voll Abscheu. Kein Zweifel, dass war Malcolm of Locksley. Robins Vater.

„Der und kein anderer. Ich danke euch beiden, dass ihr Archer gerettet habt. Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich."

Seine Mutter? „Isabella!" Plötzlich saß Guy kerzengerade da. Seiner Kehle entrang sich ein gurgelnder Schmerzenslaut.

„Du solltest dich nicht so schnell bewegen, sonst reißen die Nähte wieder auf. Eigentlich solltest du dich im Moment gar nicht von der Stelle bewegen."

„Ich muss meine Schwester finden", keuchte der Dunkelhaarig und erhob sich auf wackeligen Beinen vom Boden.

„Deine Schwester? Isabella? Sie ist hier unten?" Malcolm schien ehrlich überrascht zu sein. Guy stützte sich gegen die Wand ab. „Hier unten wahrscheinlich längst nicht mehr. Ich werde oben… Argh, verdammt!" Ein beißendes Gefühl breitet sich von der Naht her in seinem ganzen Körper aus.

„Ich sagte dir du solltest lieber liegen bleiben. Wenn sie sich im oberen Teil der Burg aufgehalten hat, dann ist sie ohnehin verloren. Diese Feuerbrunst kann sie unmöglich überlebt haben."

Guy ignorierte Malcolms Worte und bahnte sich seinen Weg den einsturzgefährdeten Gang empor. Malcolm folgte ihm und half ihm das Geröll aus dem Weg zu räumen.

„Wie kamst du eigentlich hier herunter und weshalb?", brachte Guy schließlich heiser hervor. Schweiß perlte ihm von der Stirn.

„Es gibt mehr als nur einen geheimen Gang in diesem Gemäuer. Ich kam, weil ich sah, wie du, Robin und die übrigen Outlaws hier eindrangen und ohne dich wieder herauskamen. Ich musste mit eigenen Augen sehen, was mit dir geschehen war. Ich hatte große Sorge, dass meine Worte vielleicht zu deinem jähen Tod geführt hätten. Deine Mutter hätte mir das nie verziehen", gestand der vom Leben gezeichnete Mann.

„Meine Mutter ist tot", knurrte Guy.

„Ganz recht und ich werde ihr bald nachfolgen. Wenn ich auf die andere Seite überwechsele, will ich nicht auch noch deinen Tod auf dem Gewissen haben."

Langsam fragte sich Guy, ob es wirklich seine Mutter war die aus einem Jenseits zu ihm gesprochen hatte, oder ob es nicht nur ein Traum war. Vielleicht hatte Malcolm Recht. Womöglich war es vergeudete Zeit nach seiner Schwester zu fahnden. Vielleicht sollte er lieber aufbrechen und die lila Blume suchen, um Robins Leben zu retten, wenn es dafür nicht auch schon zu spät war. Malcolm sagte, dass er einen anderen Ausweg kannte. Aber trotz dieser Gedanken hielt Guy irgendetwas zurück. Wahrscheinlich die Frage was wäre, wenn es wirklich seine Mutter war die zu ihm gesprochen hatte? Bestimmt würde sie sich im Grabe umdrehen, wenn er von hier verschwand, ohne überhaupt mit Sicherheit zu wissen, ob Isabella tot war.

Endlich hatten sie es geschafft einen schmalen Durchgang freizuräumen. Auf der anderen Seite angelangt, überkam Guy eine furchtbare Übelkeit und er merkte wie ihm schwarz vor Augen wurde. Das musste an diesen furchtbaren Schmerzen und dem hohen Blutverlust liegen, aber er durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren. Ihm blieb keine Zeit! Dennoch schaffte er es nicht die Galle herunterzuschlucken. Er stütze sich mit einer Hand an der Mauer ab und erbrach sich in einer Nische. Malcolm war indessen damit beschäftigt verkohlte Balken, sowie Steine beiseite zu schieben und mehrere Leichen zum Vorschein zu bringen, wobei von einigen nicht mehr sehr viel übrig war, da sie beinahe gänzlich verbrannt waren. Dieser Anblick half Guy nicht gerade dabei der Übelkeit Herr zu werden.

Dennoch rappelte sich der Dunkelhaarige wieder auf und half den Schutt beiseite zu räumen, bis er schließlich auf den Leichnam des Sheriffs stieß. Ohne den hervorstechenden Goldzahn hätte er ihn wohl nicht einmal erkannt, denn sein Schädel war nur noch mit Ruß und Fleischfetzen überzogen und verströmte einen widerwärtigen Geruch. „Nun bist du also wirklich tot", stellte Guy mit einem selbstzufriedenen Lächeln und triefender Herablassung in der Stimme fest. Er schob den verbrannten Körper mit einem Fußtritt zur Seite und unter diesem kam seine Schwester zum Vorschein. Guy stockte der Atem. Sie sah mehr tot als lebendig aus. Mit Ruß und Brandwunden übersät, doch anscheinend hatte der Körper des Sheriffs sie vor dem Schlimmsten bewahrt. „Dann war er anscheinend doch noch zu etwas gut gewesen", höhnte Guy.

„Hast du etwas gesagt?", erklang auf einmal Malcolms geschwächte Stimme.

„Ich habe sie gefunden. Sie ist hier." Guy beugte sich zu seiner Schwester hinab. Die Nähte an seinem Leib drohten beinahe zu reißen. Zischend schnappte er nach Luft, versuchte aber die Pein zu ignorieren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er tastete nach ihrem Puls. „Sie lebt", stellte er schließlich mit emotionsloser Stimme fest. Er wusste nicht ob er erleichtert, oder enttäuscht war. „Isabella." Er rüttelte an ihren Schultern, aber sie zeigte keinerlei Reaktion. Malcolm ging neben ihm in die Knie und warf ebenfalls einen Blick auf die junge Frau. Ihre Haare waren leicht angesengt und ihr Körper an machen Stellen gebrandmarkt, aber immerhin war ihr Gesicht verschont geblieben.

„Isabella!" Guy gab seiner Schwester eine schallende Ohrfeige. Diese schien Wirkung zu zeigen, denn ihre Lieder begannen zu flattern. Schwach öffnete sie die Augen. „Guy?"

„Wir müssen hier raus", sagte er kühl, packte sie unter den Armen und versuchte ihr auf die Beine zu helfen. Malcolm stütze sie von der anderen Seite, doch sie nahm den entstellten Mann an ihrer Linken gar nicht wahr. Ihr Blick galt ausschließlich ihrem Bruder.

„Aber du bist tot. Ich habe eigenhändig dafür gesorgt", brachte sie hustend hervor und verzog das Gesicht. Guy war sich nicht sicher ob wegen der Schmerzen, oder seinem Anblick, aber es interessierte ihn auch nicht.

„Tja, anscheinend bist du selbst dafür zu unfähig", entgegnete er mit einem abfälligen Schnauben. Gemeinsam verließen sie den Trümmerhaufen durch den einstigen Torbogen, wobei sie eher humpelnd, als gehend vorankamen. Im Innenhof herrschte große Aufruhe. Die Überlebenden versuchten immer noch diesem Aschefeld zu entkommen. Einige Pferde waren ausgebrochen und liefen frei umher. Keiner schenkte ihnen Beachtung, als sie aus dem Inneren der Burg hervortraten. Gemeinsam stiegen sie die Treppen herunter und erst am Ende der Stufen, ließ Malcolm Isabella los. „Wartet kurz hier, ich besorge euch ein Pferd. Ihr solltet unbedingt jemanden mit medizinischen Fachkenntnissen aufsuchen."

„Dazu bleibt keine Zeit", entgegnete Guy, aber der alte Mann hörte ihn schon gar nicht mehr. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem Schimmel zurück, der sich mittlerweile von dem Schrecken der Explosion wieder beruhigt hatte. Mühsam bestiegen Guy und Isabella das Pferd. „Was ist mit dir?", fragte der Dunkelhaarige an Malcolm gewandt.

„Meine Aufgabe ist hiermit beendet. Ich würde zwar sagen das ihr nicht nach mir suchen sollt, aber ich glaube das dies in deinem Falle nicht nötig ist."

„Gewiss nicht", stimmte ihm Guy verächtlich zu. „Ach übrigens: Danke das ihr mir geholfen habt meine Schwester zu finden. Ich weiß das zu schätzen. Vor allem nachdem sie euren Sohn vergiftet hat, der mittlerweile wohl nicht mehr unter den Lebenden weilt." Mit diesem Worten trieb er das Pferd an und ergötzte sich an Malcolms entsetztem Gesichtsausdruck. Natürlich hoffte er selber, dass Robin noch lebendig war, aber er hasste dessen Vater. Er würde ihm nie vergeben, was er seinen Eltern angetan hatte und die Möglichkeit ihm einen ähnlichen, seelischen Schmerz zuzufügen, bereitete Guy große Genugtuung.

Auf seinem Ritt zu den Mooren, kostete es ihm alle Mühe nicht das Bewusstsein zu verlieren. Die Schmerzen wurden von Sekunde, zu Sekunde unerträglicher. Ihm war übel und er fror. Seine kalkweiße Haut überdeckte ein Schweißfilm. Er spürte Isabellas Hände, die sich an seiner Hüfte festklammerten und ihm wurde nur noch schlechter. Kaum zu glauben, dass er diesem Miststück wirklich half. Auch Isabella schien das zu erstaunen, denn sie fragte auf einmal.

„Warum Guy? Weshalb hast du mich nicht einfach dort liegen lassen? Weshalb hast du mir nicht den Todesstoß verpasst?"

„Bring mich nicht auf falsche Gedanken", warnte ihr Bruder sie und damit war das Gespräch für ihn abgehackt. Isabella bohrte nicht weiter nach.

Sie erreichten die Moore, an deren Ufer die lila Blumen wuchsen, welche womöglich Robins Rettung sein könnten. Guy stieg von dem Pferd ab und pflückte einige der Blumen. Seine Schwester sah ihm mit großen Augen dabei zu und fragte sich ob er den Verstand verloren hatte. Warum waren sie hier? Und weshalb hockte ihr schwer verletzter Bruder auf dem Waldboden und pflückte Blumen? Er steckte den Strauch in seine Gürtelschnalle und bestieg taumelnd das Pferd. Isabella machte ihm Platz. Sie sah beinahe ebenso geschwächt aus wie er.

Der Rauch in ihren Lungen und die Brandverletzungen machten ihr zu schaffen. Auf dem Ritt zum Camp fragte sie schließlich. „Wofür sollen die Blumen dienen?"

„Erinnerst du dich nicht? Unsere Mutter verwendete sie einst um eine Vergiftung zu kurieren."

Die Antwort genügte. Isabella wusste sofort das ihr nächstes Ziel Robin war. Mit einem Aufschrei, wie eine wild gewordene Bestie, wollte sie Guy das Gewächs entreißen. Hood hatte sie verraten! Er hatte sie betrogen, hintergangen und gedemütigt! Dieses Scheusal verdiente es nicht zu leben. Gemeinsam fielen sie vom Pferd, das nur nach wenigen Schritten zum Stillstand kam und begann an ein paar Blättern zu knabbern. Sie wälzten sich auf dem Boden und trotz seiner schweren Verletzungen reagierte Guy relativ geistesgegenwärtig. Er verpasste seiner Schwester einen Schlag gegen die Schläfe so, dass die das Bewusstsein verlor. Dann packte er sie wie einen nassen Sack zurück aufs Pferd. „Undankbare Schlange", zischte er und hielt sich seine Wunde. Glücklicher Weise waren die Nähte immer noch verschlossen. Malcolm hatte ganze Arbeit geleistet. Dennoch sank Guy übermannt für einen kurzen Moment zu Boden und es kostete ihn alle Mühe wieder aufzustehen, um zurück aufs Pferd zu steigen. Er spornte den Schimmel zum Laufen an und merkte wie er zwischenzeitlich immer wieder kurz wegnickte. Endlich erreichte er das Camp. Die ganze Welt erschien ihm nur noch wie ein Fiebertraum und er war sich nicht sicher, ob seine Augen ihm einen Streich spielten, oder ob das wirklich Robin war, der von seinen Freunden auf einer Bahre durch die Gegend getragen wurde. Archer wurde seiner als Erster ansichtig. Er starrte ihn an, als wäre er ein Geist. „Bruder?"

Guy taumelte vom Pferd. „Ich brauche etwas Wasser und eine Schale", brachte er nach Luft ringend hervor.

„Du lebst? Wie ist das möglich?", fragte Much überrascht.

„Hört ihr schlecht? Ich brauche eine Schale mit etwas Wasser drin!"

„Äh, ja... natürlich", brachte Much stotternd hervor. Er dachte, dass Guy einfach etwas zu Trinken benötigte. Die anderen ließen die Bahre sinken und starrten den Dunkelhaarigen immer noch fassungslos an. Dieser schenkte ihnen jedoch keinerlei Beachtung. Er taumelte auf die Trage zu und sah auf den Leichnam herab, dem weiße Lilien in die Hände gedrückt worden waren. Er war zu spät! Verzweifelt ging er neben Robin in die Knie und versuchte an seinem Hals einen Puls zu ertasten.

Archer erwachte aus seiner Starre, legte von hinten eine Hand auf Guys Schulter und meinte mitfühlend: „Er ist tot." In diesem Moment kehrte Much zurück. Er reichte Guy die Schale mit Wasser. Obwohl es dafür offensichtlich schon zu spät war, nahm Guy sie entgegen und begann mit einem Stein die Blüten in ihr zu zerstampfen.

„Was machst du da?", fragte Little John verständnislos.

Guy antwortete nicht. Er wusste selbst nicht genau, was er da gerade tat. Er hatte es nur ein einziges Mal bei seiner Mutter gesehen. Aber dieser Mann hatte immerhin noch geamtet. Robin schien indessen schon längst ins Jenseits übergegangen zu sein. Dennoch wollte Guy nicht glauben, dass es vorbei war. Seine Mutter hatte ihn doch beauftragt Robin zu retten! Zumindest wenn es wirklich seine Mutter war. Sollte das Ganze nur ein Traum gewesen sein und er wichtige Minuten damit vergeudet haben seine verhasste Schwester zu finden, dann würde er sich das niemals verzeihen. Robin durfte nicht tot sein!

Er träufelte ihm die Brühe in den Mund. „WAS MACHST DU DA!", keifte Kate und wollte schon Guy davon abhalten, aber Archer hielt sie zurück. „Lass ihn. Es ändert ohnehin nichts mehr." Mit sanfter Stimme, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen fügte er an Guy gewandt hinzu: „Es ist zu spät Bruder. Du kannst ihm nicht mehr helfen."

„HALT DEN MUND!", fauchte dieser. Was würde seine Mutter in solch einem Moment machen? Verschiedene Bilder schossen ihm durch den Kopf. All die Menschen, die seine Mutter mit ihrer Heilkunst gerettet hatte. Er erinnerte sich an den kleinen Jungen, der im Teich beinahe ertrunken wäre und schon von allen für Tod gehalten wurde. Mit Entsetzten hatte er mit angesehen, wie seine Mutter auf dessen Brust einschlug und ihm Luft einhauchte. Dasselbe versuchte er jetzt auch bei Robin.

„WAS MACHT ER DA! ER SOLL DAMIT AUFHÖREN!", schrie Kate entsetzt, als sie sah, wie der Dunkelhaarige, der noch immer rußverschmiert war, Robin eine Herzdruckmassage gab. Sie wusste damit nichts anzufangen. Für Kate kam es einfach nur Leichenschändung gleich. Wiederum musste Archer sie davon abhalten auf Guy loszugehen.

„Ich glaube er versucht ihn wieder zu beleben. Auf dieselbe Weise hatte einst Djaq versucht Marian das Leben zu retten", brachte Much unsicher hervor.

„Was zum Teufel...", stieß Little John fassungslos aus, als Guy seine Lippen auf die von Robin legte, um ihm Luft einzuhauchen. Selbst Archer ließ seine Hand sinken und starrte seinen Bruder geistesabwesend an. Kate war viel zu verwirrt, um den Moment der Stunde zu nutzen und verharrte einfach in ihrer Bewegung.

Als Guys Lippen sich von Robins lösten, kam dieser ruckartig nach Luft ringend zu sich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in Guys Gesicht. Ihre Blicke trafen sich und Guy ließ erleichtert den Kopf sinken.

„Gott sei Dank", brachte er mit rauchiger Stimme hervor.

Alle sahen sprachlos auf Robin hinab. Er lebte. ER LEBTE! „Ich dachte ich hätte dich verloren", sagte Kate mit Tränen in den Augen. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Sie wollte schon auf Robin zueilen und ihn umarmen, aber Guy hielt sie mit einem ausgestreckten Arm zurück. „Er muss erst noch den Rest trinken." Er hob die Schale wieder vom Boden auf, stütze Robins Nacken und hielt sie an seinen Mund. Dieser sah nur vollkommen konfus zu dem Älteren auf. Guy war doch tot. Er hatte ihn sterben sehen. Wie kam er hierher?

Schiere Erleichterung und Staunen erfüllte die Umstehenden. „Das ist ein Wunder", sagte Bruder Tack, den Blick gen Himmel gerichtet.

„Master", stieß Much freudig hervor. Sein Herz war auf einmal um so vieles leichter. Jetzt hatte sein Leben wieder einen Sinn.

Little John stand nur mit offenem Mund da und schnappte nach Luft. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Sie hatte Robin alle schon für verloren gehalten.

Archer brach in schallendes Gelächter aus, wobei es auf der einen Seite zwar sehr erleichtert, aber auch irgendwie etwas hysterisch klang, als würde er an seinem eigenen Verstand zweifeln.

Mit einer angewiderten Grimasse schluckte Robin das Gebräu herunter, welches Guy ihm darbot. Es schmeckte abscheulich. Er verschluckte sich leicht und prustete etwas. Nachdem Guy die Schale wieder abgestellt hatte, ließ er Robins Kopf wieder vorsichtig auf die Trage sinken. Jetzt wo das Adrenalin sich aus seinem Körper verflüchtigte, wurden Guy seine eigenen Verletzungen erst wieder wirklich bewusst.

„Aber Guy, du warst tot. Ich habe dich in meinen Armen sterben sehen."

„Ich war bewusstlos. Bewusstlos, nicht tot! Hast du dir überhaupt mal die Mühe gemacht nach meinem Puls zu fühlen?", knurrte er ihn an. Diese höllischen Schmerzen raubten Guy fast den Verstand. Im Moment wäre es ihm sogar lieber einfach tot zu sein.

Robin sah indessen verwirrt zu Guy auf. Das hatte er tatsächlich nicht. Er hatte einfach nicht für möglich gehalten das jemand so etwas überleben könnte. Nun kam er sich irgendwie furchtbar dumm vor. „Ich habe Marian gesehen", krächzte Robin heiser.

Guy zuckte unter diesen Worten wie unter einem Peitschenhieb zusammen. „Schön für dich", schnarrte er. „Leider muss sie sich jedoch noch etwas gedulden, bis sie dich wieder in ihre Arme schließen kann. Wir brauchen dich hier noch."

Bei der Nennung von Marians Namen zog sich Kates Brust innerlich leicht zusammen, aber sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Es war ganz verständlich das Robin sie immer noch liebte, denn immerhin war Marian seine Frau gewesen, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er Kate weniger liebte, oder? Nun gewährte Guy ihr, sich Robin um den Hals zu werfen, der liebevoll ihren Kopf tätschelte. Er spürte heiße Tränen an seinem Nacken. „Scht, alles wird gut Kate. Mir geht es gut", versuchte er sie zu beruhigen. Auch die anderen knieten sich nun neben der Trage nieder und betasteten Robin, wie Jünger ihren Heiland. Noch keinem war Isabella aufgefallen, die noch immer wie ein schlaffer Sack über dem Rücken des Pferdes hing. Auch sie erwachte langsam wieder aus ihrer Ohnmacht.

Auch dieses Mal wurde Archer wieder zuerst auf sie aufmerksam. Er vernahm ein leises Stöhnen. Sein Lachen erstarb und er wandte seinen Kopf um.

„Ist das unsere Schwester?", fragte er verwirrt und sah von Isabella zu Guy, der sich wenige Meter von ihnen entfernt, einfach auf den Waldboden gelegt hatte. Er würde sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Das Ziehen und Brennen in seiner Brust, so wie seinem Rücken war einfach unerträglich.

„Ich habe sie in den Trümmern gefunden", erklärte er mit geschlossenen Augen.

Nun löste sich auch Kate von Robin und sah entsetzt zu dem Pferd hinüber, das gemütlich mit gesenktem Kopf dort stand und den Waldboden nach Essbaren inspizierte. „Und du bringst sie hierher?", ereiferte sie sich vorwurfsvoll.

„Sie ist meine Schwester", erklärte Guy monoton.

„Ich sag es ja nur ungern, aber unsere Schwester hat versucht dich wie ein Mastschwein abzustechen", kommentierte Archer dies mit einem schiefen Grinsen.

„Dennoch ist sie meine Schwester", knurrte Guy mit rauer Stimme und entschloss sich nichts mehr weiter dazu zu sagen. Wenn der Mob auf sie losgehen sollte, konnte er nun nichts mehr daran ändern, denn er spürte wie die letzte Kraft aus seinen Knochen schwand. Ihm war schlecht, ihm war kalt und er merkte wie er langsam in tiefe Schwärze abtauchte.

„Wir sollten dieser Schlange endgültig den Kopf abschlagen", war das letzte was er aus Kates Munde vernahm, bevor er der Dunkelheit erlag.

Als Guy wieder zu sich kam lag er auf seiner Pritsche im Camp der Outlaws. Jemand hatte eine warme Decke über ihn gelegt und einen feuchten Lappen auf seine Stirn.

„Na, auch wieder unter den Lebenden? Wie fühlst du dich?", drang auf einmal die Stimme seiner Schwester an sein Ohr. Mit einem gequälten Stöhnen öffnete er die Augen. Sie saß neben ihm und bereitete eine Wundsalbe vor. Vorsichtig hob sie die Decke an und verteilte die klebrige Masse auf seinen Verletzungen. Misstrauisch beobachtete Guy sie dabei. Darauf gefasst das sie ihm wie ein tollwütiger Hund jeden Moment an die Kehle springen könnte.

„Die anderen sind unterwegs und erleichtern die Reichen um ihr Vermögen", sagte Isabella beiläufig, als würde sie sich mit ihm über das Wetter unterhalten.

„Und sie haben mich ausgerechnet mir dir alleine gelassen?", fragte er ungläubig. Dankbarkeit war diesen elendigen Outlaws wohl ein Fremdwort. Er rettete ihrem Anführer das Leben und wurde als Dank ohnmächtig mit seiner wahnsinnigen, mordlüsternen Schwester zurückgelassen.

„Nicht ganz. Robins ehemaliger Diener müsste noch irgendwo in der Nähe sein. Ich konnte seine Gegenwart nicht länger ertragen, da habe ich ihn losgeschickt mit dem Auftrag mir irgendwelche Pflanzen für deine Wunden zu besorgen. Außerdem wissen deine kleinen Freunde, dass ich dir nichts tun werde. Mein Leben wäre in dem Moment verwirkt, wo du deinen letzten Atemzug machst", erklärte sie mit hörbarem Verdruss in der Stimme.

„Als ich zu mir kam, war diese blonde Dirne kurz davor mir die Kehle durchzuschneiden. Ich wurde nur verschont, weil Hood dazwischen gegangen ist. Natürlich nicht um meinetwillen. Er meinte wohl dir müsste noch etwas an mir liegen und da du ihm das Leben gerettet hast, will er mich nun verschonen. Aber nur solange du lebst. Sollte dir etwas zustoßen, hat er mir gedroht, dass er mich bis ans Ende der Welt verfolgen und töten würde. Ich habe keinen Ort mehr wohin ich fliehen könnte. Vaisey ist tot, Nottingham Castle liegt in Trümmern und Prinz John wird gewiss alleine mich dafür verantwortlich machen. Du siehst also, ich bin auf dich angewiesen und somit vollkommen ungefährlich."

„Du bist nie ungefährlich Isabella", brachte Guy immer noch genau so misstrauisch hervor, wie vor ihrer kleinen Rede. Er würde sich wesentlich wohler fühlen, wenn noch jemand anderes bei ihnen wäre. „Wie lange war ich bewusstlos?"

„Drei Tage", antwortete sie, während sie wie bei einem kleinen Kind, die Decke wieder über Guy zog. Als sie sich von der Pritsche erhob zuckte sie bei der Bewegung leicht zusammen. Die Brandwunden an ihrem Rücken und Beinen fühlten sich an, als würden noch immer Flammen an ihnen lecken. Sie würden wohl ein unansehnliches Narbenmuster hinterlassen. Der Gedanke, dass ihr bis dahin makelloser Körper an manchen Stellen nun entstellt sein würde, machte ihr sogar noch mehr zu schaffen, als die Schmerzen.

In dem Moment kehrte Much mit einigen Kräutern ins Camp zurück. „Du bist wach", stellte er überrascht fest, als er Guy mit offenen Augen dort liegen sah.

„Was du nicht sagst", entgegnete der Dunkelhaarige spöttisch, war aber erleichtert, dass er nicht länger mit seiner Schwester alleine war. In seinem momentanen Zustand könnte er sich wohl kaum gegen sie wehren.

„Hier ist das verdammte Grünzeug", meinte Much mit offenkundiger Verachtung an Isabella gewandt und warf ihr einen Büscheln an Farnen, Blumen und anderem Gewächs entgegen.

Die übrigen Outlaws ließen auch nicht lange auf sich warten. Doch die Einzigen, die erleichtert waren, Guy bei Bewusstsein zu sehen, waren Robin und Archer. Indessen nahmen es Little John, sowie Bruder Tuck eher mit Gleichgültigkeit hin. Schließlich hatte sie gerade erst begonnen Guys Anwesenheit zu tolerieren. Währenddessen zeigte sich Kate sichtlich enttäuscht über Guys gesundheitliche Verbesserung. Sie wollte, dass sowohl Guy, als auch seine Schwester endlich aus ihrem Leben verschwanden. Stets erinnerte sie dieser Mistkerl an den Tod ihres eigenen Bruders und der Verlust schmerzte noch immer so sehr, wie am ersten Tag.

Fortsetzung folgt