Ich kannte meine Eltern genau 5657 Tage 13 Stunden 24 Minuten, bevor ich erfuhr, dass sie nicht meine richtigen Eltern waren. Und dass sie es nicht waren, erfuhr ich auch nur durch einen Unfall. Einen Autounfall um genau zu sein. Bei diesem Autounfall starben sie nämlich und in ihrem Testament vermachten sie mir einen Brief, der mir alles erklären sollte.

Okay, also ich fang lieber noch mal von ganz vorne an, sonst wird das gleich zu verwirrend. Mein Name ist Annabell von Müllershagen. Ich bin 15 ½ Jahre alt und habe bis vor kurzem bei meinen Eltern Antoinette und Mark gelebt. Ich habe schon immer im puren Luxus gelebt. Nicht das ihr mich jetzt falsch versteht, ich bin wirklich kein verwöhntes, verhätscheltes Einzelkind, das einen Heldentod stirbt, wenn ihre Chaneltasche und ihr Pradagürtel verschwunden sind. Wirklich nicht! Meine Eltern waren nur einfach reich. Verdammt reich! Und sie gingen für ihr Leben gerne auf Bälle, was ihnen schlussendlich auch zum Verhängnis wurde. Nun ja. Ich will euch ja nicht elend lang etwas über meine Vergangenheit vorheulen, also mach ich einfach mal mit ihrer Testamentseröffnung weiter. Bei der Testamentseröffnung wurde mir von Notar erklärt, dass ich das gesamte Vermögen meiner Eltern erben würde. Wow! Das war ein ganz schöner Batzen Geld. Und ich wollte gerade zur Tür raus gehen, da fiel ihm scheinbar noch etwas ein „Ach ja. Diesen Brief sollte ich Ihnen auch noch geben!" fügte er hinzu und reichte mir ein Kuvert. Annabell stand in der vertrauten Handschrift meiner Mutter darauf. Ich öffnete ihn und las etwas, das mein Leben noch drastischer verändern sollte, als es ohnehin schon wurde.

Liebe Annabell,

Einerseits hoffe ich, dass du diesen Brief erst sehr spät in deinem Leben bekommst, weil es bedeutet, dass dein Vater und ich gestorben sind. Andererseits kannst du diesen Brief meiner Meinung nach auch gar nicht früh genug bekommen, da du endlich die Wahrheit wissen sollst. Zweifel bitte niemals daran, dass wir dich geliebt haben, auch wenn ich dir nun sagen muss, dass wir nicht deine wirklichen Eltern sind. Wie haben dich zu uns genommen, als du zwei Wochen alt warst. Wir haben dich aufgezogen und du warst für uns immer unsere eigene Tochter. Es tut mir leid, dass du es erst jetzt und dann auch noch durch einen Brief erfahren musst, aber wie haben es nicht übers Herz gebracht, es dir eher zu sagen. Doch nun, wo wir sowieso nicht mehr sind, möchten wir dir nicht die Chance vorenthalten, deinen wirklichen Vater kennen zu lernen. Sein Name ist Charlie Swan. Er ist ein sehr reicher und berühmter amerikanischer Unternehmer. Deine Mutter ist eine Woche nach der Geburt gestorben und er bat uns dich aufzunehmen, da er Angst hatte nicht gut genug für dich sorgen zu können. Der Notar ist informiert und er wird sofort nach unserem Tod Kontakt zu Charlie aufnehmen. Lass den Kopf nicht hängen, meine Kleine. Verzeih deinem Vater, er wollte wirklich nur das Beste für dich. Und versprich mir dein Leben normal weiter zu leben, das lohnt sich mehr, als um uns zu trauern. Dein Vater und ich werden dich ewig lieben…

Mama

Ich war unfähig zu sprechen und starrte den Brief ungläubig an. „Fräulein von Müllershagen, ist alles okay mit ihnen?" Ich atmete einmal tief durch. Contenance. Ich war dazu erzogen worden, immer die Haltung zu bewahren und mir nie etwas anmerken zu lassen. Ich schluckte einmal schwer und nickte dann.

„Ja" krächzte ich heiser. Na toll. Meine Stimmer hatte das mit dem Haltung bewahren nicht so ganz verstanden. Ich räusperte mich. „Nun. Ich denke wir haben dann noch einiges bezüglich meines Vaters zu klären." Fügte ich hinzu und lies mich erneut in den schwarzen, unbequemen Polstersessel sinken.

1 ½ Wochen später, Boeing 747, Direktflug München- Seattle, First Class

Der Sessel in dem ich gerade saß, war da doch schon um einiges bequemer, als der Sessel beim Notar. Ich seufzte und schloss die Augen. Ich befand mich gerade auf dem Weg zu meinem Vater. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Das einzige, was ich wusste war, das er steinreich und ziemlich jung war. Er war gerade erst 35 geworden. Aber dann war ich mit meiner Weisheit auch schon wieder am Ende. Ich kramte mit einer Hand in meinem Rucksack nach meinem Ipod. Eine Minute später war ich auch schon tief in einer anderen Welt versunken. Es war meine Welt. Eine Welt mit sehr viel Musik und umso weniger Problemen.

Die klassische Flugzeug-Stimme riss mich aus dieser Welt wieder unsanft heraus.

„Dear passengers. We are going to arrive at Seattle Airport in about six minutes. Please take care…" Ich atmete noch einmal tief ein und aus und rief mir die Worte meiner Mutter in Erinnerung. Contenance. Verlier niemals die Haltung. Deine Umwelt geht es nichts an, wie du dich gerade fühlst! . Ich spürte wie das Flugzeug sanft aufsetzte. Mir war unbegreiflich, warum alle Passagiere immer sofort als erste aus dem Flugzeug stürmen wollten. Ich blieb noch ein paar Minuten sitzen, bevor ich mich erhob. Ich schnappte mir meinen Rucksack und trat meinem Vater und somit auch meinem neuen Leben entgegen…