Law and order exist for the purpose of establishing justice and when they fail in this purpose they become the dangerously structured dams that block the flow of social progress.
-Martin Luther King, Jr.
Er war schwer verwundet, aber er lebte. Er lebte noch. Kagari Shuusei konnte es selbst kaum fassen. Der Dominator hatte ihn zwar schwer getroffen, aber letzten Endes, hatte dieses Ding nicht das selbe mit ihm angestellt, wie mit diesem Hacker, der vor seinen Augen in seine Einzelteile aufgeplatzt war. Die Dominatoren waren dafür konzipiert worden, ihre Aufgabe gnadenlos und vor allem, zweifellos zu vollziehen. Der Dominator der ihn getroffen hatte, hatte den Vollstrecker-Modus nicht gewechselt. Kagari hatte keine wirkliche Erklärung, warum es ihn dann doch verschont hatte. Er hatte sich sogar bereits mit dem Tod abgefunden... Es war nur schade gewesen, dass er sich nicht hatte verabschieden können. Aber was würde das bringen? Hätte der Tod eines Jagdhundes überhaupt jemanden gekümmert?
Kagari krümmte sich, als eine Welle von Schmerz ihn einholte und versuchte seine Umgebung auszumachen. Es war dunkel. Es stank. Vielleicht befand er sich noch im Nona-Tower, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall war er nicht an demselben Punkt, an dem er hätte sterben sollen. Nachdem er das Bewusstsein verloren hatte, musste irgendjemand ihn hier her gebracht haben.
Er blinzelte ein paar Mal und kroch dann, unter Anstrengung, hinter den Schutz einer großen Kiste. Nun ja, erstens war ihm nicht vollständig klar, ob dieses Ding eine Kiste oder etwas völlig Anderes war, und zweitens war er weniger gekrochen, als dass er sich mit seinen Armen in besagte Richtung gezogen hatte. Kriechen wäre vermutlich würdevoller gewesen. Ihm blieb wohl nichts Anderes übrig, als die Zähne zusammen zu beißen und es hinzunehmen wie's kam.
Der Atem des Enforcers presste sich für eine Weile in kurzen Stößen aus seiner Lunge, bevor er sich wieder erholte. Das war nicht gut. Es kostete ihn zu viel Anstrengung. Wenn Kriechen für ihn schon ein Ding der Unmöglichkeit war, war es am Ende egal ob der Dominator seinen Job zu Ende gebracht hatte oder nicht, das Ergebnis bliebe gleich. Er würde sterben. In diesem dunklen, stinkenden Etwas von einem Raum, elendig verrotten.
Vielleicht brachten sie ja auch Andere Leute an diesen Ort.
Kagari konnte von seinem Standpunkt aus kaum sagen, wie groß dieser Platz war aber dem Geruch nach zu urteilen, war er entweder sehr klein, und man hatte zwei Leichen hier deponiert, oder er war auffallend groß, und es hatte ein Massaker stattgefunden. Ihm gefielen beide Möglichkeiten nicht. Es roch nach Tod.
Der Enforcer sackte unmerklich in sich zusammen. Es spielte keine Rolle, ob er noch im Nona-Tower war oder nicht. Ob er am Schuss des Dominators gestorben war, oder eben nicht. Seine Chancen standen nicht besonders gut. Er konnte sich ja noch nicht mal umsehen, weil alles um ihn herum in Schwärze gehüllt war...!
Wer auch immer ihn hier herunter gebracht hatte, steckte vielleicht auch hinter dem manipulierten Dominator... Aber warum? Und vor allem, wer?
In der Dunkelheit runzelte er die Stirn. Starke Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. So als wollte sein Verstand, die Erinnerung mit aller Macht blockieren. Und Kagari war sehr wohl bewusst, dass er es in einer Anderen Situation vielleicht lieber auf sich beruhen lassen hätte. Aber wenn er schon irgendwo verrottete, wollte er wenigstens wissen, wie es dazu kommen konnte. Auch, wenn es ihm nicht sonderlich viel nützen würde. Vielleicht würde er ja die Chance bekommen seine alten Kollegen als Geist heimzusuchen, und ihnen einen Schubs in die richtige Richtung zu geben? Natürlich nicht, ohne vorher ein bisschen in deren Arbeit herum zu fuhrwerken, versteht sich. Seinen Spaß, wollte er schon noch haben.
Also, wer steckte dahinter? Wer hatte ihn umbringen wollen, es aber nicht geschafft, oder sich im Letzten Moment umentschieden? Hatte es einen Grund, und war das vielleicht alles geplant?
Was hatte er im Nona-Tower gesehen?
Kagari ließ die Erinnerung revue passieren. So langsam kam alles zu ihm zurück. Da war dieser Koreaner gewesen. Er hatte etwas von „Veröffentlichung" und „Sensation" gefaselt. Kagari hatte ihm kaum zugehört. Dieser Typ war unwichtiger gewesen als das, was sich vor seinen Augen abgespielt hatte. Die... wahre Gestalt des Sibyl-Systems. Verdammt, er konnte sich kaum noch erinnern. Entweder es war zu unglaublich, oder zu schrecklich. Vermutlich beides.
Und plötzlich war da der altvertraute Knall gewesen, der signalisierte, dass ein Dominator abgefeuert wurde. Kagari hatte sich gar nicht so schnell umdrehen können, da spritzten bereits Blut und Gedärme durch die Gegend... Als potenzieller Krimineller war er diesen Anblick eigentlich gewöhnt. Es bewirkte trotzdem eine leichte Übelkeit, vermischt mit Panik und dem Bewusstsein, dass er wohl kaum lebend aus dieser Sache rauskommen würde. Wer auch immer hinter dem allen steckte, er zeigte durchaus, dass er nicht wollte, dass das an die Öffentlichkeit geriet. Verdammt, das Sibyl-System, dass für die Sicherheit der Menschen sorgen sollte, war ein angesammelter Haufen von... einer künstlichen Intelligenz. Von Hirnen in Glasbehältern! Nicht, dass er nicht schon mal Witze über dergleichen gemacht hätte, aber zu wissen, dass es wirklich so und nicht anders war, konnte sein Verstand nicht wirklich verkraften.
Sein Blick hatte vermutlich Unglaube, oder Panik widergespiegelt, als seine Augen sich langsam von dem Blutfleck gelöst hatten, und zu der Hand wanderten, die den Dominator führte.
Der Kopf des Büros für öffentliche Sicherheit. Irgendwas stimmte doch nicht mit ihr...
Ausgehend von den Cryo-Hirnen und der Tatsache, dass ihr Kopf halb aus Metall zu bestehen schien und sie vehement zuckte, mit einem deformierten Lächeln auf den Lippen, konnte Kagari sich bereits zusammenreimen, dass es sich entweder um eine seelenlose Marionette von Sibyl... oder Touma Kouzaburou handelte.
Und dann hatte die Gestalt abgedrückt. Einfach so weil sie es konnte.
Und als das gleißende Licht des Todes auf ihn zugeschossen kam, war es diesmal Kagari, der lächelte. Das sollte es jetzt also gewesen sein? Nach all dem Leid, dem Eingesperrt sein und dem teilweise menschenunwürdigem Verhalten, dem er ausgesetzt worden war, weil er Abschaum war? Darauf lief es hinaus? »Oh, verschone mich!«
Es schien, dass Leben hatte einen Sinn für Ironie.
Dann war alles dunkel geworden.
Kagari blinzelte angesichts der Erinnerung in die Dunkelheit hinein. Seine Hand ballte sich krampfhaft zu einer Faust, nur um Sekunden später wieder kraftlos auf seinen Schoß zu sinken. Man hatte es ihm noch nicht mal vergönnt, zu sterben. Selbst er hatte gute Tage erlebt, aber nach einem alles in allem ziemlich beschissenem Leben, waren diese Dinger nicht mal so gütig, ihn den ganzen Dreck hinter sich bringen zu lassen? In in der tauben Schwärze für immer verschwinden zu lassen?
Er hatte nie wirklich geweint. Er tat es auch jetzt nicht. Aber vermutlich auch nur, weil sein Verstand sich weigerte, das zu akzeptieren. Warum tat man das mit ihm? War er am Schluss vielleicht weniger Jagdhund als Versuchskaninchen? Die Welt war zu grausam. Und die Menschen wussten noch nicht mal, dass sie ihr Recht verspielt hatten, selbst über sich zu entscheiden. Dass sie nun von einem „Ding" beherrscht wurden. Es machte ihnen noch nicht mal etwas aus...
Der ekelerregende Gestank nach Blut strömte bereits wieder in seine Nase. Der Enforcer sah nach unten. Er konnte die Wunde nicht sehen, aber er spürte nur zu deutlich, dass sie dort war. Irgendwo unterhalb seiner Brust. Vielleicht ein klaffendes Loch...
Ihm war auch in den Sinn gekommen, dass er vielleicht bereits tot sein könnte. Die Möglichkeit, dass der Tod für Leute wie ihn, aus endlosem Schmerz bestand, war zwar das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte, aber selbst das würde Kagari nicht mehr überraschen. Gar nichts konnte das mehr – und er war hin und her gerissen. Was wäre schlimmer; Weiterkämpfen und bewusst in einer Welt leben die... so aussah, oder einfach aufgeben und sterben? Sich einfach fallen zu lassen und sich um nichts mehr kümmern zu müssen, weil man praktisch nicht mehr existierte...
Er fasste einen Entschluss. Er würde es drauf ankommen lassen.
Man sagt, man sieht sein ganzes Leben kurz vor dem Tod an einem vorbei ziehen... Es stimmte nicht. Man sah seine größten Glücksmomente, oder besser gesagt, die Situationen, die man selbst als glücklich empfunden hatte. Bei Kagari war das so eine Sache... Er wusste es war irgendwie armselig – der Glücklichste Moment in seinem Leben. Fast hätte er bitter aufgelacht. Aber es war damals das einzig Gute gewesen, dass ihm in irgendeiner Weise vergönnt gewesen war.
Es hörte sich irgendwie blöd an, wenn er noch mal darüber nachdachte, dass es ausgerechnet Gino war... Aber er hatte ihn damals aus dieser Anstalt heraus geholt. Ihm die Chance gegeben die Außenwelt zu sehen. Auch wenn Kagari es dem Anderen nie wirklich gezeigt hatte wie dankbar er dem strengen Inspektor dafür gewesen war. Genauso wenig wie Gino hatte verlauten lassen, warum er unter allen möglichen potenziellen Kriminellen ihn gewählt hatte. Vielleicht interpretierte Kagari aber auch zu viel dort hinein. Sehr wahrscheinlich sogar. Er fing nur an sentimental zu werden, weil er sterben würde... Für den Inspektor hatte es sich wahrscheinlich so angefühlt, wie in ein Tierheim zu gehen, und einen Hund zu adoptieren. Gino hatte Kunizuka und in zu Vollstreckern gemacht, weil Sibyl es vorgegeben hatte und er nach irgendeiner Reihenfolge vorgegangen war...
Trotzdem... ist es albern darauf zu hoffen, dass dieser „Mehr-oder-weniger-Held" auch dieses Mal herkommt, um mich aus diesem Loch zu befreien? Ist das so falsch?
Kagari legte sich vorsichtig auf den kalten, nassen Boden. Er würde es darauf ankommen lassen und sich noch einen letzten Rest Hoffnung bewahren. Trotzdem war ihm wohl nicht mehr viel Zeit vergönnt... Mal sehen ob sich seine Hoffnung vielleicht bewahrheitete, bevor es zu spät war...
Der 8-jährige Kagari Shuusei saß in seiner viel zu steril und weiß gehaltenen Zelle und hatte die Knie an die Brust gezogen. Das Kind spürte, dass es kurz davor war bitterlich zu weinen, weswegen es sich auch hinter seinem Bett versteckte, um nicht gesehen zu werden.
Der heutige Tag war nicht wie jeder Andere. Ab und an, wurden Schulklassen in die Gefängnisse gelassen. Man verteidigte sich mit dem Argument, dass die Kinder von heute über das Thema Verbrecher, oder Potenzielle Verbrecher, sensibilisiert werden mussten, um mit möglichen Stressanfällen umgehen zu können. In Kagaris Kopf machte es absolut keinen Sinn. Einmal im Jahr wurden Schulklassen in die Gefängnisse gelassen, damit sie die Insassen angaffen konnten, wie Tiere im Zoo. Vermutlich hielten diese Kinder die Gefängnis-Insassen auch für Ähnliches. Kein Wunder. Den meisten von ihnen wurden Sonderbehandlungen zuteil. Verdammt, er hatte sogar schon jemanden mit einer Shisha in der Zelle sitzen sehen, der ohnehin rein gar nichts mehr mitbekommen hatte...
Und jedes Mal, seit er in diesem Höllenloch angekommen war, wurde er als Special angebiedert! Der kleine Junge hasste es. Aber er konnte ohnehin nichts dagegen tun.
Sein Psycho-Pass wurde markiert, als er fünf Jahre alt gewesen war. Er wusste nicht warum. Er war immer noch ein Kind, dass sich auf so etwas noch keinen Reim machen konnte. Er wusste noch nicht, dass er als Erwachsener genug Zeit haben würde, darüber zu sinnieren. Dass er noch ein Kind war, schien die Pfleger und Wärter jedoch kaum zu stören. In Gegenteil. Kagari empfand die Behandlung als grob. Sehr grob sogar. Aber was hatte er schon zu melden? Wenn diese Menschen der Meinung waren, sie mussten solange Spritzen in seinen Arm jagen, bis er übersät von Pflastern war, oder Tabletten in das fade Essen mischen, um ihn ruhig zu stellen, dann sollten sie doch. Er konnte sich schlecht wehren. Nicht dass er es nicht schon versucht hätte. Er hatte versucht um sich zu schlagen, aber sobald er Anstalten machte, wurde dieses Gas in seine Zelle geleitet, und er verlor das Bewusstsein. Er hatte schon versucht, das Essen zu verweigern, aber das hatte in einer äußerst groben Zwangsfütterung geendet. Und wehe ihm, wenn er die Pampe noch mal irgendwem ins Gesicht spuckte...
Das Kind war wehrlos, und konnte es nicht verstehen. Die waren die furchtbaren Menschen. Nicht er! Noch nicht mal seine Eltern hatte er gesehen, seit sie ihn abgegeben hatten. Vielleicht war er ihnen auch inzwischen egal. Sie schämten sich ganz bestimmt, so ein Monster zum Sohn zu haben, dass schon mit fünf Jahren als Krimineller galt. Ganz bestimmt.
Nur langsam wurde dem 8-jährigen bewusst, dass Tränen seine Wangen hinunter rollten und auf seine zu Fäusten geballten Hände tropfte. Und das er schluchzte. Leise, aber dennoch hörbar. Er musste einen jämmerlichen Anblick abgeben, aber das konnte ihm egal sein. Die Menschen, die vielleicht jetzt gerade in seine Zelle gafften, konnten ihm egal sein. Sie konnten ihn alle mal.
»Entschuldigen Sie,«, Kagari nahm die Stimme von draußen erst jetzt war. Die Person klang jung. Lange nicht so jung wie er, aber vielleicht im Teenager-Alter. Kagari schätzte auf 15. »Wer ist in dieser Zelle?«
Kagaris zerstreuter Kopf lugte vorsichtig um die Ecke seines Bettes. Stellte sicher, dass er nicht gesehen wurde. Er konnte zwei Personen ausmachen. Die eine Silhouette gehörte definitiv zum Personal dieser Anstalt, aber die Andere kannte er nicht.
»Kümmer dich nicht darum, und lass deinen Psycho-Pass nicht schmutzig werden, indem du dich zu sehr mit diesem kleinen Verbrecher da beschäftigst, Junge. Der wurde schon markiert, da war er kaum sechs Jahre alt. Was kann das schon für ein Mensch sein?«
Kagari konnte keine Erwiderung seitens der jüngeren Person hören. Misstrauisch sah der Junge noch mal um die Ecke. Der Fremde stand immer noch dort. Schien nicht weggehen zu wollen, aus welchem Grund auch immer. Aber er war allein. Wenigsten starrten ihn nicht gleich 20 Personen so vehement an. Er mochte es nicht.
»Da ist eine Scheibe zwischen dir und mir. Weder du kannst mir, noch ich dir was tun.« kam der trockene Kommentar von der Außenwelt, der Kagari zusammenzucken und schnell den Kopf wieder einziehen ließ.
»Willst du mir damit sagen, dass ich näher kommen soll, damit du mich besser angaffen kannst? Auch wenn die Leute hier anderer Meinung sind, ich bin keine Giraffe aus dem Zoo. Und angestarrt werden nervt.«
»Ich erinnere mich nicht, dich als Giraffe bezeichnet zu haben.« Der ungerührte und zugleich ausdruckslose Tonfall des Anderen, war deutlich in seiner Stimme zu erkennen.
Kagari seufzte kurz auf, brachte sich wieder auf die Beine – die für seinen Geschmack noch viel zu wackelig waren – und trat hinter seinem Bett hervor. »Das ist seltsam. Du bist seltsam.«
Sein Gegenüber hob eine Augenbraue, verzog aber sonst keine Miene. »Ich bin seltsam?«
»Ja. Außer dir scheinen uns alle für Zootiere zu halten, die sie angaffen können, bis wir irgendwelche Tricks machen.« - „Sogar das Bitte-nicht-füttern-Schild, gibt es hier auf eine Art und Weise...", fügte er in Gedanken hinzu. Das musste dieser Junge nicht wissen.
»Hm. Klingt für mich eher nach Hunden. Was auch besser zu dir passen würde.«
Kagari schnappte nach Luft. Wenn er diese Aussage gerade nicht irgendwie amüsant finden würde, würde er wahrscheinlich beleidigt sein, und hätte sich wieder zurück gezogen. Hunde, wie?! Unverschämtheit...
Er beäugte den Typen, der da vor seiner Zelle stand etwas genauer. Er hatte schwarzes Haar, dunkelgrüne Augen und trug eine Schuluniform. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu lesen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Kagari ihn nicht kannte. Er hatte auf jeden Fall mit seiner Altersschätzung richtig gelegen.
»Warum erzählst du mir das?« der 8-Jährige setzte seinen überzeugendstes Grinsen auf.
»Weil Sibyl es mir geraten hat.«
Der Gesichtsausdruck des Kindes verdunkelte sich bei dem Namen. Das System also. »Sibyl hat es dir gesagt?« wiederholte er in einem fragenden Tonfall.
»Gewissermaßen. Sibyl hat mir prognostiziert, ich würde Inspektor werden.«
Kagari lehnte sich mit beiden Händen gegen die Scheibe. Kinder waren nun mal nicht sehr geduldig. »Ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir, einem völlig fremden Kriminellen zu tun haben soll...«
»Du kannst, wenn du erwachsen bist, als Vollstrecker arbeiten, und Leute wie ich, könnten dich hier herausholen und dafür sorgen, dass du die Außenwelt siehst.« der Schwarzhaarige sah irritiert aus, angesichts der Fragen des Kindes.
Besagtes Kind wich seinem Blick nun aus und lachte so humorlos, wie es einem 8-Jährigen nun mal erlaubt war. »Das wirst du nicht.«
»Wie meinen?«
»Leuten wie dir ist es scheißegal, dass Leute wie ich in diesen Anstalten festsitzen. Sie nehmen uns als Beispiel um ihren eigenen Psycho-Pass zu retten. Du wirst es wie die Anderen machen, und mich hier versauern lassen.«
Der 15-jährige Nobuchika Ginoza runzelte irritiert die Stirn. Er hatte nichts davon gesagt, dass speziell er, einmal dafür sorgen würde, aber er beließ es dabei. »Wir werden sehen-«, sein Blick wanderte kurz nach oben, wo der Name des Kindes auf einem Hologramm geschrieben stand. »Potenzieller Krimineller, Kagari.«
Besagter Junge zuckte fast bei seinem Namen zusammen. Er glaubte nicht wirklich an die Worte des Anderen. Zu diesem Zeitpunkt war er sich sicher, er würde vergessen werden... Wie selbst seine eigenen Eltern es getan hatten.
»Nobuchika Ginoza! Du wirst deinen Psycho-Pass noch verschmutzen, wenn du weiter vor dieser Zelle stehst! Die Führung geht weiter.« ertönte eine strenge, weibliche Stimme vom Ende des Korridors.
Ginoza ließ Kagari ohne ein überflüssiges Wort des Abschiedes, mit seinen wirren Gedanken allein.
Der 17-jährige Kagari Shuusei saß auf seinem Bett und verpasste seiner wilden Frisur mit seinen Haarklammern den letzten Schliff. Es waren die selben, die er als Kind getragen hatte, bevor er inhaftiert worden war. Man hatte sich geweigert ihm zu sagen, wer ihm die Dinger geschickt hatte, aber er tippte auf einen seiner Eltern, den dann doch irgendwo das schlechte Gewissen plagte. Sollten sie doch. Wurde nach mehr als einem Jahrzehnt mal Zeit.
Es war 10:00Uhr morgens und die allmorgendliche Ansage der Computerstimme hatte die Insassen gerade geweckt. Jeden morgen diese elende Musik, die vermutlich beruhigend wirken sollte. Er konnte es allmählich nicht mehr hören. Sie machte ihn wahnsinnig...
Es waren fast Zehn Jahre vergangen, seit dieser komische Typ vor seiner Zelle gestanden hatte. Er war vermutlich schon sieben Jahre zuvor zum Inspektor geworden, wenn er diesen Plan auch in die Tat umgesetzt hatte. Als hätte Kagari es nicht gewusst. Er war vergessen worden. Er hatte von Anfang an geahnt, dass es nur eine Art leere Versprechung gewesen war. Er war sich albern vorgekommen, seine Hoffnung in einen wildfremden zu stecken. Aber letzten Endes, hatte ein kleiner Teil von ihm, wohl trotzdem noch Hoffnung in sich getragen. Hoffnung auf Freiheit.
Kagari schüttelte den Kopf und lenkte seine Gedanken zwanghaft in eine Andere Richtung. Es hatte trotzdem weh getan, als seine Hoffnung zerschmettert worden war. Wie hatte er nur jemals so dumm und naiv sein können? Er war ein Kind gewesen...
Der junge Mann hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet an diesem Morgen an diesen Unsinn dachte. Irgendwie hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch. Bei näherer Überlegung wohl eher aufgeregt, als mulmig. Er wusste selbst nicht wieso.
Ein lautes Pochen, gegen die Scheibe seiner Zelle ließ seinen Kopf in eben diese Richtung fahren. Ein Mitglied des Personals stand mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck vor eben dieser. »Hier ist jemand, der dich sprechen will!« verkündete die raue Stimme.
»Wer?« fragte Kagari in einem überraschten Tonfall. Es gab niemanden, der jemals mit ihm hatte sprechen wollen... Nun ja. Fast niemanden...
»Jemand vom Büro für Öffentliche Sicherheit. Hat sich als Inspektor Ginoza ausgewiesen, und jetzt beweg dich!«
Kagaris Herz machte einen ungewöhnlichen Sprung. Ungläubig bewegte er sich auf die Zellentür zu. Das... War das die Wirklichkeit?
Als der Wärter ihm das Schock-Armband anlegte zwang er sich innerlich dazu, sich wieder zu beruhigen. Selbst wenn das der selbe Typ wie vor neun Jahren war, hieß das noch lange nicht, dass er auch sein Versprechen hielt. Kagari rechnete mit allem. Auch dass seine größte Hoffnung sich im letzten Moment zerschlug.
Der Wärter führte ihn murrend in das Zimmer, in das er bestellt worden war. Jetzt war dem zukünftigen Enforcer auch klar, warum er so mürrisch schien. Es bestand ein wirkliche Chance, dass Kagari dieses Loch verließ. Einer weniger, den er malträtieren konnte, wie es ihm gerade passte.
Kagari musste sich beherrschen, um jetzt nicht in einem Satz auf diesem Stuhl vor der Scheibe zu sitzen. Vorher würde dieser grobschlächtige Idiot ihn vermutlich köpfen. Aber viel wichtiger war im Moment... dass das Realität war. Er würde hier herauskommen. ER saß dort hinter der Scheibe. Ohne Zweifel. Er trug jetzt eine Brille und hatte kurze Haare – was ziemlich bescheuert aussah – aber Kagari hätte ihn vermutlich unter Tausenden wieder erkannt.
Der 17-jährige setzte das absolut künstlichste, ihm mögliche Grinsen auf, als der Wärter ihm einen „kleinen" Schubs gab, und ihn somit auf den Stuhl beförderte, nur um irgendwo hin zu verschwinden.
Anschließend wandte Kagari sich wieder Ginoza zu. »So sieht man sich wieder, Inspektor.«
Eine Augenbraue wanderte nach oben. »Du erinnerst dich?«
Kagari lächelte fast schon milde. »Wenn man fast sein ganzes Leben in diesem Gefängnis verbringt und in dieser Zeit nur einen einzigen Besucher hat... ist es schwer das zu vergessen.«
Sein Herz pochte unaufhörlich, in einem Tempo, dass er nicht für möglich gehalten hatte. Das eine einzige Person, dass auslöste, war er nicht gewohnt. Aber dieser Mann war die Einzige Chance, die er jemals haben würde. Sein Chance auf ein klein wenig Freiheit... Außerdem schwante Kagari, dass er sich möglicherweise ein wenig zu sehr in den Inspektor vernarrt hatte. Aber das war fürs Erste nebensächlich. Wer hatte denn schon die Chance, seine Sexualität zu erkunden, wenn man keine anderen Menschen traf?
Wenn er durch den Gefängnis-Aufenthalt nicht so abgebrüht geworden wäre, würden seine eigenen Gedanken ihn vielleicht sogar dazu bringen zu erröten. Aber dafür war Ginoza drei Jahre zu spät. Der Zug war abgefahren.
»Dann pack deine Sachen.«
»Was?« erwiderte Kagari perplex. Diese Aussage hatte ihn dann doch überrumpelt.
»Pack deine Sachen. Du siehst heute zum ersten Mal seit Jahren die Außenwelt und wirst ins Büro der Öffentlichen Sicherheit gebracht. Das wird von nun an dein Zuhause sein.«, mit diesen Worten erhob sich der Inspektor und schien darauf zu warten, dass Kagari es ihm gleichtat. »Es sei denn, du hast es dir inzwischen Anders überlegt.«
»NEIN!«, die Antwort kam ein wenig zu schnell und überschwänglich, was man für ein paar kurze Sekunden in Ginozas Gesicht lesen konnte. »Ich mach's! Ich werde ein Vollstrecker...« - „Ich werde ein Vollstrecker!"
Und hätte sich da nicht eine Meter dicke Glasscheibe zwischen ihnen befunden, war Kagari sich weitesgehend sicher, er hätte den Inspektor angefallen und sämtliche Luft aus ihm herausgedrückt. Was er natürlich nicht zugeben würde.
Wild nach Luft schnappend, schreckte Kagari aus seinem Traum auf. Seine Kehle war ganz trocken, seine Wangen dafür aber feucht. Nur ein fieser, kleiner Fiebertraum... Er wünschte die Ereignisse von damals würden sich wiederholen, bevor es für ihn zu spät war.
