Mada hayai yo!

Es tut uns leid, Ihnen dies mitteilen zu müssen. Wir können nachvollziehen, wie Sie sich jetzt fühlen, allerdings müssen wir sagen, dass wir alles versucht haben, was uns möglich war…

Schon etwa eine halbe Stunde lehnte Fuji Syusuke mit dem Kopf gegen die weiße Krankenhauswand. Neben ihm, auf einem der dunkelblauen Stühle, saß sein jüngerer Bruder; verstört auf den Boden starrend.

»Aniki…«

Fuji hatte die Augen geschlossen und versuchte, irgendwie zu einem klaren Gedanken zu kommen. Doch er schaffte es nicht. Immer noch schwirrte ihm der letzte Dialog durch den Kopf. Das alles war so schnell geschehen. Schneller, als er es hatte realisieren können. Und doch musste er irgendwie damit zurecht kommen.

»Aniki…«

Er wünschte, Yuuta würde aufhören, ihn anzusprechen. Er wusste, dass jener von ihm irgendein Lebenszeichen erhalten wollte, aber er konnte es einfach nicht. Er war am Boden festgewachsen, konnte sich nicht bewegen; nicht einmal seinen Mund öffnen um zu sprechen, um zu sagen, dass er geistig noch anwesend war.

Ein dummer Joke, dachte er, ein dummer Joke war das alles. Irgendjemand wollte ihm einen dummen Scherz spielen.

Ja, das hatte er gedacht.

Bis er sie dort liegen gesehen hatte. Mit einem Male hatte sich sein gesamtes Inneres verkrampft und er hatte sich gefühlt, als hätte er keine Luft mehr bekommen; es schnürte ihm gänzlich die Kehle zu und er flüchtete aus dem Raum; hinaus, dorthin, wo er jetzt stand und sich seit einer halben Stunde nicht mehr gerührt hatte.

»Aniki, lass uns nach hause gehen…«

Fuji konnte spüren, wie Yuuta ihm einen Arm um die Schulter legte und ihn mit sich ziehen wollte. Schwer und wie aus Blei waren seine Beine und wollten sich kaum bewegen lassen; letztendlich stolperte er dann jedoch trotzdem mit seinem kleinen Bruder Richtung Ausgang; den Blick auf den Boden gerichtet.

»Komm…«

Er hielt die Augen geschlossen, während Yuuta an ihm zog und ihn schob. Er öffnete sie erst, als er spürte, wie die Luft um ihn herum kalt wurde. Sie hatten das Krankenhaus anscheinend schon verlassen und er hatte es nicht einmal richtig mitbekommen.

»Yumiko…«, flüsterte er plötzlich und Yuuta hielt inne.

Er hatte sich nie vorstellen können, dass es etwas gab, das seinen großen Bruder so sehr aus der Bahn warf; war er doch sonst immer einer derjenigen, der zwar still war, aber eigentlich immer recht fröhlich und offen. Lebensbejahend.

Doch mit einem Male schien davon so gut wie nichts mehr übrig und Fuji Syusuke war vielmehr ein Wrack seiner Selbst und nicht mehr dazu fähig, irgendwie zu handeln; zu sprechen; oder gar auch nur klar zu denken.

»Komm schon, Aniki… Lass uns heim…«

Yuutas Stimme hallte in einer dreifach erhöhten Lautstärke in seinem Kopf wieder und trotzdem verstand er nicht, was sie sprach. Es schien alles so entfernt. Weit weg. Wie in einem schlechten Film. In einem Alptraum.

Es war kalt draußen. Es war Winter. Fuji war, ohne Nachzudenken, sofort zum Krankenhaus geeilt; hatte sich keine Jacke mitgenommen und hatte dementsprechend auch jetzt keine bei sich. Er fror, nahm es aber nicht direkt wahr.

Zuhause angekommen, versuchte Yuuta alles Mögliche, um seinen Bruder wieder zurück in die Realität zu bringen; doch der Schock saß wohl noch zu tief und so ließ er es bleiben, brachte ihn nur in sein Zimmer und sprach zu ihm, dass er da sei, wenn er ihn bräuchte.

Er fühlte sich ein wenig albern dabei; war doch eigentlich sein großer Bruder derjenige gewesen, der ihn immer behütet und beschützt hatte. Aber vielleicht war es gerade deswegen jetzt so; jetzt hatte er die Chance, ihm das zurück zu geben, was er einst von ihm bekommen hatte.

Und nun saß Yuuta alleine auf der Couch im Wohnzimmer im Hause seiner Eltern, die in diesem Moment noch nicht einmal anwesend waren, geschweige denn überhaupt wussten, was geschehen war. Sie waren schwer beschäftigte Leute, die durch ihre Arbeit ständig in die verschiedensten Städte und Länder reisen mussten. Doch die Kinder hatten sich damit abgefunden; Syusuke und seine ältere Schwester hatten sich um den kleinen Yuuta gekümmert, bis dieser dann dem Druck in der Schule, dem Weg seines Bruders zu folgen, nicht mehr aushielt und alleine wegzog.

Sein Blick fiel auf den Karminsims, auf dem einige Fotos von ihnen als Kinder standen. Alle drei von ihnen, einander umarmend, nebeneinander, hintereinander; wie die Orgelpfeifen. Einer fröhlicher als der andere.

Ruckartig drehte er sich herum und blickte auf die geschlossene Zimmertür seines Bruders. Er konnte ihn schluchzen hören. Seinen Bruder, der soviel Stärke vor ihm präsentiert hatte. Er hatte ihn nie leiden sehen. Und jetzt schämte er sich, dass er angenommen hatte, es gäbe nichts auf der Welt, was jenen hätte verletzen können. Er hatte angenommen, sein Bruder sei ein gefühlloses Nichts, trotz dem stetigen Lächeln auf seinem Gesicht. Und er fühlte sich ertappt und erniedrigt; von sich selbst.

Syusuke verließ den gesamten Tag nicht mehr sein Zimmer. Selbst gegen Abend, als Yuuta schon fast überlegte, ob er nicht in sein Wohnheim zurückkehren sollte, kam er nicht heraus, obwohl er sich schon fast hätte denken können, dass sein kleiner Bruder wieder gehen würde. Dies hier war doch schließlich nicht sein Zuhause. Nicht mehr.

Und letztendlich noch weniger, seitdem Yumiko fehlte…

Yuuta war nahe dran, sich am Abend zu verabschieden. Er hielt die Einsamkeit und erdrückende Stille nicht aus. Und ebenso auch nicht das verletzliche Bild seines Bruders, das er nun schon stundenlang zu Gesicht bekommen hatte, wenn er einen Blick in sein Zimmer gewagt hatte.

Und so blieb er bis spät abends dort. Weiterhin saß er alleine im Wohnzimmer und starrte vor sich hin; ab und zu lief das Radio, aber wirklich Beschäftigung hatte er nicht und war aus diesem Grunde seinen Gedanken genau so gnadenlos ausgesetzt, wie sein großer Bruder, der sich immer noch in seinem Bett verkrochen hatte, aber keinen Mucks mehr von sich gab.

Yuuta hatte schon vermutet, er sei eingeschlafen. Doch als er ihm die Decke vom Kopf zog, sah er, dass er mit offenen Augen an die Decke starrte und das, ohne zu Blinzeln. Es bereitete ihm Angst. Schreckliche Angst. Und dabei vergaß er schon fast seine eigene Trauer über den Tod seiner Schwester…