„Eine Schlange, die sich nicht häutet, stirbt."
(Friedrich Nietzche)
Prolog – Das Regal
Vor Panik kaum in der Lage einen klaren Gedanken fassend zu können, rannte Harry Potter durch die düsteren, klammen Gänge Hogwarts, von den Kerkern hinauf, in den Gryffindor-Turm, wo er in den Schlafsaal hastete, um seine Schulbücher zusammenzusuchen.
Er konnte es ihm nicht zeigen! Er konnte es ihm nicht zeigen! Er konnte es nicht! Er würde von der Schule fliegen. Snape würde ihn umbringen!
„Ron!", rief er plötzlich außer Atmen. Erst jetzt hatte er ihn überhaupt bemerkt, wie er auf seinem Bett saß und mit verzweifeltem, leicht schockierten Blick einen Absatz in seinem Zauberkundebuch anstarrte.
Er schaute zu Harry hinüber und fragte: „Was hast du denn? Was ist denn los mit dir?".
„Ron! Du musst mir dein Zaubertränke-Buch ausleihen!", rief Harry, der hoffte damit sein Problem auf elegante Weise gelöst zu haben.
„Wieso das denn? Das Ding ist wertlos! Kein einziger schlauer Tipp!", antwortete Ron tonlos, kramte jedoch, wenngleich lustlos, in seiner Tasche, die neben seinem Bett auf dem Fußboden lag.
„Snape will es kontrollieren!", sagte Harry knapp, „Ich kann ihm meins nicht zeigen!".
„Hier hast du es!", Ron warf ihm sein kaum benutztes Exemplar von „Zaubertränke für Fortgeschrittene" zu, „Aber du musst es mir wieder bringen. Wäre doch ein herber Verlust, was mein Brau-Potential betrifft!", er lachte müde und widmete sich wieder seinen Zaubersprüchen.
Harry rannte davon, seine Schultasche mit sämtlichen Schulbüchern darin in der Hand wieder aus dem Turm hinunter.
Er musste sein Zaubertrank-Buch loswerden! Er musste es irgendwo verstecken und es musste schnell gehen! Snape durfte nichts davon mitbekommen!
Er rannte durch den Flur im siebten Stock und ein quietsch bunter Wandteppich lenkte plötzlich von seinen hitzigen Gedanken ab.
Barnabas der Bekloppte war das. Der Teppich zeigte, wie ein etwas zerzaust wirkender Zauberer versuchte einigen Bergtrollen das Ballettanzen beizubringen.
Wie vom Donner gerührt blieb Harry stehen. Der Raum der Wünsche!
Hier konnte er sicher das unheilvolle Buch verstecken und wenn er es wieder brauchen sollte, konnte er es dort jederzeit auch wieder finden.
Harry trat an die Tür, die langsam an der gegenüberliegenden sichtbar wurde heran und flüsterte noch einmal zur Sicherheit: „Ich brauche einen Raum, wo ich etwas sicher verstecken kann!".
Nach ein paar Augenblicken hatte sich die Tür vor ihm vollständig formatiert. Sie war groß und wuchtig und aus schwerem, groben Holz gezimmert. Sie war außerdem mit schwarzen Metallverzierungen beschlagen.
Harry musste ganz schön drücken, als er die Tür öffnete um in den Raum der Wünsche eintreten zu können.
Sofort nachdem er in den Raum getreten war, schloss er die Tür fest hinter sich, woraufhin sie unverzüglich zu verschwinden begann.
Der Raum der sich vor Harry aufgetan hatte, war eher eine riesige Halle als ein Raum oder ein Zimmer. Er war zugestellt mit hunderten von meterhohen Regalwänden, die allesamt mit allem möglichen legalen, semilegalen oder illegalen Zauberutensilien vollgestopft waren. Kreuz und quer stapelten sich Bücher und verkorkte Fläschchen mit unterschiedlich gefärbten Elixieren und Giften, fangzahnigen Frisbeescheiben und anderen, verbotenen Scherzartikeln. Generationen von Schülern mussten hier ihre Geheimisse eingelagert haben. Seit Anbeginn der Schule hatten hier Schüler einen Platz für die Ergebnisse ihrer zumeist wohl regelwidrigen, magischen Experimente gefunden und so hatte der Raum der Wünsche wohl so manchen Schüler davor bewahrt einen Schulverweis zu kassieren.
Harry konnte sich sicher sein, dass sein Buch hier nicht von Snape entdeckt werden konnte. Er glaubte erstens nicht, dass Snape den Raum der Wünsche überhaupt kannte und zweitens würde selbst ein Meister der Zaubertränke, wie der Verteidigung gegen die dunklen Künste in dieser Ansammlung eines tausendjährigen Durcheinanders sich kaum zurecht finden.
Das Problem war jedoch, dass auch Harry sich hier kaum wieder zurecht finden würde, wenn er eines Tages zurück kommen würde um sich sein Buch wieder zu holen.
Er streifte ein wenig durch die schmalen Gänge zwischen den überdimensional hohen Regalen, die ihn glauben ließen er wanderte durch eine äußerst steinschlaggefährdete Gebirgsschlucht. Sicherlich fand er einige der eingelagerten Dinge ungemein interessant. Es hätte ihm viel Spaß bereitet sich hier einmal genauer umzusehen, doch ihm lief die Zeit davon. Snape würde nicht länger als nötig auf ihn warten. Er glaubte, dass Harry lediglich in den Gryffindor-Turm gegangen war um seine Schultasche zu holen. Sein kleiner Abstecher musste schnell und reibungslos über die Bühne gehen.
Er riss sich los von einem verstaubten Wandgemälde, das einen dickbäuchigen Edelmann beim Posieren zeigte und zog das Zaubertrankbuch des Halbblutprinzen aus seiner Schultasche. Er quetschte es in ein Regal und um die Stelle zu markieren, wo er es wieder finden würde, rückte er rasch die Gipsbüste eine hageren Hexe, auf deren Kopf eine zerzauste Perücke und ein kitschiges Diadem thronten vor das entsprechende Regal.
Er wollte sich gerade auf den Weg zurück auf den Flur begeben, da wurde sein Blick von einem Regal, das etwas abseits an der Wand stand abgelenkt. Es stand nicht parallel zu all den anderen Regalen, sondern schief und ungeschickt im Raum platziert, sodass es eine Menge Platz wegnahm.
Es war außerdem aus anderem Holz gezimmert, dunkel und splittrig. In ihm befanden sich ausschließlich kleine Fläschchen und Phiolen und die wiederum schienen sorgfältig und akribisch geordnet zu sein.
Harry trat näher.
Die Gefäße trugen Schildchen. Einige waren schon recht vergilbt andere wohl noch recht neu. Auf den Schildern standen Namen wie „Emmerich der Böse", „Magenta Comstock", „Crispin Cronk", „Fifi LaFolle" oder „Enid Smeek". Erst jetzt bemerkte Harry, was sich in den Flaschen befand.
Es handelte sich um eine blütenweiße, weder gasförmige noch flüssige Masse, die in den Gläsern herumwirbelte. Harry wusste, was es war: Erinnerungen verstorbener Magier, die irgendjemand konserviert und gesammelt hatte.
Harrys erster Gedanke war, dass er hier das Lager Albus Dumbledores gefunden hatte. Hier hatte er all die Phiolen und Flaschen gelagert, die er auf unzähligen Reisen gesammelt oder zusammengekauft hatte und denen der Schulleiter sich nun bei Harry Besuchen in seinem Büro bediente. Hier mussten auch die Erinnerungen lagern, die er sich bereits zusammen mit Dumbledore angesehen hatte. Nur aus Neugier ging Harry die Regale durch um vielleicht ein Fläschchen zu finden, das seine Theorie bestätigte. Auf Anhieb fand er keines davon, jedoch stockte er, als er auf einem staubigen, verhältnismäßig großen Gefäß einen fast zur Unleserlichkeit vergilbten Zettel las, auf dem in enger, verschnörkelter Schrift der Name „Salazar Slytherin" stand.
Harry hatte keine Zeit mehr. Er musste sich beeilen und so dachte er nicht darüber nach, als er die Flasche an sich nahm und unter seinem Umhang versteckte.
Unten in den Kerkern angekommen, wartete Snape ungeduldig auf ihn.
