Der Apfeldieb

„Sherlock Holmes, komm sofort da runter!" rief der etwa dreizehn Jahre alte Junge ärgerlich aus, als eine geschickte Hand plötzlich nach seiner Mütze gelangt und ihm diese vom Kopf gerissen hatte.

„Dann komm und hol mich doch, du lahme Ente." antwortete eine lachende Stimme aus dem dichten Laub des Apfelbaumes unter dem der Knabe gelesen hatte.

„Da kannst du aber drauf wetten, dass ich da rauf komme, Sherlock." erwiderte der, hin und her gerissen zwischen seiner Verärgerung und seinem Amüsement. Als der Kopf des kleinen Schlingels aus den Blättern auftauchte und ihm die Zunge herausstreckte, schmiss er sein Buch zur Seite und griff nach dem nächsten Ast, zog sich daran hoch, die Füße gegen die raue Rinde des Stammes gedrückt und rasch war er selber im Geäst verschwunden und jagte hinter seinem jüngeren Bruder her.

„Ich kriege dich schon noch!" Mycroft Holmes ging langsam die Luft aus, während der kleinere der beiden immer höher hinauf gekraxelt war, bis er wusste, dass er außer Reichweite sein würde. Der Schlawiner wusste nur zu gut, dass Mycroft es nicht besonders schätzte zu hoch über dem Boden herum zu turnen. Der ältere wurde von seinem Dilemma, ob er es nicht doch wagen sollte oder lieber nicht, dadurch erlöst, dass die Stimme seines Onkels von unten ertönte.

„Mycroft! Sherlock! Kommt augenblicklich da herunter!" die Worte verrieten eine gewisse strenge, aber die Stimme die sie sprach, war weniger zornig als man vermuten würde. Das glitzern in den Augen des jungen Mannes verriet den beiden Jungen, dass ihr Onkel sie zwar um jeden Preis aus dem Baum haben wollte, aber er sie ansonsten in Ruhe lassen würde.

Sherlock war als erster herunter geklettert, während Mycroft sich noch abmühte sicher auf den Boden zu kommen. In seinem Eifer den frechen Knirps zu fangen, hatte er zunächst nicht bemerkt, wie hoch oben er tatsächlich war.

„Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht in diesen Baum klettern, Sherlock, oder?"

„Ja, Onkel Aldwin, hast du. Es tut mir Leid." der sechsjährige ließ den Kopf hängen, aber weniger weil er so betreten war, als dass er verzweifelt versuchte sich das grinsen zu verkneifen das sich auf seinem hübschen Gesicht breit gemacht hatte.

Sein Onkel, ein Mann Anfang dreißig, war weise genug, um diesem nahezu perfekten Bild der Unterwerfung nicht zu trauen. Vorsichtig hob er den Kopf seines Zöglings, indem er einen Finger unter das Kinn des Jungen legte und wurde des reumütigen Lächelns gewahr, ebenso wie den glitzernden Augen, die den Schelm im inneren verrieten.

„Und warum hast du es dann trotzdem getan?" Er zuckte mit den Schultern, während sein Bruder endlich sicher unten angekommen war.

„Ich wollte doch nur mit Mycroft spielen. Aber alles was er tut, seit er wieder hier ist, ist lesen, lesen und noch mehr lesen." Ein fast schon verzweifelter Ausdruck huschte nun über das kleine Gesicht des Kindes. „Kann ein Buch denn interessanter sein, als in Bäume zu klettern oder Frösche zu fangen oder…?"

„Ah, das warst du also auch. Ich hätte es mir ja denken können." Unterbrach in Aldwin Holmes, mit einem gutmütigen Lachen.

„Was hat Sherlock angestellt?"

„Ich habe ein paar Frösche in Kitty's Nachttopf getan. Du hättest sie mal kreischen hören sollen!" war die zerknirschte Antwort des Jüngsten der Familie, während sich eine gewisse Röte auf seine Wangen schlich. „Dabei war es ehrlich keine Absicht. Als ich ins Haus kam, merkte ich plötzlich, dass ich vergessen hatte, die beiden Frösche aus den Hosentaschen zu nehmen und ich weiß ja, dass Kitty Frösche nicht mag und um sie nicht zu erschrecken, habe ich sie schnell in den sauberen Nachttopf (1) gesteckt. Es war wirklich zu dumm, dass ich hinterher vergessen habe, sie da ieder raus zu nehmen..."

Verzweifelt versuchte sein Onkel die Countenance zu wahren, aber vergeblich, das Lachen ließ sich einfach nicht unterdrücken.

Kitty war das nicht sehr beliebte Hausmädchen, das ihr Onkel angestellt hatte, als seine beiden Neffen zu ihm zogen. Eigentlich war sie gar nicht mal so verkehrt, aber sie hatte einfach keinen Sinn für die Scherze und Streiche, die die Jungen sich gegenseitig aber auch ihr spielten. Zu ihrer Erleichterung war Mycroft vor einem Jahr aufs Internat geschickt worden, aber es stellte sich heraus, dass der Jüngere um so einfallsreicher war. Und dabei half auch nicht gerade der seltsame Humor des Onkels.

Als alle drei sich endlich wieder eingekriegt hatten, nahm Aldwins Gesicht erneut einen strengen Ausdruck an.

„Also, noch einmal, ihr könnt auf jeden Baum klettern, der hier auf diesem Grundstück steht, nur bitte nicht auf diesen. Ist das jetzt ein für allemal klar!"

Beide Jungen nickten, aber es war offensichtlich, dass Sherlock sich nicht ohne eine Erklärung abspeisen lassen würde.

„Onkel Aldwin, warum dürfen wir ausgerechnet nicht in diesen Baum?" fragte er daher zaghaft, jedoch mit einer Neugier, die nach Befriedigung verlangte.

„Weil dies mein bester Baum ist. Und darf ich euch daran erinnern, dass ihr beide gerade diese Äpfel am liebsten esst? Sie sind jetzt fast reif und wenn ihr ständig im Geäst herum turnt, dann fallen die Äpfel runter und wir haben nur minderwertiges Fallobst, das nicht halb so lecker ist, wie die gepflückten Äpfel. Außerdem habe ich mir sagen lassen, dass dies eine sehr seltene Apfelsorte sein soll und ich habe zugestimmt, ein viertel der diesjährigen Ernte an einen Botaniker zu verkaufen. Wie viel bleibt also noch übrig?"

Er blickte auf seinen verdatterten älteren Neffen.

„Das wären dann noch drei viertel für uns. Das ist doch aber immer noch ganz schön viel, oder?"

„Eigentlich schon, wäre es nicht für Mrs. Nichols, der ich ein Drittel der Ernte abliefern muss. Wie viel bleiben dann noch übrig?"

Wieder sah er Mycroft erwartungsvoll an und der antwortete diesmal wie aus der Pistole geschossen:

„Also wir hätten dann noch fünf zwölftel für uns und müssten sieben zwölftel weggeben, was mehr als die Hälfte der Äpfel wäre."

„Haargenau!"

„Aber warum braucht denn Mrs. Nichols unsere Äpfel. Es wäre ja nicht so, als hätte sie nicht selber einen riesigen Garten." mischte sich nun wieder der jüngere Master (2) Holmes ein.

„Wir haben aber nun einmal das Haus von ihr gepachtet und das war eine ihrer Bedingungen, Sherlock."

„Aber auf die anderen Bäume dürfen wir?"

„Wenn das deine einzige Sorge ist… - Ja, dürft ihr." seufzte der Mann, während er sorgenvoll um sich blickte.

Während Mycroft zu seinem Buch zurückkehrte und sich sehr zum Verdruss seines kleinen Bruders wieder genau unter den Baum setzte, aus dem er nun verbannt war, trollte sich dieser Richtung Bach, der etwas weiter hinten in dem Obstgarten floss, der zu The Meadows, ihrer kleinen Bauernkate, gehörte.

Mit einem Satz sprang er in das flache Wasser und begann nach Flusskrebsen zu fischen, einen Stein nach dem anderen umdrehend. Natürlich wäre es schon praktisch gewesen, einen Eimer dabei zu haben, aber da er den nun einmal vergessen hatte, nahm er stattdessen seinen Strohhut und schon bald, war der erste Krebs darin gefangen. Auf diesen besagten Strohhut, war der kleine Sherlock Holmes besonders stolz. Er hatte einst seinem Onkel gehört, aber nachdem er für diesen zu schäbig geworden war, um ihn weiter in der Öffentlichkeit tragen zu können, hatte er ihm seinen Neffen geschenkt. Er war natürlich zu groß für den Steppke und nur seine Ohren hielten die übergroße Kopfbedeckung davon ab, ihm über die Augen zu rutschen.

In erstaunlich kurzer Zeit, hatte er mehrere dieser unscheinbaren Wesen in seinem Hut gesammelt und er wollte gerade wieder aus dem Bächlein heraus klettern, als er Kitty gewahr wurde.

„Sherlock Holmes!" kreischte sie, fast schon hysterisch und er wusste, dass er mal wieder in der Klemme saß. Sich hinter die Böschung duckend verschwand er beinahe, wäre es nicht für seinen braunen Haarschopf gewesen, der sich deutlich gegen das grüne Gras abzeichnete und der zornigen Dame ziemlich genau verriet, wo sich der kleine Missetäter versteckte.

Als ihr Schatten über ihm war, sah er hoch und in ihr Gesicht und noch ehe er sich zusammenreißen konnte, brach er in freudiges Lachen aus. Es hatte doch tatsächlich funktioniert!

„Sieh dir mein Gesicht an!" verlangte sie, was er etwas dämlich fand, denn genau das tat er ja längst und zwar mit großem Stolz. Ihr Gesicht hatte mehrere rostig braune Flecke, manche etwas kräftiger in Farbe, dann die anderen – und nicht nur das, auch ihr Hals, ihre Hände und ihre Unterarme, die durch ihre hoch aufgekrempelten Ärmel sichtbar waren, waren von den gleichen Flecken bedeckt.

Mittlerweile war auch Mycroft zu ihnen herüber geschlendert und bei dem Radau, den diese Frau machte, würde sich sicherlich auch ihr Onkel bald wieder blicken lassen. Der ältere der beiden schaute die wütende Magd verwundert an.

„Es reicht mir. Aber so was von. Bist du jetzt zu Frieden, du kleiner Satansbraten?" meckerte sie weiter.

„Ich hätte nie gedacht, dass das so gut hinhaut." gab er kleinlaut zu.

Und wirklich, mit solch phänomenalem Erfolg hatte er nicht gerechnet. Wer hätte gedacht, dass die fein geraspelte Außenschale einer so alltäglichen Sache wie einer Walnuss so einen tollen Effekt erzielen könnte, wenn man sie unter die Seife mischte? Es war ganz schön kniffelig gewesen, das ganze zusammen zu basteln – besonders ohne erwischt zu werden, aber es hatte sich definitiv gelohnt.

Hinter Kitty's Rücken biss sich Mycroft auf die Unterlippe um nicht laut los zu prusten.

„Noch heute werde ich mir eine andere Stelle suchen! Noch heute!" zeterte sie und stapfte zurück ins Haus.

Sherlock reichte seinen Hut zu seinem Bruder hinauf und kletterte das steile Ufer hoch.

„Wie bitte schön hast du das denn wieder hin bekommen?"

„Och, das war ganz einfach," lautete die Antwort. Sherlock setzte sich ins lange Gras und ließ die Füße über dem Wasser baumeln. „Neulich wollte ich mal gucken, ob nicht die Walnüsse doch schon reif sind und habe mir ein paar gepflückt. Na ja, sie waren nicht reif." Er zog resigniert die Achseln hoch.

Mycroft, der sich neben ihn gesetzt hatte konnte sich ein kichern nicht verkneifen. „Du bist aber auch zu ungeduldig. Du wirst schon noch bis Anfang Oktober warten müssen. Jetzt ist es doch gerade mal Ende August."

„Ja ja, trotzdem wollte ich mal gucken. Als ich endlich die Außenschale abgemacht hatte, habe ich ja dann auch gesehen, dass da nichts zu machen war. Aber meine Finger waren natürlich ganz braun und verfärbt und egal wie sehr ich auch geschrubbt habe und egal wie viel Seife ich benutzt habe, das ging einfach nicht ab."

„Lass mich raten, und da hast du dir gedacht, was es nicht für eine tolle Idee wäre beides zusammen zu mischen?"

„Genau! Es war gar nicht so einfach, aber ich finde es war den Aufwand wert." lautete die Antwort, während er sich einen der Krebse genauer anschaute.

„So, so, meinst du das William Sherlock Holmes?!" fuhr ihn der Onkel an, der sich unbemerkt genähert hatte.

Oh weia! Es war nie ein gutes Zeichen, wenn Onkel Aldwin seinen vollen Namen benutzte. Langsam drehten sich beide Jungen um, um sich dem verärgerten Vormund zu stellen, der mit verschränkten Armen und breitbeinig vor ihnen stand und so ziemlich imposant ausschaute.

„Ich verlange eine Entschuldigung. Und zwar sofort!"

Hastig richtete sich Sherlock auf, sein Kopf mal wieder geneigt, diesmal allerdings tatsächlich aus Scham. Er hatte doch nur sehen wollen, was passiert, wenn man so gegensätzliche Dinge wie Walnusshülsen und Seife miteinander kombinierte. Und er war mit dem Ergebnis seines Projektes tatsächlich überaus zufrieden. In seinem Eifer, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass vielleicht nicht alle seinen Forschungsdrang mit ähnlichem Enthusiasmus sahen und nun fühlte er sich ziemlich elend.

„Entschuldigung, Onkel Aldwin." murmelte er, sein Blick noch immer auf seine Füße gerichtet, so dass er das leichte zucken der Mundwinkel seines Onkels nicht sehen konnte, das verriet, das der Sturm vorüber war.

„Ich nehme deine Entschuldigung an, Sherlock. Aber nun musst du dich noch bei Kitty entschuldigen." Erwiderte dieser, mit milder aber bestimmter Stimme.

Nur für einen kurzen Augenblick überlegte der Knabe ob er nicht vielleicht darum herum kommen könnte, aber trotz des kleinen Lächelns, das auf den Lippen seines Onkels spielte, ließ sein Gesichtsausdruck keinen Widerspruch zu. Resigniert trotte er in Richtung Haus davon.

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Es war spät am Abend, und beide Jungen schliefen bereits, der kleinere in seines Bruders Arme gekuschelt, als ein schriller Schrei die Stille der Nacht durchbrach.

„Was war das?" fragte ein erschrockener Sherlock, während seine Händchen die Bettdecke schützend vor sich hielten.

Schläfrig rieb sich Mycroft die Augen und versuchte zu sich zu kommen. „Ich glaube das war Kitty." murmelte er.

„Schon wieder? Ich habe doch gar nix angestellt."

Das brachte Mycroft zum lachen. Meistens war das nämlich nicht der Fall. Sein kleiner Bruder konnte ein ganz schöner Lausejunge sein, wenn es darauf ankam.

Eilige Schritte stapften über den Flur und die Treppe hinunter und nach wenigen Minuten kamen sie zurück und die Tür zum Zimmer der Jungen wurde geöffnet.

„Was ist passiert?" fragte Mycroft vorsichtig.

„Mein Junge, kannst du mir sagen, wohin du Sherlock's Hut gelegt hast, als wir vorhin rein gekommen sind?" Fragte Aldwin, der weder zornig noch amüsiert sondern einfach nur müde klang.

„In die Küche, glaube ich. Wohin genau weiß ich jetzt auch nicht mehr..."

„Ich bin mir sicher, dass das Absicht war!" schimpfte das plumpe Mädchen und sah aufgebracht von einem Holmes zum anderen. „Er wollte ganz bestimmt, dass mich diese scheußlichen Viecher zwicken und kneifen. Das sind beides kleine hinterhältige Biester!"

„Schluss jetzt!" ging der junge Mann mit Nachdruck dazwischen. „Und im Übrigen bin ich an der Situation vermutlich genauso mitschuldig, wie diese beiden. Ich wusste von den Flusskrebsen und habe Mycroft angewiesen den Hut samt Krebsen mit ins Haus zu nehmen und wir waren gerade rein gekommen, als du uns gesagt hast, das essen wäre fertig. Ich habe Mycroft gesagt, er solle den Hut erst mal irgendwo hin legen und sich die Hände waschen. Er hat nur das getan, was ich ihm gesagt habe, weiter nichts."

„Und wie sind die Tiere dann in mein Bett gekommen?"

„Ich weiß es nicht." stammelte der Jugendliche.

„Ich glaube ich weiß es." überlegte Sherlock. „Vorhin hast du doch Wäsche weggepackt und da stand deine Schlafbank (3) offen. Kann es nicht sein, dass Mycroft das nicht mitbekommen hat und die Krebse dann in dein Bettzeug gekrabbelt sind?"

„Siehst du, ich habe dir doch gleich gesagt, dass es keine Absicht war. Ich schlage vor, wir helfen dir jetzt alle schnell und sammeln die Flusskrebse zusammen ein und dann gehen wir alle wieder ins Bett."

Als am nächsten Morgen die Sonne wieder einen herrlichen Sommertag ankündigte, schlüpfte Sherlock Holmes aus dem Bett, zog sich an und machte sich, mit der Milchkanne in der Hand auf um wie jeden Morgen frische Milch vom Bauern zu holen.

Peter, der Sohn des Bauern – und Bruder von Kitty, half ihm, die gutmütige Kuh zu melken, die höchst erfreut darüber zu sein schien, den Überschuss an Milch los zu werden.

„Du wirst langsam richtig gut, kleiner Schlingel," lobte der freundliche Junge.

„Wenn ich groß bin, werde ich auch Bauer." Das Kind sah ihn mit großer Überzeugung an, während er die Flanke der braunen Jerseykuh tätschelte.

„Na, davon wird dein Onkel aber nicht begeistert sein, Schlingelchen." lachte Peter. „Ich glaube kaum, dass er dir erlauben wird, die ganze Zeit auf dem Hof hier herum zu hängen. Bald kommst du aufs Internat und danach glaube ich kaum noch, dass dich Kühe und Hühner interessieren werden."

„Ich will aber nicht ins Internat! Ich gehe doch eh schon in die Schule, das reicht doch, warum soll ich denn woanders hin?"

„Dein Onkel mag zwar ein guter Lehrer sein," gab sein Gegenüber zu, „Aber es ist trotzdem kein Vergleich zu einer richtigen Privatschule. Es gibt so viel zu lernen, Schlingelchen, so viel zu sehen, zu entdecken, fast schon beneide ich dich."

„Willst du denn kein Bauer werden?"

„Wenn ich wählen könnte, würde ich am liebsten Entdecker werden und durch die ganze Welt reisen." Lautete die Antwort, die den kleinen Racker den Rest des Tages am grübeln hielt.

Das Frühstück als auch die Unterrichtsstunden gingen an ihm vorbei, ohne das er viel davon mitbekam und es war ein glücklicher Umstand, dass Sherlock eine solch schnelle Auffassungsgabe hatte, oder er hätte mal wieder in der Patsche gesessen. Doch sobald die Schule aus war (4) und er endlich ins Freie flüchten konnte, suchte er seinen Bruder, der, wie er kaum anders erwartet hatte, im dichten Gras saß und seine Nase in ein Buch gesteckt hatte.

„Warum nur, musst du immerzu lesen?" lautete die genervte Frage. „Können wir nicht einmal wieder durch das Wäldchen streichen und die Gegend erkunden?"

„Sicherlich." War wohl die Antwort, die Sherlock am wenigsten erwartet hätte. Und verdanken tat er sie seinem Onkel, der Mycroft ins Gewissen geredet hatte, sich doch etwas mehr um seinen jüngeren Bruder zu kümmern. - Ehe der wieder auf neue Dummheiten kam. „Ich hatte eh gerade genug von Latein."

„Ich verstehe wirklich nicht, warum du überhaupt eine Sprache lernen musst, die kein Mensch mehr spricht. Das hilf doch niemandem weiter. Stell dir mal vor, wie dumm dich Leute angucken würden, würdest du sie auf Latein nach dem Weg fragen."

Mycroft lächelte nur über die kindliche Logik seines Bruders. Er hatte natürlich nicht unrecht, aber wenn doch bloß alle Dinge so einfach wären.

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Der Rest der Woche verlief relativ ruhig – zumindest für Holmes'sche Verhältnisse und nur Kitty hatte mal wieder einmal das Pech, am falschen Ende von Sherlock's Streichen zu landen. Während ihrer Streifzüge durch die Gegend, manchmal zusammen mit anderen Kindern, manchmal alleine, hatte Mycroft versucht, seinem kleineren Bruder die Vorzüge eines guten Buches näher zu bringen. Als sie abends im Bett lagen, hatte Mycroft sein Chemielehrbuch heraus gekramt und während Sherlock andächtig lauschte, hatte er von manchen der Experimente berichtet.

„Und das geht wirklich?" hatte der Kleine gespannt geflüstert, in dem Wunsch es auch selber einmal auszuprobieren.

„Ja, natürlich." hatte sein unbedachter Bruder schläfrig bestätigt ehe er das Buch weggepackt und den kleinen Racker umarmt hatte, sein Kinn zärtlich auf dessen Haupt gelegt.

„Du bist der beste Bruder auf der ganzen Welt." hatte der sechsjährige Steppke gemurmelt und sich an den Jugendlichen gekuschelt.

„Du auch, Stoppelhopser."

Und so kam es, dass als Sherlock eines morgens in die Küche kam, er das Hausmädchen beim backen antraf. Seit dem er davon gehört hatte, dass Backpulver und Essig zusammen wunderbar schäumen sollten, hatte er gehofft eine Gelegenheit zu finden, es auch selber zu versuchen. In einem unbeobachteten Moment, der Teig musste gehen und Kitty war hinaus getreten um Teppiche aus zuklopfen, schnappte er sich die Dose mit dem Backpulver, kippte etwas davon in in eine Tasse und schlich sich in die Speisekammer um die Flasche mit dem Essig zu holen. Die Tasse stellte er auf Kitty's Küchenbank, denn der Tisch war etwas zu hoch für ihn und dort begann er sein Experiment durchzuführen. Vorsichtig kippte er einen großzügigen Schluck Essig in die Tasse, gleichwohl er noch so vorsichtig hätte sein können, sobald der Essig mit dem Backpulver in Berührung kam, schäumte es kräftig und dieser Schaum floss rasch über den Rand der Tasse hinaus und auf die Sitzfläche der Bank und sickerte langsam durch die Spalten zwischen den einzelnen Brettern und in die Truhe darunter, in der Kitty's Bettzeug lag.

„Oh-oh!" murmelte er, seine Hand auf die Öffnung pressend. Für einen kurzen Moment schien es, als ob diese Maßnahme nützen würde, doch dann schäumte das Zeugs zwischen seinen kleinen Fingern hindurch und natürlich kam genau in diesem Moment sein Onkel in die Küche.

Er sah das betretene Gesicht seines Neffen, die Schweinerei auf der Küchenbank und die Blasen, die aus der Tasse blubberten und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Aber wie so oft, es half nichts, er musste einfach los lachen. Es war einfach zu komisch, was sich dieser Junge in seiner Wissbegierde einfallen ließ. Er erinnerte sich noch zu gut an den Tag an dem eine Wolke Mehl aus seiner Trompete geweht war. Diese Trompete benutzte er, mangels einer gescheiten Glocke in der ersten Zeit, als Signal für die Schüler, dass die Pause zu ende war und neugierig wie er nun einmal war, hatte Sherlock überlegt, was wohl passieren würde, wenn man eine pulvrige Substanz durch ein Rohr blasen würde. Dieses Rohr war besagte Trompete. Nach dem Pausensignal hatte der amüsierte Aldwin die perplexen Schulkinder dann nach Hause geschickte, denn der halbe Klassenraum war mit Mehl bedeckt und der ganze Lehrer ebenfalls, denn durch die offene Tür, hatte die Zugluft das heraus gepustete Mehl zurück wehen lassen.

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Endlich war der Tag der Apfelernte gekommen und mit ihm ein schulfreier Tag. Es war ein sonniger Freitag und wieder einmal ging die Sonne zu einem herrlichen Morgen auf. Sherlock lief, wie jeden Morgen über das Feld zum nächsten Hof um Milch zu holen, wie immer die Kuh selber melkend und aufgeregt erzählte er Peter von der bevorstehenden Ernte und Jack, der Knecht hatte ihn gewarnt, dass es abends ein Gewitter geben würde.

Sherlock rannte, so schnell ihm dies mit einer vollen Kanne lauwarmer Milch möglich war nach Hause zurück und wurde von seinem Onkel begrüßt, der normalerweise immer tadellos gekleidet, ganz entgegen seiner Gewohnheit heute ein abgetragenes gestreiftes Hemd und eine abgewetzte graue Hose trug, die mit ausgeleierten Hosenträgern gehalten wurde. Er hatte weder Schuhe noch Socken an und alles in allem sah er nun wie eine größere Version des Lümmels aus, der ihm gegenüberstand – nur ohne Strohhut.

„Mycroft ist schon draußen und bringt die Kisten und Körbe raus. Hast du schon gefrühstückt?"

„Nö, aber ich habe auch keinen Hunger. Und notfalls kann ich ja einen Apfel essen." das kleine Gesicht leuchte schier vor Vorfreude.

„Na gut, dann lass uns anfangen. Kannst du bitte einen Eimer Wasser mitbringen? Es wird heiß heute, da brauchen wir etwas zu trinken. Ich trage eben die Leiter raus."

„Jack meinte, dass es heute ein Gewitter gibt." berichtete der Neffe, während er sich in Richtung Waschküche davon machte, wo er wusste, dass er dort einen Eimer finden würde. Das Wasser in den offenbar bereit stehenden Zinkeimer pumpend beobachtete er Kitty, die für den nächsten Montag die Wäsche schon einmal einweichte mit der sie die beiden Jungen immer reichlich versorgten. Grummelnd sah sie ihren kleinen Widersacher an um dann mit der undankbaren Aufgabe weiter zu machen. Der Knirps hingegen wunderte sich, wie so ein sauertöpfisches Mädchen einen so heiteren Bruder haben konnte. Na ja, vielleicht hatte der Storch sich ja in der Adresse geirrt, überlegte er sich, vor sich hin kichernd.

„Was heckst du denn jetzt schon wieder aus?" fragte das misstrauisch gewordene Mädchen ihn, ihre Hände tief in dem bronzenen Kessel getaucht.

„Och, nix." lautete die vage Antwort, die wenig dazu beitrug die Magd weniger misstrauisch zu machen.

Aldwin Holmes hatte die Leiter bereits gegen ihren Lieblingsapfelbaum gelehnt und war bereits dabei mit einem Kartoffelkorb und einem Fleischerhaken in den Baum zu klettern, während Mycroft nach wie vor Kisten anschleppte, im Mund ein Gänseblümchen, auf dessen Stiel er gedankenverloren herum kaute.

„Ah, da bist du ja." lächelte der junge Onkel, und amüsierte sich über das knallrote Gesicht seines jüngsten Neffen, der ganz schön mit dem schweren Wassereimer zu kämpfen hatte, aber auch nicht zweimal hatte gehen wollen.

Fast schon pingelig ernteten sie den Baum ab um auch den letzten der leckeren Äpfel mit abzubekommen und während Sherlock, eine kleine Kiepe auf dem Rücken, flink von einem Ast zum anderen kletterte, hielt sich der Onkel an die Leiter und die kräftigeren Äste und Mycroft war froh darüber auf dem Boden bleiben zu können, wo es seine Aufgabe war, die zu ihm herunter gereichten Äpfel gleichmäßig auf die Kisten zu verteilen. Wie sein Onkel es ihm vorgeschlagen hatte, hatte er zwölf Kisten nebeneinander aufgereiht, von denen dann drei für den Botaniker, vier für Mrs. Nichols und fünf für sie selber waren. Um zehn Uhr war der erste Baum abgeerntet und Onkel Aldwin beschloss, das es Zeit für eine kleine Pause sei. Es war mittlerweile fast unerträglich heiß und so trieb er seine Neffen vor sich her und in Richtung Bachlauf.

„Rein mit euch!" rief er ehe er selber mit einem gewaltigen Satz und einem riesigen Platscher mit denen er die Jungen von oben bis unten mit Wasser bespritzte, in den Bach sprang. Kreischend folgten die zwei ihm und bald hatten sie sich ausreichend abgekühlt.

„So, dann lasst uns etwas trinken und dann weiter machen. Hast du eigentlich einen Becher mitgebracht?"

Sherlock nickte, während das Wasser aus seinen Haaren tropfte.

„Gut."

Die Emailetasse in den Eimer tunkend füllte er sie randvoll, setzte sie an die Lippen und nahm einen großen Schluck, den er aber sofort und mit angewidertem Gesicht in einer imposanten Fontaine wieder ausspuckte.

„Was ist?" fragte Mycroft überrascht.

„Dein Bruder hat es doch tatsächlich geschafft ausgerechnet den Eimer zu nehmen, in dem Kitty immer die Nachttöpfe reinigt..." erklärte er, nachdem er sich die Zunge an seinem Ärmel abgewischt hatte. Dass er trotzdem nicht böse auf Sherlock war, ließ sich aber an seinen Augen deutlich ablesen, die wieder einmal vor Amüsement leuchteten.

„Oh Sherlock!" lachte Mycroft, und schüttelte seinen Kopf, während dieser ziemlich peinlich berührt schien. Trotzig hob er das Kinn und erklärte bestimmt, dass das ja schließlich jedem hätte passieren können.

Als der Morgen zum Mittag und der Mittag zum Nachmittag wurde zeigte sich, dass der Knecht Recht gehabt hatte, in der Ferne grummelte es bereits und so schnell sie konnten machten sich die drei daran, ihre Ernte in den Schuppen zu bringen, wo er in Sicherheit sein würde. Keinen Augenblick zu früh, hatten sie es geschafft, denn bereits auf dem Weg ins Haus begann es in dicken tropfen zu regnen.

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Am nächsten Morgen war die Luft wunderbar frisch und der Himmel so blau wie er nur sein konnte. Mit Bollerwagen und Schubkarre machten sich Aldwin und die Knaben auf, um der Verpächterin ihren Anteil an Äpfeln abzuliefern. Mrs. Nichols war eine säuerliche ältere Dame die glücklicherweise das Landgut ihres Vaters geerbt hatte, sich dann aber bedauerlicherweise einen Mann ohne Titel geangelt hatte. Das Gut sah mittlerweile etwas schäbig aus, denn nach dem Tod ihres Mannes, den sie auch ohne Titel sehr geliebt hatte, zog sie sich mehr und mehr zurück und von den einst zehn Hausangestellten waren jetzt nur noch drei übrig. Aber so wenig Mrs. Nicoles nun Menschen um sich herum haben mochte, so sehr mochte sie es, für eine Menschenfreundin gehalten zu werden und durch die Empfehlung des Dorfpastors Mr. Whitwater, einem ältlichen Gentleman mit mildem Gemüt, war sie darauf gekommen, eine kleine Dorfschule (5) einzurichten. Der junge und vielversprechende Aldwin Holmes hatte sich für die Stelle beworben nachdem er die Vormundschaft für seine verwaisten Neffen hatte übernehmen müssen und aufgrund seiner guten Referenzen und des forschen aber höflichen Auftretens, war er auf der Stelle eingestellt worden. Das war nun etwas über zwei Jahre her. Es war im übrigen auch sie gewesen, die ihnen Kitty als Hausmädchen empfohlen hatte und Mycroft und Sherlock waren unlängst zu dem Schluss gekommen, das kaum etwas gutes von Mrs. Nichols kommen konnte, Patronat hin oder her.

Während die Kinder draußen ungeduldig warteten, musste drinnen der Onkel seine Bücher offen legen und die Lady kam sogar mit heraus um auch genau nach zu zählen, ob auch ja alle Kisten abgeliefert worden waren und ordnete dann unverschämter weise ihren Laufburschen an mit zurück zu The Meadows zu gehen und die dortigen Kisten nachzuzählen. Der kleine Sherlock war jedenfalls stinksauer.

Aber wenn er gedacht hatte, das das schon das schlimmste war, dann hatte er sich gewaltig geirrt. Als sie zu Hause angekommen waren, stand die Tür zum Schuppen offen, obwohl sich alle einig darüber waren, dass man sie verschlossen zurück gelassen hatte und von einem der Stapel fehlten zwei Kisten.

Irritiert zog Onkel Aldwin die Brauen zusammen während der Diener nachgezählt hatte und zufrieden gestellt war, dass man seine Herrin nicht übers Ohr gehauen hatte.

„Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Tür hinter mir zugemacht habe..." stammelte Mycroft endlich.

„Ja, ich weiß, mein Junge. Und selbst wenn du es nicht getan hättest, würde das niemandem das Rechte geben, einfach so herein zu kommen und unsere Äpfel zu nehmen, ohne uns zu fragen."

„Guckt mal, da ist ein Fußabdruck!" Sherlock deutete auf den vagen Abdruck auf dem staubigen Fußboden.

„Das könnte doch aber meiner sein." gab der Onkel zu bedenken und setzte seinen Fuß daneben. Es war aber tatsächlich nicht sein Fußabdruck.

„Also dir gehört er nicht," erklärte der Junge mit einer Expertise, die ein Grinsen auf das gut aussehende Gesicht des Vormundes zauberte. „Und der von Kitty kann es auch nicht sein, die trägt keine schweren Stiefel, sondern leichte Schuhe und ihre Füße sind eh viel kleiner."

„Und das erkennst du woran?" erkundigte sich ein erstaunter Mycroft.

„Na guck doch selber. Die Sohle von dem Abdruck ist doch rau und breit und kein leichter Frauenschuh hat so eine Sohle. Das er kleiner ist als der Abdruck vom Onkel, ist doch auch klar, das erkennt man leicht – obwohl viel kleiner ist er auch wieder nicht." Seine kleinen Finger fuhren die Umrisse nach während er erklärte.

„Ich denke, unser kleiner Detektiv hier hat Recht."

„Und was machen wir jetzt?" fragte der besagte Detektiv unsicher.

„Wir bringen die anderen Kisten jetzt zum Bahnhof und dann trinken wir dort eine schöne Tasse Tee."

Grummelnd gehorchten die Kinder und sechs Kisten Äpfel wurden wieder auf die Wagen gepackt um damit zu dem fünf Meilen entfernt liegenden Bahnhof zu laufen. Es war fast Zeit zum Abendessen, als sie endlich zurück kehrten. Müde, staubig und vor allem hungrig. Aber weder Sherlock Holmes noch sein Bruder konnten der Versuchung widerstehen, noch einmal in den Schuppen zu schauen, wo das abscheuliche Verbrechen eines Apfeldiebstahls begangen worden war.

In das halbdunkel lugend hielt Mycroft erschrocken die Luft an, als er bemerkte, dass doch tatsächlich noch eine Kiste verschwunden war.

„Wir müssen etwas unternehmen!" rief er aus.

„Ja, ganz sicher. Aber was?"

„Das weiß ich leider auch nicht. Lass uns drüber schlafen und morgen sehen wir dann weiter."

„Aber wenn der Dieb bis dahin alle Äpfel geklaut hat?" War der vielleicht nicht ganz unberechtigte Einwand.

Beide Lausejungen waren ungewohnt ruhig beim Abendessen, was dem Onkel allerdings nicht auffiel, weil er selber viel zu müde war. Ohne zu murren, gingen die beiden ins Bett und als sie zugedeckt worden waren und der kleinere seinen Gute-Nacht-Kuss bekommen hatte konnten sie endlich mit ihrem Vorhaben loslegen.

Sherlock, der mit den Eigenheiten des Haushaltes vertrauter war, als sein älterer Bruder, hatte es geschafft, einen Eimer Kohlenasche vom Küchenherd in der Waschküche zu verstecken. Dabei war sein Blick auf ein Fläschchen gefallen, von dem er wusste, dass Kitty sich dessen Inhalt nach dem Haarewaschen in die Haare schmierte. Als er einmal seinen Onkel danach gefragt hatte, hatte dieser ihm mit einem hinterhältigen Lächeln erzählt, dass er lieber die Finger davon lassen sollte, es sei denn er würde eines Tages einen Penny verschlucken und diesen ganz dringend zurück haben wollen. Behutsam ließ er die kleine Flasche in seine Hosentasche gleiten und schlüpfte zurück in die Küche, gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Kitty mitbekam, wo er gerade hergekommen war.

Nun zeigte er seine Eroberung seinem Bruder, der beim Lesen des Etiketts augenblicklich losprustete.

„Du bist ein Genie, Sherlock! Selbst wenn wir den Dieb nicht zu fassen kriegen, wird er ganz schön für seine Missetat bezahlen. Immerhin, Kitty wäscht die Äpfel immer, ehe sie sie benutzt, der Schuss dürfte also nicht nach hinten losgehen."

Heimlich, still und leise schlichen sie die knarrende Treppe hinunter und wollten gerade zur Vordertür heraus – da Kitty offenbar noch nicht schlief und es eh zu riskant gewesen wäre, so dicht an ihr vorbei zu huschen.

„Hörst du das?" flüsterte Sherlock.

„Ist das Onkel Aldwin, der da bei ihr ist?" Mycroft sah schockiert drein.

„Kann nicht sein, den haben wir doch gerade oben schnarchen hören."

„Aber wer ist das dann?"

„Woher soll ich das denn wissen? Wir können ja ums Haus herum gehen und durchs Fenster gucken, wenn du es unbedingt wissen willst. Kann ja sein, dass es nur Peter ist."

„Na hör mal, der mag seine Schwester mindestens so gerne, wie wir die mögen." Rief Mycroft wahrheitsgemäß aus, worauf hin sein Bruder nur mit den schmalen Schultern zuckte.

Es war tatsächlich nicht Peter, sondern Jack, der Knecht, der das junge Mädchen in den Armen hielt.

„Das müssen wir Onkel Aldwin erzählen." stammelte der ältere der beiden, während er seinem Bruder die Hand vor die Augen presste.

„Weil sie sich küssen?"

„Entgeht dir denn gar nichts?"

„Doch, ganz viel." lautete Sherlock's zerknirschte Antwort und resigniert drehte er den Kopf vom Fenster weg. „Mrs. Brown hat doch gestern wieder ein Baby bekommen, wie jedes Jahr, und diesmal wollte ich endlich mal den Storch sehen. Ich habe gewartet und gewartet und nix ist passiert. Dabei dachte ich, dass ein Storch ja schon ein ziemlich großer Vogel sein muss, wenn er die Babys bringt..."

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum sein Bruder in ein herzhaftes Lachen ausgebrochen war. Tatsächlich kringelte sich Mycroft schier vor lachen und Tränen rannen ihm über das Gesicht.

„Was ist daran so komisch, bitte sehr?" fragte das Kind ärgerlich.

Nach Luft schnappend presste Mycroft hervor: „Irgendwann wirst du es schon noch herausfinden."

Vorsichtig öffneten sie die quietschende Schuppentür und mit einem kleinen Pinsel aus Sherlock's Farbkasten träufelten sie kleine Mengen Rizinusöl an die Stellen der Äpfel, wo der Stiel saß und beobachteten, wie es tatsächlich in den Apfel sickerte.

„Was, machen wir nicht alle Äpfel?" erkundigte sich der kleinere Lümmel, als sein Bruder den Korken nach nur einer präparierten Kiste – natürlich die, welche der Tür am nächsten stand – wieder in die Flasche steckte.

„Nein, ich denke, das sollte reichen. Wir wollen ja auch noch was davon haben."

„Aber du hast doch gesagt, dass Kitty die Äpfel immer wäscht."

„Ja, tut sie ja auch, aber ich hätte nicht gedacht, dass das Rizinusöl in den Apfel rein zieht. Jetzt müssen wir verdammt vorsichtig sein, die präparierten Äpfel nicht mit den anderen zu verwechseln. Ich denke wir müssen Onkel Aldwin wohl oder übel einweihen."

„Und Kitty?"

Ein ungezogenes Grinsen huschte über die Gesichter der beiden Brüder und sie entschieden sich dafür, Kitty nichts zu erzählen. Danach leerten sie noch die Asche aus und hofften, darin am nächsten Morgen Fußabdrücke sehen zu können. Danach fielen sie todmüde in ihre Betten.

Am nächsten Morgen, waren tatsächlich wieder zwei Kisten Äpfel verschwunden und glücklicherweise war die Kiste mit den Rizinusöl-Äpfeln darunter.

„Jetzt sind uns schon fünf Kisten gestohlen worden." informierte Aldwin Holmes seine Neffen. Er war weniger ärgerlich, als maßlos von seinen Mitmenschen enttäuscht.

Die Information, die seine Neffen jedoch für ihn hatten, ließ in fast schon gehässig lächeln.

„Erinnert mich bitte daran, dass ich mich niemals mit euch anlege." lachte er schließlich und war erneut der liebenswerte wenn auch strenge Mann, den seine Mündel so sehr liebten. „Ich möchte es mal so ausdrücken, wer immer die Äpfel gestohlen hat, wird eine ganz schön saftige Strafe bekommen. Wortwörtlich, sozusagen."

Dann trieb er die Jungen an, sich etwas gescheites anzuziehen, denn der Gottesdienst würde in einer halben Stunde anfangen. Der gesamte Holmes'sche Haushalt hatte sich gerade hingesetzt – Kitty in die Bank ihrer Eltern, als Peter herein gestürmt kam und ziemlich verängstigt drein schaute.

„Es tut mir Leid, dass ich hier so hereinplatze, aber wie es aussieht haben wir einen Fall von Cholera auf dem Hof. Jedem der von uns Milch geholt hat, rate ich, diese weg zuschütten." keuchte er und hielt sich die Seite.

Die ganze versammelte Gemeinde geriet in Aufruhr – außer Aldwin Holmes, der verschmitzt lächelte.

„Und wer ist erkrankt?" erkundigte er sich seelenruhig.

„Jack Tull."

Kitty erbleichte, ehe sie sich entschuldigte und aus der Kirche und zu ihrem Liebsten eilte.

„Er hat nicht zufällig heute Morgen ein oder zwei Äpfel gegessen?"

„Ich meine ich habe ihn vorhin mit einem Apfel in der Hand über den Hof gehen sehen." antwortete ein verdutzter Peter und kratzte sich den Kopf. „Ich hatte mich noch gewundert, woher er den hat, wir haben nämlich unsere Bäume noch gar nicht geerntet."

„Und kurz darauf hatte er Durchfall?"

„Ja, heftigsten und starke Krämpfe."

„Das dachte ich mir. Aber Cholera hat er nicht. Und warum nicht, Sherlock?"

Der Junge sah ihn mit leuchtenden Augen an: „Weil er ein Dieb ist!"

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Die Ferien gingen langsam ihrem Ende entgegen und in zwei Tagen würde Mycroft wieder abreisen. Die beiden Brüder und ihr Onkel saßen um ein Lagerfeuer herum und grillten auf Stöcke gesteckte Kartoffeln über dem offenen Feuer.

„Wisst ihr was?" fragte ein äußerst zufriedener Sherlock Holmes, woraufhin seine beiden Kumpanen die Köpfe schüttelten. „Ich glaube wenn ich groß bin, dann werde ich Detektiv."

Anmerk.: Diese Geschichte wurde von meinem Sohnemann inspiriert, der schon jetzt ein großer Sherlock Holmes Fan ist und der einzige Grund, warum er kein Detektiv werden möchte, wenn er groß ist, ist, weil er denkt, dazu müsste er nach London ziehen…

Auf jeden Fall musste ich ihm für dieses Jahr zum Karneval ein Sherlock Holmes Kostüm machen mit Deerstalker und allem drum und dran. Bei der Anprobe hat meine Schwiegermutter dann gefragt, wer den den Watson macht. Ich habe ihr dann geantwortet, dass Holmes und Watson sich ja erst getroffen haben, als beide über zwanzig waren und mein Mann meinte dann, dass selbst Sherlock Holmes wohl kaum mit sieben schon ein Detektiv gewesen sei.

Tja und da kam mir der Gedanke – was wenn doch?

Das hier ist das Resultat und ich hoffe, dass es Euch gefällt. - Original wurde diese Geschichte in Englisch geschrieben und dies hier ist nur die Übersetzung, aber ich hoffe, dass sie sich nicht zu holzig anhört.

Es wäre schön, wenn Ihr mir einen kleinen Kommentar da lassen könntet.

(1) In den 1860ern gab es nur sehr wenige Toiletten im Haus und es ist nicht besonders schön, des nachts über den Hof gehen zu müssen, um sein Geschäft zu erledigen, deshalb waren Nachttöpfe üblich und verbreitet. In diesem Fall sind die Modelle mit Deckel gemeint, so dass es sich erklärt, warum Kitty die Frösche nicht schon früher gesehen hat. Bedenkt man, dass sie vermutlich im halbdunkel den Topf benutzt hat – denn es gab ja kein elektrisches Licht, das sich so einfach einschalten ließ, dann kann man sich gut vorstellen, wie sehr sie sich erschrocken haben muss, als ihr etwas gegen die Kehrseite gehüpft ist…

(2) Master war die Anrede für Jungen – als Gegenstück zu Miss (oder auf deutsch Fräulein).

(3) Dienstmädchen haben oft in der Küche ihr Nachtlager gehabt. Eine Schlafbank ist eine Bank, deren Sitzfläche man herausziehen kann, so dass sie breit genug wird um bequem darauf zu schlafen. Meistens hatten Schlafbänke unter der Sitzfläche einen Stauraum, wo die Matratze und das Bettzeug tagsüber gelagert wurden.

(4) Es mag komisch erscheinen, dass Mycroft für die Ferien zu Hause ist, während der Onkel offensichtlich noch Unterricht hält und Sherlock die Schulbank drückt. Es war aber so, dass die Ferien von den Schulen festgelegt worden sind. Dorfschulen, wie die in der Aldwin Holmes unterrichtet, hatten meistens dann Ferien, wenn gesät und gepflanzt bzw. geerntet wurde, während Internate häufig in den Sommermonaten geschlossen wurden und für ein zwei Wochen über Weihnachten.

(5) In den 1860ern gab es in England keine allgemeine Schulpflicht und viele Adlige wollten ihre Leute auch nicht zu gebildet haben. Manche allerdings sehr wohl und so wurden vereinzelt Schulen eingerichtet, die von dem örtlichen Landadel getragen wurden. Das Gehalt das Aldwin Holmes daraus bezogen hat, wird kaum genug gewesen sein, um sich selbst damit versorgen zu können. Aber da die Holmes – Familie ja selber einen adligen Hintergrund und ein, wenn auch nur kleines, Vermögen hat (zumindest gehe ich hier davon aus), kann er sich und seinen Neffen ein einigermaßen angenehmes Leben verschaffen und den Kindern eine gute Schulbildung mit auf den weg geben, indem er sie auf eine Privatschule schickt. - Sherlock ist hier nur noch ein bisschen zu jung.