Disclaimer: Jarlaxle, Entreri und alle sonstigen Personen mit Wiedererkennungscharakter gehören R.A.Salvatore.

Eigentlich bloß eine kleine Schreibübung - was hatte es mit den Überresten des Spinnennetzes auf sich, das Bruenor und Regis in "Nacht ohne Sterne" an der Stelle finden, an der Entreri abgestürzt war?

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Er hatte den Halbling auf einem Felsgrat an sich vorbei laufen sehen, oben am Rand der Schlucht, an deren Grund Jarlaxle sich befand, und hatte sich hastig in einen Felsspalt gezwängt. Seine Feinde hatten ihn laufen gelassen (oder waren zumindest bereit gewesen, ihm das Leben zu schenken - auf weitere Entscheidungen hatte Jarlaxle lieber nicht gewartet), aber nach seinem überstürzten Abgang aus den Höhlen unterhalb Mithril-Halles hatte Jarlaxle wenig Lust, herauszufinden, ob die Leute noch immer in der gleichen gnädigen Stimmung waren.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich ohnehin längst wieder in den Tunneln des Unterreichs befunden. Aber die Reichweite des Zaubers, mit dem Jarlaxle sich aus der Nähe seiner Feinde gerettet hatte, war begrenzt, und seine Richtung ließ sich schwer vorherbestimmen. Sobald der Rauch des Teleportationsportals (der eigentlich überhaupt keinen Effekt besaß, sondern nur geheimnisvoll schmückendes Beiwerk war) sich verzogen hatte, hatte der Drow-Söldner mit leisem Fluchen festgestellt, daß er sich an der Oberfläche befand, und zwar ganz in der Nähe der Zwergenfestung, aber weit entfernt von jedem Eingang zur unterirdischen Höhlenwelt, die ihn zurück nach Menzoberranzan bringen konnte. Und nicht genug damit, er befand sich dort mit einem noch immer gebrochenen Bein, das er Drizzt Do'Urdens magischer Panther-Freundin zu verdanken hatte, und hatte keine Ahnung, wie er in seinem momentanen Zustand zurück in die Tunnel gelangen sollte.

Aber Jarlaxle besaß, wie die meisten Drow, einen ausgeprägten Überlebenstrieb. Auf einen Ast gestützt, bugsierte er seinen vor Schmerzen protestierenden Körper unter einen Felsüberhang, unter dem man ihn hoffentlich nicht so schnell bemerken würde, falls jemand auf die Idee käme, ihn hier zu suchen, und gestattete sich und seinem verletzten Bein etwas Ruhe. Während er seinen Piwafwi, seinen magischen Tarnumhang, eng um sich zog, holte er mit der freien Hand aus einem der vielen Beutel, die an seinem Gürtel baumelten, eine kleine grüne Kugel hervor, murmelte einige magische Formeln und fuhr, als das Artefakt prompt in sanftem Pulsieren von innen heraus zu glühen begann, langsam damit an seinem verletzten Bein entlang. Der Schmerz verebbte spürbar, aber Jarlaxle wußte, daß auch die Kräfte der Heilkugel begrenzt waren. Der Gegenstand mochte vielleicht ausreichen, um einfache Schnitt- oder Brandwunden zu heilen, aber nicht, um gebrochene Knochen zusammenwachsen zu lassen.

Dennoch, für den Moment mußte das genügen. Er steckte die Kugel wieder ein, gönnte sich noch ein paar Minuten Pause und rappelte sich dann, auf seine improvisierte Krücke gestützt, mühsam wieder in die Höhe.

Die Nacht war schon halb vorüber, und der Söldner wußte, daß sein Weg noch viel schwieriger werden würde, wenn erst einmal die Sonne am Himmel stand. Zwar war Jarlaxle schon mehrmals an der Oberfläche gewesen und teilte nicht die abergläubische Furcht der meisten Drow vor dem großen Feuerball. Aber seiner Natur entsprach die Nacht, die Dunkelheit, nun einmal viel besser als das grelle Tageslicht, das ihm in den Augen brannte.

Da er sich am Grund eines tiefen Tales befand und den östlichen Horizont gar nicht sehen konnte, gestaltete sich der Sonnenaufgang für ihn nur als ein allmähliches Hellerwerden des Himmels. Er setzte seinen Weg, unerträglich langsam und unter Schmerzen, in den Schatten am Talgrund noch eine Weile fort, ehe die Sonne allmählich über den Rand der Felsen hereinlugte und diese Schatten sich auflösten. Das nahm Jarlaxle, der ohnehin vor Schmerzen kaum noch weiter konnte, als willkommenen Anlaß, sich nach einem Versteck umzusehen, und er verbrachte die Stunden bis zum Abend unter einem überhängenden Felsen in einer Art erschöpftem Halbschlaf.

Bei Sonnenuntergang schleppte er sich weiter, und obwohl ihn jeder Schritt ein wenig weiter weg brachte aus der Reichweite seiner etwaigen Verfolger, wuchs doch zunehmend seine Besorgnis. Er kam viel zu langsam vorwärts, und in seinem geschwächten Zustand war er eine leichte Beute nicht nur für die hiesigen Zwerge, sondern auch für vierbeinige Oberflächenbewohner. Seine größte Hoffnung war, daß seine Söldnertruppe, die Männer von Bregan d'aerthe, sicher bereits Suchtrupps nach ihrem vermißten Anführer ausgeschickt hatten, obwohl eine derartige Loyalität ansonsten unter Drow wenig verbreitet war. Aber die verschworene Gemeinschaft der Ausgestoßenen und Hauslosen, die Jarlaxle in Menzoberranzan geschmiedet hatte, war auch in dieser Hinsicht eine Besonderheit.

Natürlich würden freilich auch diese Suchtrupps erst die Tunnel und Höhlen ausspähen, ehe sie auf die Idee kämen, Jarlaxle an der Oberfläche zu suchen. Wie der Söldner es auch drehte und wendete, es lagen wohl noch einige Tage Schmerzen und Plackerei vor ihm.

Der nächste Morgen brach an, und der erschöpfte Jarlaxle wollte gerade anfangen, sich nach einem geeigneten Unterschlupf für den Tag umzusehen, als er, weit über seinem Kopf, eine Bewegung ausmachte. Es war noch dunkel genug, damit seine Augen nicht durch die Sonne beeinträchtigt wurden, und so erkannte er ohne große Mühe den Halbling, den Artemis Entreri als Köder für Drizzt Do'Urden aus Calimhafen mitgebracht hatte. Der Kleine schien etwas erspäht zu haben, denn er lief sehr zielstrebig auf einen bestimmten Punkt zu, und die Flinkheit der rundlichen Gestalt amüsierte den Söldner. Neugierig geworden, zwang er seinen geschundenen Körper noch ein wenig weiter. Nach allem, was er wußte, befand er sich weit fort von jedem Eingang nach Mithril-Halle, und es interessierte ihn, was der Halbling ganz allein in dieser Wildnis zu suchen hatte.

Neugierde war schon immer Jarlaxles größte Schwäche gewesen, aber wenn man bedachte, daß er diese Eigenschaft inzwischen zu einem höchst profitablen Geschäft ausgebaut hatte, so mochte man es fraglich nennen, ob es überhaupt eine solche war.

Dann, nach einer ganzen Weile, kam der Halbling plötzlich zurück, und Jarlaxle duckte sich hastig in einen Felsspalt. Die abrupte Bewegung belastete sein gebrochenes Bein und ließ ihn leise fluchen, lenkte ihn aber nicht so sehr ab, daß ihm nicht das rote Funkeln aufgefallen wäre, das an einer Kette in der Hand des Halblings baumelte, der vergnügt (und ohne einen Blick auf den Talboden zu werfen) den Höhenweg entlang hüpfte.

Der Rubinanhänger.

Jarlaxle erinnerte sich auch gut an diesen magischen Gegenstand, der zum Besitz des Halblings gehört hatte, als Entreri ihn entführte. Natürlich erinnerte er sich, der Söldner hatte eine eingestandene Schwäche für verzauberten Krimskrams aller Art. Nicht nur, daß solche Artefakte amüsant waren und ihren Träger mit genau jener Art einer geheimnisvollen Aura umgaben, wie Jarlaxle sie liebte - sie konnten einem unter Umständen auch das Leben retten. Und an den Rubinanhänger, der auf subtile Weise den Willen beeinflußte, wäre Jarlaxle wirklich nur zu gerne gekommen. Zwar bezweifelte er seine Wirksamkeit bei seinem eigenen, in Magie wie Intrigenspiel gleichermaßen erfahrenen Volk, aber Jarlaxles Kontakte beschränkten sich nicht nur auf Drow. Leider hatte Entreri logisch argumentiert, daß er den Rubinanhänger brauche, um gegenüber Regis' Freunden die Rolle des Halblings glaubhaft spielen zu können.

Und nun hatte der Halbling sich offenbar des Steins wieder bemächtigt. Was eigentlich nur den Schluß zuließ, daß sein vorheriger Träger - oder sehr viel wahrscheinlicher seine Leiche - sich irgendwo dort vorne befand.

Jarlaxle humpelte ein wenig schneller.

Er kam gerade noch rechtzeitig, um etwas Dunkles und offenbar Schweres, das an den Fetzen eines weiten Umhangs irgendwo über ihm in der Felswand gehangen hatte, in die Tiefe stürzen zu sehen.

Jarlaxle handelte, ohne groß nachzudenken. Seine rechte Hand fuhr in den Gürtel, zog einen der beiden Stäbe heraus, die darin steckten, und streckte ihn gerade vor sich aus. Auf ein einziges Wort hin schoß eine graue, klebrige Masse aus der Spitze des Stabes und verbreiterte sich auf ihrem Flug durch die Luft zu dicken, gewundenen Strängen, die sich zwischen den spitzen Felsnadeln unterhalb der Wand zu einem riesigen Spinnennetz zusammenfügten.

Der Körper, der ein paar Sekundenbruchteile später schwer aus gewaltiger Höhe darauf niederstürzte, ließ es zittern und beben, aber die magischen Stränge hielten.

Jarlaxle wischte sich den Schweiß von der Stirn, steckte den magischen Stab weg und stützte sich wieder auf seine Krücke, um sich gemächlich dem magischen Netz und seinem Inhalt zu nähern. Er hatte wenig Zweifel, was die Identität des Körpers anging. Der Söldner hatte den weiten grauen Umhang, dessen belastbarer Stoff allein offenbar den Menschen bis jetzt (länger als einen Tag, rechnete Jarlaxle) vor dem Sturz bewahrt hatte, sofort als den erkannt, mit dem Vierna Artemis Entreri für seinen Kampf gegen Drizzt Do'Urden ausgerüstet hatte. Natürlich war auch dieser Mantel magisch - er verlieh seinem Träger die Kraft zu fliegen, auch wenn diese Eigenschaft sich, wenn man sich das Ende des Meuchelmörders betrachtete, offenbar nicht unbedingt ausgezahlt hatte.

Jarlaxle erreichte endlich das Spinnennetz und fuhr schaudernd zurück, als er einen Blick auf das geworfen hatte, was darin lag.

Der schmale Körper des Menschen war auf grauenerregende Weise zugerichtet. Entreri sah aus, als sei er frontal und mehrmals mit voller Wucht gegen die Felswände geschleudert worden, und vermutlich kam dieser Eindruck der Wahrheit ziemlich nahe. Fetzen von Haut, Fleisch und blutverkrusteter Kleidung hingen in Streifen von Gliedern, an denen an mehreren Stellen die blanken Knochen zu sehen waren. Der gesamte Körper war so grotesk verkrümmt, daß Jarlaxle zu der Überzeugung kam, daß es darin keinen Knochen mehr geben konnte, der nicht gebrochen war. Am schlimmsten zugerichtet war das Gesicht des Mannes, das buchstäblich nicht mehr war als eine blutverkrustete, deformierte Masse, beide Wangenknochen zerschmettert, die Nase gebrochen und wie seitlich verschoben, die Augen unter dicken schwarzen Krusten und Schwellungen verschwunden.

Aber nichts erschreckte Jarlaxle so wie die Tatsache, daß sich dem halb offenstehenden Mund, dessen Lippen unter dicken Schichten Blut und Dreck verschwanden, in diesem Moment ein leises Stöhnen entrang.

Wäre da nicht sein verletztes Bein gewesen, wäre der Söldner vermutlich vor Überraschung zurückgesprungen. So zuckte er bloß zusammen, humpelte nach einer langen Schrecksekunde ein wenig näher an das Netz heran, langte über die vordersten der klebrigen Stränge hinweg und stupste den zerschmetterten Körper vorsichtig an.

Das Stöhnen wiederholte sich. Kein Zweifel, der Mensch lebte.

"Meine Hochachtung, rivvil", murmelte Jarlaxle. "Du bist zäh, das muß man dir lassen."

Jarlaxle dachte nach. Er hatte von Anfang an nicht so recht gewußt, was er von diesem dunkelhaarigen Menschen halten sollte, der Vierna von Lloth selbst als ein potentieller Verbündeter im Kampf gegen Drizzt Do'Urden genannt worden war. Prinzipiell neigte Jarlaxle eher dazu, allem zu mißtrauen, was direkt oder auch nur indirekt von der Spinnengöttin kam - Lloths Befehlen zu gehorchen war in einer Stadt wie Menzoberranzan zwar überlebensnotwendig, aber Jarlaxles Erfahrung nach war es häufig lukrativer, wenn man es schaffte, diese Befehle versehentlich zu überhören oder ein ganz klein wenig mißzuverstehen, ohne sich komplett zu widersetzen. Die Spinnenkönigin erwartete von ihren Gefolgsleuten kompromißlose Unterwerfung, und eine derartig untergeordnete Position konnte einem Mann des Handels - und als solchen verstand sich der Söldner - nicht gefallen. Und ein Mensch, der tatsächlich Gnade gefunden haben sollte vor der Göttin der Dunkelelfen, die alle anderen Rassen verachteten, mußte zunächst einmal Jarlaxles Mißtrauen erwecken.

Diese Haltung beruhte auf Gegenseitigkeit, wie Jarlaxle schnell feststellte, als er Artemis Entreri in seiner Zuflucht in Calimhafen aufsuchte. Auf Viernas Geheiß hin führte er die Verhandlungen mit dem Meuchelmörder selbst. Nun, er war zweifellos derjenige in Menzoberranzan, der die Sprache der Oberwelt am besten beherrschte und sich auch am besten mit ihren Gebräuchen und den Wesenszügen ihrer Bewohner auskannte. Jarlaxle stellte freilich ziemlich schnell fest, daß er im Fall von Artemis Entreri dabei nicht besonders viel umzudenken brauchte; der Mensch war mindestens so reizbar und mißtrauisch wie die meisten Drow. Es kostete den Dunkelelfen eine Menge Geduld und Vorsicht, überhaupt an den Menschen heranzukommen, zumal auf dem Terrain einer Stadt, die Jarlaxle fremd war, während Entreri hier jeden Fußbreit kannte. Mehrmals, während er den Meuchelmörder von weitem beobachtete, stand der Dunkelelf kurz vor der Entdeckung, und der Mensch, der sich der Verfolgung offenbar schnell bewußt wurde, stellte ihm Tag für Tag Falle um Falle, und in einige wäre Jarlaxle in der Tat fast hineingelaufen.

Am Ende kam Jarlaxle zu dem Schluß, daß es am besten wäre, die Verhandlungen mit dem Menschen aus einer Position der Stärke heraus zu führen: Jarlaxle auf der einen Seite des Tisches, Entreri auf der anderen, und rundum an den Wänden verteilt Dutzende von Armbrustschützen und Schwertkämpfern, die ihre Waffen auf den Mann gerichtet hielten. Diese Vorsicht zollte dem Mann jenen Respekt, den er anscheinend hier an der Oberfläche nicht zu Unrecht genoß, und ganz zufällig war es ohnehin die Art, in der Jarlaxle am liebsten seine Verhandlungen führte.

Der Meuchelmörder war zunächst alles andere als begeistert, als ihm klar wurde, daß es sich bei seinen Verfolgern um Dunkelelfen handelte. Sobald freilich der Name Drizzt Do'Urden gefallen war, war er wie elektrisiert. Er stellte Bedingungen und erhob Einwände, aber im Grunde genommen war Jarlaxle sich sicher, daß der Mann jeden Vorschlag akzeptiert hätte, wenn es ihm nur die Aussicht auf einen Schwertkampf gegen Drizzt Do'Urden eröffnete.

Eine seltsame Schwäche an einem sonst so berechnenden, beherrschten Menschen, dachte Jarlaxle. Leider hatte er nicht genügend Zeit, um in der Vorbereitungsphase des Zuges gegen Drizzt Do'Urden allzu lange über dessen Motive nachzudenken. Er bedauerte es, denn der Mensch und er schienen in ähnlichen Begriffen zu denken. Und Jarlaxle hatte schon immer ein ausgeprägtes Gespür für Leute gehabt, mit denen eine Zusammenarbeit sich lohnen würde.

Möglicherweise war diese Zusammenarbeit aber entgegen allen Erwartungen ja noch nicht beendet, dachte Jarlaxle. Denn auch wenn es wie ein Wunder schien - der völlig zerschlagene Klumpen aus Fleisch und Knochen, der auf den Namen Artemis Entreri hörte, atmete noch immer.

Der Dunkelelf war ehrlich beeindruckt.

Er zog einen langen Dolch aus dem Gürtel und begann vorsichtig, einige der dünneren Verstrebungen des Spinnennetzes durchzusäbeln, so daß er den Körper des Verletzten halbwegs sanft auf den Felsboden gleiten lassen konnte. Jarlaxle war mit seinem gebrochenen Bein natürlich nicht in der Lage, ihn sonderlich weit zu schleppen, aber irgendwie zerrte, schleifte und rollte er den Verstümmelten in einen nahen Felsspalt und richtete sich neben ihm für den Tag ein. Einen Moment lang befürchtete er, die rauhe Behandlung könnte dem Meuchelmörder endgültig den Garaus gemacht haben, aber letztlich war es Jarlaxle dann auch gleichgültig, ob Entreri nun in den Fäden des Spinnennetzes krepierte oder beim Herumwälzen auf dem Fels.

Und er hatte den Lebenswillen des halbtoten Mannes nicht unterschätzt. Entreri war nicht tot, als der Söldner sich schwer neben ihn auf den Felsboden sinken ließ, er war nicht einmal wirklich bewußtlos, wenn auch vor offensichtlicher Qual kaum wirklich bei Sinnen. Jarlaxle flößte ihm etwas Wasser ein und wünschte sich sehnlichst einen Heiltrank oder etwas Ähnliches, aber alles, was er bei sich hatte, war die schwächliche Kugel der Heilung, die er eigentlich dringend für sein eigenes Bein gebraucht hätte. Er zog sie hervor und betrachtete sie mürrisch. Der gebrochene Schenkelknochen stach und pochte wie wild, aber dem Söldner war klar, daß ohne magische Hilfe der Mensch keine Stunde mehr zu leben hatte.

"Ihr schuldet mir etwas", belehrte er den Verwundeten, als er anfing, die Kugel unter magischen Beschwörungsformeln über dem zerschundenen Körper hin und her zu bewegen, wobei er sich nicht die Mühe machte, die Oberflächensprache zu benutzen. Der Mensch hörte ihn in seinem Zustand vermutlich sowieso kaum. Eine wirkliche Besserung seines Zustands war durch die magische Behandlung ebenfalls nicht zu erkennen, allenfalls der flache Atem ging ein wenig kräftiger. Jarlaxle steckte die Kugel wieder weg und griff auf eher konventionelle Methoden zurück, indem er sich bemühte, etliche der schlimmsten Verletzungen mit Wasser zu säubern und die Wunden, die daraufhin prompt wieder zu bluten begannen, mit Fetzen des zerrissenen fliegenden Umhangs zu verbinden. Da er mit dem Verwundeten ohnehin nicht weiter konnte und ihm damit nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten, ob Freund oder Feind ihn hier als erste aufspüren würden, nahm er sich die Zeit, aus herumliegenden Ästen ein paar provisorische Schienen für sein gebrochenes Bein zu basteln. Sie anzulegen, schmerzte höllisch, und nach der Prozedur sank Jarlaxle vor Erschöpfung neben dem stöhnenden Meuchelmörder in halbe Bewußtlosigkeit.

Als er erwachte, war es bereits Nacht. Und es mußten seine feinen Sinne gewesen sein, die ihn geweckt hatten, denn im Licht des Mondes sah er undeutlich eine Gestalt vor seinem Versteck vorbeihuschen.

Eine Gestalt mit weiß schimmerndem Haar und im dunklen Piwafwi, die er kannte. Es war einer seiner Leutnants von der Bregan d'aerthe.

"Nesdolan", zischte er durch die Zähne. "Hier!" Der Drow, der ohne den Ruf offenbar tatsächlich an dem Felsspalt vorbeigelaufen wäre, fuhr herum, und ein breites Lächeln zeigte sich auf seinem schwarzen Gesicht.

"Jarlaxle." Er zwängte sich zu seinem Anführer in das Versteck, warf einen überraschten, ja erschrockenen Blick auf den halbtoten Menschen neben ihm und begann dann hastig, seine Finger in der Drow-Zeichensprache zu bewegen.

Wir suchen Euch schon seit drei Tagen, signalisierten die Hände. Wir hielten Euch für tot.

Die diesbezüglichen Gerüchte waren stark übertrieben, gab Jarlaxle mit einem Grinsen zurück. Wie sieht es draußen aus?

Die Baenre-Soldaten wollten nicht warten und bestanden darauf, sofort zurück nach Menzoberranzan zu marschieren. Wir mußten den Großteil unserer Truppen mit ihnen schicken.

Alle, von denen Baenre wußte, nehme ich an, begriff Jarlaxle rasch. Er war natürlich nicht so dumm gewesen, Vierna oder Triel über alle Krieger zu unterrichten, die von Seiten der Bregan d'aerthe an dem Unternehmen beteiligt gewesen waren. Jarlaxle behielt gern eine Trumpfkarte in der Hinterhand. Nesdolan lächelte verschmitzt.

Wir übrigen sind hier geblieben, um die Lage zu sondieren und nach Euch zu suchen. Könnt Ihr gehen?

Ich werde müssen. Mein Bein ist allerdings gebrochen, ich werde langsam sein. Ist der Weg sicher?

Der Krieger nickte und warf dann einen zweiten entsetzten Blick auf den verwundeten Menschen. Was ist mit dem dolbluth?

Ich habe ihn so gefunden. Wir nehmen ihn mit.

Wozu?

Falls wir einen Sündenbock brauchen, erläuterte Jarlaxle verschmitzt, und Nesdolan nickte verstehend.

Ein Opfer für die Oberin Baenre, falls sie eines fordert.

Jarlaxle lachte leise. Zwar nahm er nicht an, daß ein solches Opfer nötig sein würde (eine innere Stimme, die ihn selten trog, sagte ihm ganz im Gegenteil, daß die alte Baenre wahrscheinlich höchst erfreut sein würde über den Ausgang des Unternehmens), aber bei der Mutter Oberin des ersten Hauses konnte man nie wissen. Besser in jedem Fall, man hatte einen Dritten, auf den man die Verantwortung für das Scheitern der Mission und den glühenden Zorn einer wütenden Mutter Oberin abwälzen konnte.

Er ist mehr tot als lebendig, gab Nesdolan zu bedenken, als er einen dritten, diesmal längeren Blick auf den Menschen geworfen hatte, und Jarlaxle sah ihn schaudern. Ich kann kaum glauben, daß er noch lebt.

Zäh wie Drachenleder, stimmte Jarlaxle zu. Wir sollten zusehen, daß wir ihn lebend nach Menzoberranzan schaffen.

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Artemis Entreri erwachte von den halblauten Beschwörungsformeln eines Heilzaubers, die in einer fremden Sprache gemurmelt wurden, während etwas, das offenbar deutlich mehr als vier Beine besaß und ungefähr die Größe und das Gewicht einer Katze oder eines kleinen Hundes hatte, über seine Brust lief. Er öffnete die Lider und fand sich Auge in Auge mit einer gewaltigen Spinne.

Mit einem einzigen Ruck saß er aufrecht auf der Pritsche, den Rücken gegen die Felswand gestemmt, und stieß das ekelhafte Tier mit beiden Händen von sich auf den Boden. Es dauerte fast eine ganze Sekunde, ehe sein zerschundener Körper von dem Schmerz eingeholt wurde, den die abrupte Bewegung ausgelöst hatte, dann schlug dieser Schmerz allerdings wie eine Flutwelle über dem Verwundeten zusammen. Der Meuchelmörder sank zurück auf sein Lager und krümmte sich zusammen. Er konnte vor Pein nicht einmal schreien.

"Guten Morgen, mein Freund", hörte er am Rande seines Bewußtseins eine heitere Stimme, die ihm zwar bekannt vorkam, die er aber im Moment nicht wirklich zu plazieren vermochte. Er zwang sich, die Augen erneut zu öffnen, und die amüsierten Züge eines kahlköpfigen Dunkelelfen schoben sich in seinen Gesichtskreis. Jarlaxle hob die Spinne vom Boden auf und tätschelte dem Tier wie einem Schoßhündchen den haarigen Rücken.

"Willkommen in Menzoberranzan, Artemis Entreri."