1. Die Abreise

Ein wehmütiges Lächeln trat auf Edwards Gesicht, als er das letzte Mal seinen Blick über Esmes Insel gleiten ließ, die im Schein der untergehenden Sonne meiner Vorstellung des himmlischen Paradieses nicht unähnlich war. Ich wusste, dass mein eigener Gesichtsausdruck dem von Edward glich. Auch er bemerkte dies. „Wir können jederzeit wiederkommen", erinnerte er mich. „Das müssen wir. Ich habe hier die beste Zeit meines menschlichen Lebens verbracht."

Er lachte leise in sich hinein und steuerte das kleine Motorboot, auf dem wir saßen, von der Insel weg und in Richtung Rio de Janeiro. Während die Insel hinter uns immer kleiner wurde und die Sonne weiter im Meer versank, wurde mir bewusst, dass dieser Augenblick einer Metapher meines Lebens gleichkam. Ich ließ etwas zurück, etwas Warmes, Vertrautes und steuerte stattdessen einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Flitterwochen waren offiziell vorbei, wir befanden uns auf dem Weg zurück nach Forks. Dorthin, wo alles begann. Dorthin, wo auch mein neues Leben bald beginnen würde.

Auch wenn ich mir in den letzen Monaten einiges an Wissen über mein zukünftiges Vampir-Dasein angeeignet hatte und die Cullens mit meiner ständigen Fragerei auf die Nerven gegangen war (auch wenn sie allesamt behaupteten, dass es ihnen nichts ausmachte), so war ich mir immer noch nicht vollständig bewusst, was mich erwarten würde. Würde es wirklich so schwer werden, mich zu kontrollieren, wie Jasper es mir voraussagte? Wäre ich tatsächlich eine Gefahr für die Menschen in Forks? Nach meiner Verwandlung würde ich mit Edward weithinaus in die Wälder Washingtons laufen, vielleicht sogar bis nach Kanada, um in den abgelegenen Gegenden meinen Durst unter Kontrolle zu bekommen. Wir wussten noch nicht, wie viel Zeit wir dort verbringen mussten und ich sorgte mich ein bisschen um meine Eltern, besonders um Charlie. Ich wollte nicht, dass sie dachten, ich wäre tot.

Die meisten der Cullens waren sich einig, dass es das Beste wäre, meinen Eltern nach meiner Verwandlung mitzuteilen, dass ich gestorben war. Ein heimtückischer, exotischer Virus vielleicht. Oder ein Autounfall. Ein glatter Abschluss für alle Beteiligten. Doch Edward und Esme waren auf meiner Seite. Ich wollte lernen mich zu beherrschen und sie dann weiterhin besuchen, so lang es eben ging. Edward wusste, was der baldige Verlust meiner Eltern in mir anrichten würde. Er selbst hatte seine Eltern viel zu früh verloren. Ich wollte die kurze Zeit, die mir noch mit ihnen blieb nicht noch weiter verkürzen. Esme fand es schrecklich, meine Eltern mit dem Tod ihres Kindes zu konfrontieren, denn sie verstand nur zu gut, was das für ein Elternteil bedeutete. Für mich klangen diese Argumente nur allzu logisch, doch Jaspers Worte brachten meine Entscheidung kurzzeitig ins Wanken.

„Ich verstehe ja, dass es Bella schwer fallen wird, ihre Eltern nicht mehr sehen zu können und zu wissen, dass sie unter ihrem Verlust leiden, aber was glaubst du, wird mit ihr passieren, wenn sie sich nicht kontrollieren kann und ihre Eltern in einem unüberlegten Moment tötet", raunte er Edward eines Abends zu, als wir wiederholt die Diskussion über die Organisation meiner baldigen Verwandlung führten. Wir hatten es uns alle im riesigen Wohnzimmer der Cullens gemütlich gemacht, denn Alice wollte uns über die neusten Entwicklungen in Sachen Hochzeit informieren. Nachdem wir über die Farben der Zuckerguss-Rosen auf der Hochzeitstorte gesprochen hatten (Alice plädierte für pink, Esme bevorzugte lila und ich fragte mich, warum das so wichtig war, wo doch die Hälfte der Gäste eh keinen Kuchen essen würde), kamen wir jedoch schnell zu einem viel wichtigeren Thema.

Was sollten wir meinen Eltern und meinen Freunden erzählen, wenn die Flitterwochen vorbei waren und ich nicht wiederkam? Der Gedanke, dass ich für den Tod meiner Eltern verantwortlich sein könnte, ließ mir einen kalten Schauer über die Rücken laufen und ich zitterte. Edward warf mir einen mitleidigen Blick zu, danach wandte er sich an Jasper. „Sie wird sich unter Kontrolle haben. Wir werden erst wieder kommen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehnisses bei null liegt." „Aber das ist doch das Problem, Edward. Die Wahrscheinlichkeit wird nie bei null liegen." Dann blickte Jasper zu mir, seine topasfarbenen Augen musterten mich und ich musste schlucken.

Ich erinnerte mich nur allzu gut an den Vorfall an meinem achtzehnten Geburtstag. Obwohl Jasper schon einige Jahre „Vegetarier" war, war ich als Mensch in seiner Nähe trotzdem nie vollständig sicher. Ich vertraute ihm und auch den anderen, aber die Gefahr, die von ihnen ausging, konnte ich seit diesem Tag nie mehr ganz verdrängen. Ich versuchte, seinen Blick möglichst selbstsicher zu erwidern und sagte: „Ich werde das schaffen, das weiß ich. Ich bin vorbereitet und ich werde damit umgehen können." Jaspers rechte Augenbraue wanderte in die Höhe und er blickte mich höhnisch an. „Du weißt gar nichts. Du kannst noch so gut vorbereitet sein, aber wenn der Durst dich trifft, dann wirst du alles andere vergessen."

Auch wenn mir seine Aussage Angst machte, versuchte ich bei meinem Standpunkt zu bleiben und mich nicht verunsichern zu lassen. Schließlich konnte ich mir Edward und Carlisle als Vorbilder für meine zukünftige Kontrolliertheit nehmen. Jeder der Cullens konnte sich frei unter Menschen bewegen. Warum sollte ich das nicht auch können?

Ich wurde in meinen ernsten Überlegungen unterbrochen, als die Lichter von Rio de Janeiro am Horizont auftauchten. Scheinbar hatte ich die letzten Stunden mit meiner Grübelei verbracht und ein schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar. Schnell sah ich rüber zu Edward, um zu kontrollieren, ob er meine düsteren Gedanken erahnen konnte. Sein Gesichtsausdruck war ebenfalls ernst. Nachdenklich betrachtete er die näherkommenden Lichter der Millionenstadt. Ich ließ meinen Kopf auf seine steinharte Schulter sinken, drückte meine Nase an seinen Hals und atmete seinen berauschenden Duft ein. Nach all der Zeit war ich immer noch nicht immun gegen den betörenden Geruch seiner Haut.

„Das waren wirklich die schönsten Flitterwochen, die ich mir hätte vorstellen können", sagte ich leise. Ich wusste, dass er mich trotz des Windes, der uns um die Ohren brauste, trotz der Wellen, die gegen das Schiff prallten und trotz des aufheulenden Motors hören konnte. Schon bald würde ich ebenfalls alles hören können, doch jetzt war mein menschliches Gehör noch nicht stark genug ausgeprägt, sodass Edward gegen die laute Geräuschkulisse anschrie: „Sie kommt auf jeden Fall auf die Top-Ten-Liste meiner besten Flitterwochen." Er lachte laut, als ich ihm gespielt empört gegen den Oberarm boxte. Noch eine Sache, die sich bald ändern würde.

Wenn ich erst einmal eine Neugeborene war, würde ich mir keine blauen Flecken mehr holen, sollte es zwischen Edward und mir zu spielerischen Auseinandersetzungen kommen. Dann musste ich aufpassen, dass ich ihm nicht wehtat. Ein Bild, das sich in meinem Kopf noch nicht recht zusammenfügen wollte. Ich und Edward wehtun. Ich schüttelte den Kopf und kicherte leise. Jedoch nicht leise genug, denn Edward drehte den Kopf zu mir, grinste mich an und sagte: „Normalerweise würde ich jetzt sagen ‚Ich geb dir 10 Dollar, wenn du mir deine Gedanken verrätst', aber da du ja kein Geld von mir annehmen möchtest, werde ich wohl sagen ‚Du kriegst einen Kuss von mir, wenn du mir deine Gedanken verrätst'." „Also erstens brauchst du das sowieso zu niemandem sagen, denn du kannst schließlich die Gedanken von jedem anderen einfach so lesen."

Er lachte. „Und zweitens, Mr. Cullen, reicht mir ein Kuss zur Bestechung nicht mehr aus." Jetzt schmollte er und der Anblick seiner nach vorne geschobenen Unterlippe ließ mich beinahe dahin schmelzen. „Ach nein? Jetzt, wo du weit mehr von mir bekommen kannst, reicht dir ein einfacher Kuss nicht mehr? Früher hättest du alles für einen Kuss getan. Hab ich meine ganze Wirkung auf dich verloren?" „Welche Wirkung?"

Ich versuchte selbstsicher zu klingen, doch er witterte einen leichten Sieg. „Bella." Er beugte sich zu mir vor, sein Blick brannte sich in meinen. „Du solltest nach vorne gucken, sonst rammen wir mit dem Boot gleich noch einen Felsen." Ich versuchte, seinem Blick zu entkommen, doch dieser ließ mich nicht los. „Findest du mich gar nicht mehr begehrenswert?" Ich schluckte. „Ich will nur sagen, dass du mich nicht mit einem Kuss bestechen kannst. Meine Gedanken gehen dich schließlich nichts an. „Erzähl mir, was du gedacht hast. Bitte." Er kam immer näher, sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. „Nein." Ich schüttelte stur den Kopf, meine Augen blieben dabei jedoch weiter von seinen gefangen.

Ich konnte seinen eiskalten Atem auf meinen zitternden Lippen spüren. Verdammt, wann hatten sie damit angefangen? Schnell versuchte ich, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch er hatte es natürlich längst bemerkt. „Guck bitte nach vorne, wir fahren gleich gegen einen Felsen." Seine Lippen strichen über meine. Das Blut schoss mir in die Wangen. Mein Herz raste. Meine verräterischen Lippen zitterten wieder. „Lass ich dich wirklich so kalt, Bella?" Ich könnte aufgeben. Einfach aufgeben, meine Lippen auf seine pressen um ihm zeigen, dass seine Gegenwart mich alles andere als kalt ließ, obwohl er das sicherlich längst wusste. Stur wie ich war, zog ich mich jedoch ein Stück von ihm zurück und flüsterte: „Vielleicht gibt es da etwas anderes, mit dem du mich bestechen kannst."

Er zeigte mir sein schiefes Grinsen, das mich fast erneut schwach werden ließ und schaute dann nach vorne. Erst jetzt merkte ich, dass wir nun ganz nah am Hafen Rio de Janeiros waren und bald anlegen konnten. Edward warf mir einen kurzen Blick zu und gluckste dann: „Unser Flug geht in 20 Stunden, wenn die Sonne wieder untergegangen ist. Solange habe ich uns ein Hotelzimmer in der Nähe des Flughafens gebucht. Vielleicht komme ich dort auf dein Angebot zurück." Ich grinste. Es schien, als hätte ich diese Runde gewonnen.