1.
Mit einem leisen Seufzen und in Falten gelegter Stirn betrachtete ich die Box mit dem Trockeneis, die ich in den Armen hielt. Fünf Tiere hatte ich mit dem Gift behandelt, doch in dieser Box lagen jetzt nur vier.
Vier tote Mäuse und ein Junges. Ein lebendes Junges!
Wieder schnaubte ich leise. Eine mindestens genauso interessante wie unerfreuliche Beobachtung, doch die würde ich zunächst vor der Organisation geheim halten. Was scheinbar geschehen war, war rein logisch betrachtet unmöglich und ich war nicht gewillt, mich in absehbarer Zeit mit dem Problem zu befassen, Idioten, die keine Ahnung von Wissenschaft hatten etwas nahe zu bringen, das ich selbst nicht verstand.
Nein. Stattdessen würde ich jetzt erst einmal die wie gewünscht gestorbenen Versuchstiere untersuchen und hoffentlich keinerlei Giftrückstände nachweisen können – es war höchste Zeit, der Organisation gute Nachrichten zu liefern.
Unwillig schüttelte ich den Kopf, als ich langsam zum Ausgang des Tierstalles trottete und mich in der Schleuse von Mundschutz, Haube und Plastikkittel befreite. Abgabefristen! Eine Frechheit! Jeder, der schon einmal in einem Labor gestanden hatte, wusste, dass es so leicht nun einmal nicht war – man konnte nicht planen, wann ein Versuch funktionierte, wann einem der Durchbruch gelang. Man konnte nur hoffen und arbeiten. Doch das verstand von den Idioten in Schwarz natürlich niemand.
Meine Hoffnungen konzentrierten sich derzeit auf die Versuchsreihe, deren Opfer ich gerade in der Box in meinen Händen verstaut hatte. Vier tote Tiere. Die letzten zehn, denen ich das Apoptoxin injiziert hatte, waren wie gewünscht nach etwa einer halben Stunde gestorben. Und dieses Mal?
Ausgerechnet dieses Mal hatte ich nicht zugeschaut, als die Tiere verendet waren. Ich hatte die tödlichen Spritzen, diesmal mit etwas geringer konzentriertem Gift, gesetzt und mich dann einem anderen Käfig zugewandt, in dem eine Mutter ihren keine zwei Tage alten Wurf umsorgt hatte. Leben und Tod lagen wohl nirgends so nahe beieinander wie in einem Tierstall.
Dann hatte ich mich wieder umgewandt und da war es gewesen. Ein kleines, schwarzes Mäusejunges, das mich hilflos ob der vielen toten Artgenossen aus runden Knopfaugen angesehen hatte. Ich hatte es töten wollen. Doch ich konnte es nicht.
Egal! Es war egal, niemand musste je davon erfahren!
Nein, ich würde jetzt erst einmal die vier Mäuse untersuchen und dann konnte ich meinen Bericht fertig schreiben und mir mein Lob abholen. Das Apoptoxin... das Lebenswerk meiner Eltern... vollendet, perfektioniert, von mir. Ja.
Inzwischen hatte ich den Rückweg vom Tierstall, der im Keller lag, zu meinem Labor im 2. Stock fast hinter mich gebracht, doch als ich gerade um die letzte Ecke biegen wollte, hielt ich inne. Ich spürte Angst in mir aufsteigen. Zuerst konnte ich mir nicht recht erklären, weshalb, doch dann drang mir der Geruch in die Nase... erkalteter Zigarettenrauch, gepaart mit einem leichten Duft nach diesem Aftershafe, untermalt von dem unverkennbaren Geruch eines Mannes...
Gin.
Gin war hier und wollte Ergebnisse haben – nun, dem Himmel sei Dank würde ich ihm die ja auch liefern können. Dennoch... ich hatte Angst davor, ihm gegenüberzutreten, diesem erbarmungslosen Killer...
Ungeduldig rief ich mich selbst zur Ruhe: Ich hatte Ergebnisse, er konnte mir nichts tun!
Entschlossen atmete ich noch einmal tief durch, dann straffte ich mich und marschierte mutig zur Labortür, die einen Spalt offen stand.
Wie nicht anders zu erwarten, lungerte dort, zwischen Kühlschrank und Zentrifuge, ein schlanker Mann mit langem, blondem Haar, schwarzem Mantel und tief ins Gesicht gezogenem, ebenfalls schwarzem Hut.
„Du hast hier keinen Zutritt, Gin. Das Labor ist S2-Bereich, das ist gefährlich für Laien."
„Halt mir nicht schon wieder Vorträge. Ich war doch schon brav und hab vorher meine Zigarette ausgemacht."
Der Klang seiner Stimme war nicht so harsch wie die Wahl seiner Worte. Dennoch schnaubte ich verächtlich. Als dieser Vollpfosten zum ersten Mal hier aufgetaucht war, kurz nach meiner Rückkehr aus den USA, hatte er das Labor mit brennendem Glimmstängel betreten, dieser Riesenvollochse. Ein Labor, mit jeder Menge brennbarer Flüssigkeiten, oder noch schlimmer, explosiver Flüssigkeiten mit gewissem Hang zur Aerosol-Bildung! Nicht auszudenken, was hätte passieren können! Entsprechend entrüstet hatte ich ihn, nicht wissend, wen ich überhaupt vor mir hatte, zurechtgewiesen. Meinen Tonfall als scharf zu bezeichnen, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen – ich war außer mir und gewillt, diesen Idioten auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammenzufalten, doch es gelang mir nur zum Teil. Erst im Nachhinein hatte ich erfahren, mit wem ich es mir da verscherzt hatte, doch da war es schon lange zu spät gewesen.
„Schön. Ich sorge mich ja auch nur um dein Wohlergehen." Damit drückte ich mich hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei und stellte die Box mit dem Trockeneis ab.
Gin lachte leise.
„Wie nett von dir."
„Ja, nicht wahr? Und wenn du dich erkenntlich zeigen möchtest, lässt du mich jetzt in Ruhe meine Arbeit machen."
Ich zog frische Handschuhe an und desinfizierte die Sterilbank als wäre alles in bester Ordnung. Doch innerlich zitterte ich vor Angst. Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, so frech zu sein? Ich sollte dankbar sein, dass ich unsere erste Begegnung überlebt hatte...
„Du hast Mut, kleine Sherry, das ist beeindruckend."
Ich verbot es mir, erschrocken herumzufahren, tat, als hätte ich nicht gehört, was er gesagt hatte, nahm die Chemikalienflaschen aus dem Kühlschrank und desinfizierte sie sorgfältig, ehe ich sie unter die Sterilbank stellte. Seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen, studierten sie, analysierten sie. Mit jedem seiner Blicke schlug mein Herz ein wenig schneller.
Ich wollte sterben vor Angst. Nun, was den Sterbenswunsch anging, konnte mein blonder Besucher mir sicherlich behilflich sein...
Nicht ablenken lassen, Shiho!
Ihn mit völliger Nichtbeachtung strafend, desinfizierte ich zu guter Letzt meine behandschuhten Hände und ließ mich vor der Sterilbank nieder.
Mut? Nein, wahrscheinlich war es reine Dummheit oder überzogener Stolz oder beides, das mich dazu brachte, mich hier aufzuspielen, anstatt demütig vor Gin zu kriechen.
Missmutig stellte ich fest, dass meine Hände leicht zitterten, als ich eine Flasche sorgfältig abflammte, ehe ich den Deckel abschraubte.
Ich wollte ruhig weiterarbeiten, doch etwas ließ mich plötzlich innehalten. Der Geruch – diese unverwechselbare Geruch – wurde intensiver, umhüllte mich, ohne, dass ich mich zuvor dagegen hätte wappnen können.
Gin war lautlos hinter mich getreten.
„Was tust du da?", fragte er, scheinbar ehrlich interessiert.
„Ich mache verschiedene Untersuchungen mit den Nieren der Mäuse. In diesem Organ findet man normalerweise am ehesten Giftrückstände, aber selbstverständlich habe ich die übrigen Organe ebenfalls präpariert und eingefroren, sodass sich sie später auch untersuchen kann. Des Weiteren habe ich Blut-, Lymph- und Liquorproben entnommen."
Ich begann, ihm zu erklären, was ich wie herauszufinden gedachte, redete, erzählte von früheren Experimenten, von den Monaten, in denen ich mich nach meiner Rückkehr aus Amerika hier eingearbeitet hatte. Während all dieser Zeit sprach er kaum ein Wort, fragte nur hin und wieder nach, wenn er etwas nicht verstanden hatte und ich drehte mich kein einziges Mal zu ihm herum. Ich begann zu vergessen, dass es Gin war, der hinter mir stand, dass er ein skrupelloser Mörder war, dass ich Angst haben sollte. Ich begann sogar zu vergessen, dass ich eigentlich nicht so viel redete. Ich begann, mich zu entspannen...
