Der Karpatengraf

Die Geschichte des Hauses Krolock

Prolog

Wie ein feiner Schleier hing der Nebel über den halbzerfallenen Steinen des alten Friedhofes. Die blassen Strahlen des Vollmondes und die Schatten der vorbeiziehenden Wolkenfetzen verschwammen darin zu einem huschenden Tanz von silbrigem Licht und tiefer Finsternis. Kein Laut war zwischen den Gräbern zu hören, nur das Heulen des Windes, der aus den eisigen Höhen des Gebirges kam und von den ewig schneebedeckten Gipfeln eine Ahnung von Winter und Kälte in die Täler trug, obwohl der Frühling hier unten längst seine Herrschaft angetreten hatte; der Friede der Nacht lag wie ein dunkler Mantel über dem schweigenden Land.

Der Friede zerriß, als der schwache, vom Wind halb verwischte Klang einer Kirchturmglocke, die irgendwo in der Ferne zu schlagen anhob, die Stille durchbrach - einmal, zweimal... fünf-, sieben-, zehnmal...

Erst nach dem zwölften, sonderbar grellen Schlag verhallte das Geläut in einem Ton, der einem ersterbenden Wimmern glich.

Mitternacht.

Die Nebelschwaden gerieten in Bewegung, langsam wie ein träge fließendes Rinnsal; hier und da fing der bleiche Dunst an, sich zu sonderbaren Figuren zusammenzuziehen. Durchsichtige Schemen trieben durch die Dunkelheit und nahmen allmählich Umrisse an, Gesichtern ähnlich, die sich formten und wieder zerflossen, nur um sich erneut zu formen...

Ein Raunen und Wispern erfüllte die Luft, das zugleich aus den Wolken und aus der Tiefe der Erde zu dringen schien, so als würden tausend Stimmen durcheinander sprechen, die zu leise und schwach waren, als daß ein Mensch sie unterscheiden oder gar verstehen hätte können.

Einen freilich gab es, der die Stimmen verstand. Er war damit beschäftigt, sich durch den schweren, feuchten Lehm des Grabes, in dem er sich viele Tage lang vor dem Licht verborgen hatte, einen Weg zur Oberfläche zu bahnen, als das Gewisper an seine Ohren drang und ihn einen Augenblick innehalten ließ. Er zischte etwas, das wohl kein Segenswunsch war, zwischen den Zähnen hervor und fuhr dann fort, sich nach oben zu arbeiten.

Als hätten die Schemen die Bewegungen der Erdschollen wahrgenommen, begannen sie sich aneinanderzudrängen und sich über dem Grab zu einem fahlgrauen Knäuel zusammenzuballen; dort verharrten sie regungslos und warteten.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Bald zwängte sich eine dürre Hand mit Nägeln, die schwärzlichen Krallen glichen, ins Freie; eine zweite Hand folgte, und dann wühlte sich binnen Sekunden eine kleine, hagere Gestalt aus dem Boden, wischte sich den Dreck vom Gesicht und blieb keuchend auf der Einfassung des Grabes sitzen.

Neugierig kamen die Schatten näher; das Stimmengewirr verschmolz zu einem heiseren Chor. "Seht, er ist erwacht, erwacht, nach so langer Zeit, nach so vielen Nächten..."

Das Wesen kümmerte sich nicht um das Getuschel; es war damit beschäftigt, sich die Lehmkrumen aus dem zottigen Haar und den zerlumpten Kleidern zu schütteln. Die tiefliegenden, erloschenen Augen, die Klauen an den knochigen Fingern und der muffige Gestank nach Fäulnis und Verwesung, den es verströmte, machten es zum Abbild eines den Alpträumen ängstlicher Kinder entstiegenen Ungeheuers; die geisterhaften Fratzen jedoch zog es magisch an. Immer enger und dichter schloß sich ihr Reigen um das sonderbare Nachtgeschöpf, bis es endlich aufblickte und entdeckte, daß es eingekreist war.

Es stieß ein heiseres Fauchen aus, das ein Paar gelbe, gefährlich spitze Fangzähne freilegte, und fuchtelte mit den Händen, als wolle es Rauchschwaden zerteilen. "Bleibt mir vom Leib, Gesindel; zeigt euch oder verschwindet!"

Die Schatten wichen respektvoll zur Seite, doch in sicherer Entfernung von den Klauenfingern verharrten sie in einem dichten Ring, der das Wesen wie eine Nebelwand umgab; aus dem Raunen löste sich eine einzelne, krächzende Stimme. "Hast immer noch nicht gelernt, mit den Augen der Nacht zu sehen, Nosferatu..." Langsam formte sich wieder ein verschwommenes Gesicht, das verrunzelte, von tausend Furchen durchzogene Antlitz einer uralten Frau mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen.

Der Vampir grinste spöttisch. "Ich hätte mir denken können, daß du immer noch hier bist, alte Schleiereule!" Ein Kichern kam aus dem Dunkel. "Bin lange, lange vor dir schon hier gewesen, soll es lange noch sein, wenn du schon zu Staub zerfallen bist..." Das Kichern verstummte, während die Stimme fortfuhr: "Sind böse Zeiten für deinesgleichen, Nosferatu..."

"Das weiß ich selbst am besten, Hexe!" knurrte der Vampir zornig. "Was meinst du, warum ich monatelang nicht fähig gewesen bin, mich zu erheben? Ein Kreuz um jeden Hals und an jeder Tür, Pfähle und Weihwasser auf jedem Friedhof; selbst ihren Toten stecken sie Knoblauch in den Mund, damit wir uns nicht von ihnen nähren können..."

Entsetzt prallten die Schemen zurück. "Totes Blut, totes Blut", wimmerten sie warnend, "zieht dich zur Erde nieder, lähmt die Kraft der Finsternis... hüte dich, Nosferatu!"

"Mir blieb keine Wahl", versetzte der Vampir widerwillig, "es ist nicht mehr wie vor fünfzig Jahren; die Lebenden sind für meinesgleichen unerreichbar geworden. Früher, da war... he, was fällt euch ein?"

Während er gesprochen hatte, waren die Gespenster wieder nähergekommen; hier und da hatte sich etwas wie eine graue, dünne Hand aus dem Dunst gestreckt, und jetzt zupften diese Hände von allen Seiten an ihm.

"Bein und Blut", flüsterten die Stimmen sehnsüchtig, "Antlitz und Gestalt, nicht nur Schein und Trugbild..."

"Weg mit euch!" Zum zweiten Mal wichen die blassen Figuren den Krallen des Vampirs aus, aber auch das Kichern erklang von neuem. "Sind noch zu nah am Leben, die Kleinen; trauern dem Fleisch nach, wissen die Macht der Schatten nicht zu gebrauchen wie ich..."

"Die Macht der Schatten, pah!" Der Vampir zuckte verächtlich die Schultern. "Was seid ihr schon anderes als Nebel und durchsichtiges Gewimmel? Meine Brut war es, die einmal die Dunkelheit beherrschte..."

Das neidvolle Gemurmel wurde dumpfer. "Glücklich die unter dem Dunklen Himmel, denen der Leib auch im Tod noch gehorcht", wisperte es ringsum, "glücklich bist du, Nosferatu - doch sie, die einst über uns herrschten, waren nicht von deiner Art..."

Die Stimme der Alten lachte krächzend. "Dachtest, weil sie zu jung sind, würden sie deine Geschichten glauben, jämmerlicher kleiner Nachzehrer? Deinesgleichen war den Unsterblichen nicht ähnlicher als der Fuchs dem Wolf, damals, als der Fürst noch durch die Nacht ging..."

Der Vampir schüttelte den Kopf, unbeeindruckt von der Beleidigung. "Und doch waren es gute Zeiten... aber es gibt schon lange keinen Fürsten mehr."

Das schien die Nebelgeschöpfe zu irritieren. "Wir kennen einen Fürsten", raunte der geisterhafte Chor, "kennen einen, der sich Fürst nennen läßt... einen, der im Licht regiert und die Finsternis scheut, der bei Tag über das Land reitet und sich am Abend hinter Mauern verkriecht... vor dem die Sterblichen zittern, mehr, als sie je die Dunkelheit gefürchtet haben..."

Zugleich erhoben sich einzelne Seufzer gespenstisch über das Gewisper. "Stieß mir den Dolch in die Kehle..." "Nahm mir mein Weib und meine Tochter..." "Steckte mein Haus in Brand, und ich suche nun nach der Asche meiner Kinder..." "Ließ mich am Galgen hängen, unbegraben, gab mir keinen Platz, Ruhe zu finden..." "Zwang meine Söhne in den Krieg, kam keiner wieder..."

"Verflucht soll er sein!" Die Stimme des Vampirs bebte vor Zorn. "Dreimal verflucht für den Verrat am Erbe seiner Ahnen, er und seine ganze Sippe!"

Wieder ertönte das Kichern der Hexe. "Einer vom Alten Blut sollte deinen Fluch zu fürchten haben, Nosferatu? Kannst trotzdem ruhig sein, denn der Verräter wird verraten, die Nacht besiegt den Tag und der Tod das sterbliche Leben... saht ihr sie, meine Kleinen, vor dem Tor des Schlosses, als die Sonne sank, sie mit den hellen Augen, deren Schritten die Dunkelheit folgen wird?"

"Wir sahen sie... sahen sie", zischte es von allen Seiten, "sahen das Licht in ihrer Seele und den Schatten darüber... wehe dem Fürsten, der sich ein Sternenkind erwählt, wehe der Braut dessen, der der Finsternis die Treue gebrochen hat..."

"Schön ist sie und lieb und gut", hauchte eine einzelne Stimme, weich und zart wie die einer jungen Frau, "sang ihr ein Lied ins Ohr, sie zu warnen... verstand mich nicht..."

Der Vampir verzog das Gesicht. "Was ist denn mit der los?"

Die Alte lachte spöttisch. "Ertränkte ihr Neugeborenes, beweint es nun, da es auch sie ins Verderben stürzte... war zu schwach für das Gute, zu schwach für das Böse... solchen bleibt nichts als die Traurigkeit..."

"Konnte mich nicht verstehen, wollte mich nicht verstehen...", klagte die jugendliche Stimme weiter, "geht im Brautschmuck dem Verderben entgegen, reißt ihn mit sich, dem sie die Hand reicht..."

"Nicht so, Kinder, nicht so!" unterbrach die Alte die Verwünschungen der Schattenwesen. "Verschlungenere Wege wählt die Dunkelheit... dem Sohn des Fürsten ist sie versprochen, nicht dem Fürsten selbst..."

"Ah!" Der Vampir hob mit plötzlichem Interesse den Kopf. "Ihn habe ich oft beobachtet - er wandert allein durch die Wälder, Nacht für Nacht, doch ich durfte ihm nicht nahekommen, denn er fürchtet die Kreaturen der Finsternis nicht."

"Wuchs mit verbundenen Augen auf, weiß nichts von der Macht des Alten Blutes..." flüsterten die Schemen, "spürt sie durch seine Adern strömen, doch vermag sie nicht zu deuten..."

"Wird einer kommen, der ihm die Augen öffnet", kicherte die Alte, "schon bald, meine Kleinen, schon bald..."

Die Gespenster nahmen ihr Kichern auf und trugen es weiter; ringsum drang das dünne, höhnische Gelächter leise aus den Nebelschwaden. Der Vampir jedoch runzelte skeptisch die Stirn. "Willst du in die Zukunft sehen, Hexe?"

"Dein ist die Kraft des Fleisches, Nosferatu", antwortete sie gelassen, "mein eine andere... Vergangenheit, Zukunft, macht keinen Unterschied vor dem Blick der Ewigkeit. Der wahre Fürst hungert in seinem Gefängnis, doch der Sproß des dunklen Stammes wird der Stimme seines Blutes folgen..."

"Und dann?" fragte der Vampir gespannt.

Die Worte der Hexe verwoben sich zu einem geheimnisvollen Raunen. "Und dann, Nosferatu? Was wird aus dem alten Wolf, wenn der junge heranwächst, das Rudel zu führen?"

Erneut begann sie heiser zu lachen. "Doch noch muß manches geschehen... erst muß er den Himmel verspielen, dann wird er nach der Hölle suchen... Freut euch, Kinder, denn die Zeit ist nahe; wenn das Licht seines Lebens erlischt, wird die Dunkelheit wieder herrschen..."

Der Vampir bleckte die Zähne zu einem bösen Lächeln. Das Wispern der Schemen im Nebel schwoll zu einem dumpfen Fauchen an; tausendfach klang der düstere Fluch der verlorenen Seelen durch die Nacht: "Weh dir, kleines Licht, das sich dem Erben der Finsternis vermählt... sollst nicht leuchten in seinem Herzen, nur brennen, brennen..."