Mein Name ist Amber.
Ich bin 18 Jahre alt und wurde in Bristol geboren, wo meine Eltern ein indisches Handelsunternehmen führen- trotz dessen habe ich keine Ahnung von Indien und war noch nie dort, aber das ist mir auch egal. Ich würde England nie so schnell verlassen, denn ich liebe es. Der Regen und die grauen Wolken, wo ich so gerne einfach mal nur darauf liegen würde, um die Welt unter mir zu beobachten. Das war irgendwie schon immer mein größer Traum- auch wenn Vater immer gemeint hat, dass es nicht realistisch wäre und ich mich lieber darauf konzentrieren sollte, ein Unternehmen zu führen- irgendwann einmal. Oder besser gesagt: Jemanden zu finden, der das Unternehmen führen soll. Oh ja, ich wusste schon immer, dass mein Vater lieber einen Jungen gehabt hätte anstatt... naja, mich.
Ich meine... kommt schon! Ich war damals gerade einmal sechs Jahre alt und hatte Träume. Ich war ein kleines Kind, das die Welt blumig und toll fand. Bemerken, dass es nicht so war, würde ich sowieso schon noch früh genug - wie konnte er mir das damals denn nur so sagen?
Ich war tollpatschig und manchmal treudoof. Zu hilfsbereit, wie er meinte, außerdem. Warum? Naja, ich half immer in der Küche aus, denn ich liebte das Zubereiten von Essen. Die Küchenhilfen waren immer sehr nett zu mir gewesen und haben mir auch gleich geholfen, wenn ich außerhalb der Küche etwas angestellt hatte - nur, damit Vater es nicht mitbekommt. Nein, in seinen Augen war ich einfach nicht perfekt.
Der einzige Mensch außer den Angestellten, der eigentlich in dem Haus in Bristol zu mir gehalten hatte, war meine Mutter gewesen. Meine Mutter hatte schöne lange kastanienbraune Haare und wunderschöne blaue Augen. Ich habe sie oft gefragt, ob sie Vater sie aus einem Märchenbuch herausgelesen hat oder dergleichen. Daraufhin hat sie immer so hell und laut gelacht, dass alle um sie herum einfach nur selbst lächeln mussten und Glück, sowie auch Fröhlichkeit fühlten.
Aber Mutter lachte bald immer seltener, was vielleicht auch daran lag, dass ich selbst gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Sie ließ sofort einen Arzt kommen, der ein Lungenleiden diagnostizierte und mich aufs Land schickte. Ich hasste Ärzte, hasse sie immer noch. Sie, mit ihren langen bleichen Kitteln und den dummen Brillen, wollten einem nichts Gutes. Ich liebte Bristol über alles und hatte Freunde dort, die immer mit mir spielten! Ich wollte nicht weg- musste aber...
Mutter schrieb mir immer Briefe und sagte, dass Vater zu viel zu tun hätte und sie ihn deshalb nicht alleine in Bristol lassen könnte. Dabei wusste ich genau, dass er mich nicht sehen wollte. Ich war eben ein falsches Produkt. Ich hätte nicht existieren sollen. Wenn ich ein Junge geworden wäre, dann hätte er mich geliebt und immer besucht, da war ich mir ganz sicher.
Nein, mögen tat ich meinen Vater wirklich nicht. Ich hasse ihn eher dafür, dass er nie für mich da war und Mutter manchmal weh tat. Ja, ich habe sie als Kind oft streiten hören und dann hat sie geschrien... und danach geheult. Ich hasse Menschen, die meine lachende Mutter zum Weinen brachten.
Wenn sie aber gekommen wären, zu mir... dann wären sie vielleicht noch am Leben...

Meine Eltern starben als ich vierzehn Jahre alt war in einem großen Feuer. Die Polizei vermutet, dass mein Vater das Feuer selbst gelegt hat, weil das Unternehmen pleite ging. Ich wusste nicht, dass wir rote Zahlen schrieben, hatte keine Ahnung, dass mein Vater sich die ganze Zeit abgeschuftet hatte, damit es uns weiter gut ging. Aber dieser Gedanke machte nicht wett, was er mir als kleines Kind auf die schmerzlichste Weise gesagt hatte:
Einmal über den Wolken schweben, nach den Sternen greifen und das Unmöglich möglich machen. Nicht an den Boden gefesselt zu sein, sondern in weite Höhen steigen zu können... fliegen zu können. An das Unmenschliche zu glauben, wie in einem Traum, in dem man alles machen konnte.
Er hatte gesagt es war Schwachsinn. Ich hatte nichts dagegen, wenn man es einem Kind sagte, aber doch nicht, wenn es die Welt noch schön empfand, das Leid nicht kannte- davon hatte doch jeder genug in seinem späteren Leben...
Leid...

„Amber."
Ich blickte auf und sah zu meiner Begleitung, einer Frau mittleren Alters. Meine Nanny, wenn man so wollte. Sie hatte mich auf den Landsitz meines Vaters damals begleitet und war diejenige gewesen, die immer für mich da war. Emma war ihr Name. Emma war der Name, den ich immer rufen konnte, wenn etwas war.

„Ja, Tante Emma?"

Obgleich sie nicht meine Tante war, so nannte ich sie so. Ich wusste, dass sie das nicht mochte, da es nicht der Etikette entsprach, die sie mich die vergangenen Jahre gelehrt hatte, aber trotzdem tat ich es. Ich mochte ihren Gesichtsausdruck wenn sie die Stirn runzelte und mich dann beanstandete. Das erinnerte mich an meine Mutter. Sie hatte auch immer die Augenbrauen gekräuselt und den gleichen Gesichtsausdruck gehabt. Ja, Tante Emma erinnerte mich sehr an sie.
Sie strich ihr graues, aber dennoch feines, Kleid ab und rückte ihre Brille zurecht- ich mochte eigentlich keine Brillen, aber an Tante Emmas hatte ich mich schon lange gewöhnt. Sie stand ihr irgendwie, ließ sie aber auch strenger wirken. Irgendwie fühlte ich mich bei ihr einfach sicher.

„...und du bist schon wieder ganz bleich. Hast du heute früh denn nichts gegessen? Hast du deine Medizin genommen?"
Die vorangegangenen Sätze des Tadel hatte ich mit Absicht überhört und blickte sie nun direkt an. Die Landschaft strich draußen an uns vorbei, wie ein Film. Es fiel mir schwer, mich auf Fragen zu konzentrieren. Immerzu wich ich ihnen aus und das verärgerte Tante Emma nur noch mehr. Ihrer Ansicht nach war es nicht schicklich- wie so vieles, das ich tat. In meiner Kindheit konnte ich nie frei sein, aber auf dem Landhaus hatte ich Geschichten über Einhörner und Prinzen schreiben können... in weiß gekleidete Prinzen, die die Wand des Hauses hochkletterten und mich aus meinem Zimmer befreiten.
„Ich habe das gegessen, was du mir heute früh hingestellt hast und dazu auch meine Medizin genommen." Ich lächelte sie aufrichtig an und sie strich mir mit ihrer Hand über die Meine: „Gutes Kind", sagte sie.
Meine Medizin musste ich zu jedem Frühstück nehmen. Meiner Lunge ging es zwar besser, aber so richtig überanstrengen durfte ich mich nie. Ich konnte keine schweren Sachen tragen oder Arbeit verrichten. Ich konnte nicht herumtollen so wie früher. Das einzige, was mir geblieben war, waren meine Geschichten, die ich immer schrieb. Mit großer Leidenschaft.
Der Arzt sagte, dass ich nie wieder ganz gesund werden würde und für immer dieses körperliche Leiden hatte. Meine Lunge war von Geburt an schwach – dabei war ich als Kind so aufgeweckt gewesen und war immer durch das Haus gerannt, hatte aus Versehen Dinge kaputt gemacht. Naja, nun war ich anders. Ruhig. Bedacht. Innerlich war ich immer noch das kleine lebendige Mädchen- aber was sollte ich tun, wenn mein Körper nicht wollte? Der Geist war willig, doch das Fleisch... war einfach zu krank, nicht wahr...?

Ich straffte mein beiges Kleid ruhig, als wir in das große Tor einfuhren. Mittlerweile war es Nachmittag, doch die Sonne strahlte immer noch auf uns hinab – es war nicht selten, dass es um diese Uhrzeit bereits regnete. Aber heute war anscheinend ein besonderer Tag – nicht nur für mich, sondern auch für das Wetter.

„Du hast eine Einladung bekommen", hatte Tante Emma vor einer Woche gesagt. Ich weiß noch genau, wie überrascht ich war. „Eine Einladung?", hatte ich sie gefragt, doch sie übergab mir anstatt zu antworten mit einem warmen Lächeln ein feines Stück Papier, das nach Pfefferminz duftete. Ich liebte den Geruch nach Pfefferminz – entweder jemand kannte mich gut oder es war einfach nur Zufall. Ich besann mich auf Letzteres, denn als ich auf den Landsitz kam, hatte ich jeglichen Kontakt abbrechen und mich meiner Genesung 'widmen' müssen.

„Ein Ball?" Ich blickte Tante Emma, die nur nickte. Ich war noch nie auf einem Ball gewesen, konnte nicht einmal richtig tanzen. Aber wieso wurde ich überhaupt eingeladen? Ich war unbedeutend und hatte nicht einmal einen Brief oder dergleichen bekommen – mit Ausnahme denen meiner Eltern.
Aber es war ein Ball und irgendwie mochte ich das Tanzen - auch, wenn ich nicht wirklich gut darin war. Tante Emma hatte immer gesagt, dass es auf den Ausdruck ankommt und nicht auf das Können. Die meisten Leute achteten immer auf das Aussehen und den Ausdruck.
„Siehst du schön aus und hast ein Lächeln im Gesicht, lächeln sie zurück.", hatte sie mir immer wieder in den Tanzstunden gesagt...

„Willkommen in der Villa Phantomhive. Ich bin Graf Ciel Phantomhive und heiße sie herzlich willkommen."
Ich blickte aus der Kutsche und entdeckte einen Jungen, der gerade die Hand einer älteren Dame anhauchte, wie es der Etikette entsprach. War das der Graf?
„Amber!" Ich hörte das Zischen von Tante Emma, die mich tadelnd ansah und zurück in den Wagen zog. „Bitte denk an das, was ich dir beigebracht habe." Ihre Stimme war ruhig, doch eindringlich, sodass ich nur stumm nickte und ihr kurz darauf noch einmal leise versicherte, dass das nicht noch einmal vorkommen würde. Es war unschicklich, dass eine junge Dame sich aus dem Fenster der Kutsche lehnt und die Leute regelrecht anstarrt – hoffentlich hatte das niemand gesehen...
Nun ein wenig nervös, straffte ich das beige Kleid erneut zurecht und blickte dann Tante Emma mit einem fragenden Blick an, die mir die Hand erneut auflegte und mich aufmunternd ansah. Sie war so nett zu mir und einfach immer für mich da. Ich liebte sie in einer gewissen Hinsicht dafür – natürlich nicht die Liebe, welche man in eine Nische mit dem Heiraten schob, aber eine familiäre, verwandtschaftliche Liebe. Sie war diejenige, die mir immer aushalf und mir auch alles beigebracht hatte, was eine junge Adelige zu wissen hatte.
Die Kutsche hielt.

Tante Emma stieg zuerst aus, um mir danach zu helfen. Das hat sie schon gemacht, so lange ich denken konnte. Ich liebte sie auch für ihre Fürsorge, denn sie hatte Angst, dass ich nach längeren Fahrten beim Aussteigen schwächeln könnte. Immerhin war ich nicht gesund und in der letzten Zeit hatte ich unter anderem auch durch eine Krippe bedingt im Bett gelegen. Ich hasse es krank zu sein- dann konnte ich nicht einmal mehr schreiben, sondern war in mein Bett gefesselt...
Langsam erhob ich mich also, während die Tür von unserem Kutscher – wie immer offen gehalten wurde. Ebenso mäßig stieg ich die Treppen hinab, während Tante Emma sogleich den Grafen auf Verständnis für meine Gesundheit hinwies, weshalb sie sich beim Aussteigen so gesputet hatte, um mir dann zu helfen. Es kam nicht gut, wenn man sich so sehr beeilte – im Gegenteil. Es erweckte einen völlig falschen Eindruck und Tante Emma wollte immer alles stets beim Rechten wissen. So also auch dieses Mal.

Allerdings kam Tante Emma dieses Mal auch ein wenig zu spät, da ich so nervös war und praktisch neben die Treppen der Kutsche trat – was mir sonst wirklich nie passierte. Ich presste die Augenlider aufeinander, als ich merkte, dass es langsam abwärts ging und fragte mich, wie ich wohl aussehen würde, nachdem das doch recht helle Kleid, welches Tante Emma extra für heute Abend gekauft hatte, im Dreck gelegen hatte.
Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hatten mich sanft und kaum spürbar zwei Hände gepackt: Eine ergriff meine Hand, welche mit ebenfalls beigen – meine Haut an sich war weiß genug – Handschuh, de bis zum Ellbogen ging, bedeckt war. Die andere hatte sich vorsichtig um meine Hüfte gelegt und verhinderte, dass ich stürzte und stattdessen mit beiden Füßen wohlbehalten auf dem Boden landete. Erst jetzt bemerkte ich, dass es sich nicht um unseren Kutscher gehandelt hatte, sondern um einen hochgewachsenen schwarzhaarigen Mann.
„My Lady." Ich blickte ihn unverwandt an, bis mir einfiel, dass es unschicklich war, einen Bediensteten anzuschauen und nicht den Grafen.
„Ich... Entschuldigen Sie, Graf Phantomhive." Die Hände hatten sich schon längst von meiner Hüfte und meiner Hand gelöst, sodass ich unbeschwert einen Knicks machen konnte. Meine Wangen waren leicht rot auf Grund der peinlichen Lage, in die ich mich bereits mit meinem ersten Schritt manövriert hatte.
Der Graf lächelte jedoch nur. „Mein Name ist Ciel Phantomhive. Willkommen in der Villa Phantomhive, Miss Brown."
Dann wandte er sich an den großgewachsenen Mann, der mir gerade noch geholfen hatte: „Sebastian, kümmere dich bitte um die eben eingetroffenen Gäste."
Tante Emma trat neben mich und sah mich erneut tadelnd an. Ich senkte nur den Kopf, da ich mich einfach nur schämte. Bei meiner allerersten Einladung, hatte ich mir so ein Missgeschick geleistet. Aus dem Augenwinkel sah ich die anderen Gäste, die der Graf sogleich persönlich begleitete – offenbar waren es sehr wichtige Persönlichkeiten. Ich glaubte sogar jemanden aus der Zeitung wieder zu erkennen...
„My Lady. Mein Name ist Sebastian Michaelis. Ich bin der Butler dieses Hauses und werde Sie nun auf ihr Zimmer bringen." Er verbeugte sich kurz schicklich und richtete sich dann wieder auf. Sein Gesicht war fein und zeigte ein Lächeln - wobei es mich schon ein wenig an einen Fuchs erinnerte. Er gab unserem Kutscher ein Zeichen. „Um das Gepäck werde ich mich dann natürlich ebenfalls kümmern." Ich nickte nur, während Tante Emma sich bedankte und ich mich bei ihr schließlich einhakte, wie ich es immer tat.
Allgemein mochte ich dieses Einhaken eigentlich nicht, denn dadurch sah ich aus wie eine zerbrechliche Porzellanschale. Der Butler ging voraus, während wir in die Villa eintraten, in welcher der Graf anscheinend die anderen Gäste bereits in ein Besprechungszimmer geführt hatte.
Irgendwie war es aber nicht die große Villa, sondern der Butler, der etwas Geheimnisvolles an sich zu haben schien – nur fragte ich mich was es war. Mein Blick glitt zu Boden, als er kurz über die Schulter sah – anscheinend wohl wissend, dass ich ihn beobachtete. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie er lächelte und uns dann den Weg auf das Zimmer wies.

„Ich muss sie leider in einem anderen Zimmer unterbringen, als die junge Herrin. Ich hoffe, sie verstehen das." Tante Emma nickte und machte einen Knicks, als sie sich verabschiedete und ich nun alleine den Gang mit dem Butler weiterlief.
Ich war froh, dass mein Gästezimmer nur ein paar Schritte weiter lag und wir nicht zu weit voneinander getrennt waren.
Als der Butler die Tür aufmachte, erstreckte sich ein großer, schöner Raum vor meinen Augen mit purpurnen Vorhängen. Der Boden war mit einem hellen Teppich auf dunklem Parkett belegt und die Schränke waren aus Kirschbaum. Das Bett selbst war ein Himmelbett – wunderschön, geschmeidig und groß. Im Gegensatz zu dem Wohnraum des Landhauses, in dem ich die vergangenen Jahre verbracht hatte, war dies wirklich der Himmel.
„My Lady. Ich muss sie darauf hinweisen, dass der Ball auf den morgigen Abend verschoben wurde, da ein Gast mit Verspätung eintreffen wird. Ich hoffe sie verstehen das." Seine Stimme war ruhig und bedacht. Ich mochte sie irgendwie, nickte aber dann rasch, um mir meine Gedanken unter Umständen nicht anmerken zu lassen.
„Falls sie etwas brauchen, so rufen sie mich gerne. Ich werde ihrer Bediensteten bezüglich des Essens Bescheid geben." Wieder folgte eine Verbeugung und er machte sich daran den großen Raum zu verlassen. Ich biss mir auf die Lippen und dachte wieder an mein Missgeschick, welches er erfolgreich zu verhindern wusste. Wenn er nicht so schnell reagiert hätte, dann wäre mein Kleid wohl nicht mehr so rein, wie es nun war.
„S-Sebastian?" Hatte ich mir seinen Namen richtig gemerkt? Namen konnte ich mir nie gut merken, weshalb ich immer vorsichtig war. Da er jedoch stehen blieb und mich mich mit einem „My Lady?" fragte, was ich noch wünschte, schien ich mich richtig erinnert zu haben.
„Ich wollte Ihnen nur noch einmal danken... Dass sie mich vor dem Fallen bewahrt haben.", erklärte ich, doch er lächelte einfach. „My Lady, was wäre ich für ein Butler, wenn ich das nicht hätte tun können? Es ist nur normal für einen Butler des Hauses Phantomhive, dies zu tun."
Die Tür wurde mit einem Lächeln und einem Wunsch, dass ich mich hoffentlich bald und möglichst gut von der sicherlich schweren Reise erholen würde, geschlossen.

Und so hatte das alles hier begonnen...