Neon Genesis Evangelion – FanFiction
Retelling a Story II
- Darkest Hour -
(Abzweigung 6.0)
von Ulrich-Alexander Schmidt
Fassung vom 08.02.2012
Legal Boilerplate:
NGE und die Charaktere sind Eigentum von GAINAX, etc. pp.
Sämtliche Fehler in der Charakterisierung sind ganz allein mir selbst zuzurechnen. Die Veränderung einzelner Charaktere in ihrer Motivation und/oder ihres Hintergrundes und ihrer darauf begründeten Handlungsweise ist beabsichtigt.
Diese FanFiction enthält:
Spoiler, endlose langweilige Dialoge, Warm and Fuzzy Feelings, Asuka in Bestform, Sex, Drogen und sinnlose Gewalt
- Ihr wurdet gewarnt -
Ach ja, dies ist die FSK 16 - Version.
Nein, es gibt keine anderen Versionen mit anderen Empfehlungen.
Alle Figuren, die nicht Eigentum von GAINAX sind, sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder sonstigen Personen ist unbeabsichtigt und daher rein zufällig.
Mich verklagen zu wollen, würde nichts bringen, schließlich habe ich kein Geld…
Zu riesigen Problemen essen Sie bitte die Packungsbeilage und fragen Sie den Arzt Ihres Apothekers.
Retelling a Story II – Darkest Hourt ist die Fortsetzung meiner Erzählung Retelling a Story aus dem Jahr 2002 und baut auf den Geschehnissen des alternativen Finales Nummer 2 auf.
Einleitung:
Was zuletzt geschah:
Die Schlacht um NERV ist geschlagen. Die UN-Organisation hat unter schweren Opfern und Verlusten standgehalten. Kommandant Gendo Ikari ist gefallen, offiziell während des Abwehrkampfes gegen einen Engel. Shinji Ikari (Codename Third Child), Pilot von EVANGELION-01, liegt ebenso im Koma wie Rei Ayanami (Codename First Child). Asuka Soryu Langley (Codename Second Child) wurde während der Kampfhandlung aufgrund einer zu hohen Synchronverbindung von EVANGELION-Einheit-02 assimiliert.
Nach dem Eintreffen von Verstärkung und der Niederschlagung des Armeeputsches durch regierungstreue Einheiten kann NERV unter der Leitung von Subkommandant Kozo Fuyutsuki und Colonel Misato Katsuragi damit beginnen, seine Verluste zu zählen und die Toten zu begraben…
Der einzige funktionsfähige EVANGELION ist die Hybrid-Einheit-03/04 (Codename GREMLIN) mit seinem Piloten Kaworu Nagisa (Codename Fifth Child), die einzige weitere zur Verfügung stehende Pilotin ist die Reservistin Hikari Horaki (Codename Fourth Child).
Vorwort des Autors
Ich bin verrückt. Ganz klar - ich kann nur wahnsinnig sein. Nicht nur, dass ich RaS mit einem alternativen Ende versehen habe, jetzt baue ich auf diesem Ende auch noch eine Fortsetzung auf. Und die ersten 100 Seiten habe ich schon zusammen. Des Wahnsinns helle Beute... - irgendwie hatte ich anderes in meinen Weihnachtsferien vor...
Der erste Block, "Das Haus im Nebel", ist ein Chekov-Kapitel. Nein, es hat nichts mit Pavel Chekov von der Enterprise zu tun. Vielmehr beziehe ich mich auf den russischen Stückeschreiber und Theatertheoretiker Anton Chekov. Auf Chekov geht das Konzept von Chekovs Pistole zurück - wenn eine Pistole später im Stück eine Rolle spielt, muss sie zu Anfang kurz dem Publikum irgendwie präsentiert werden, damit ein Aha-Effekt eintreten kann - umgekehrt verlangt Chekov, dass nur dann die Waffe präsentiert wird, wenn sie auch später einen Zweck gefüllt. Ich mache oft von Chekovs Waffe Gebrauch, um Ereignisse voranzukündigen. Zugleich ist der erste Block auch ein Übergangskapitel, in dem ich anhand ein paar Beispielen auf die Auswirkungen des Second Impacts und nun des Überfalles auf NERV auf die Akteure eingehe. Verschiedene Charaktere haben die Handlung verlassen, andere sind dazu gekommen - und jeder schreit nach Aufmerksamkeit – mal sehen, wie es um Jörg Peters Lebenserwartung bestellt ist…
Wahnsinnig, kein Zweifel...
Prolog:
Ein älterer Mann mit schütterem weißem Haar steht an einem Panoramafenster und blickt in den Himmel. Über ihm, inmitten sternengefluteter Schwärze, hängt eine große blaue Scheibe, über die langsam und träge weiße Flecken wandern.
Als er das Zischen des Türschotts vernimmt, dreht er langsam den Kopf.
Die Horde der Kinder ist noch nicht vollständig im Raum, als das sie anführende Mädchen bereits laut ruft: „Großvater, erzähl uns eine Geschichte!"
„Eine Geschichte?"
Er hebt die Augenbrauen.
„Dann muss ich wohl das Märchenbuch holen, Akane. Was möchtet ihr denn hören?"
„Nein, nein, kein Märchen!" ruft ein schwarzhaariger Junge. „Eine echte Geschichte, bitte!"
„Ja! Eine wahre Geschichte!"
Zwei andere Kinder schieben bereits den bequemen Sessel mit der Schaukelstuhlfunktion vor das Fenster, während Akane die Sitzkissen über den Boden im Halbkreis verteilt. Insgesamt sind es sieben Kinder zwischen fünf und neun Jahren.
Die Zahl sieben allein spricht bereits etwas in ihm an und kurz verspürt er tiefe Traurigkeit.
„So, eine wahre Geschichte also."
„Genau, Großvater! Aus der Zeit, als du selbst ein Kind warst."
Er schüttelt den Kopf.
„Als ich so alt war wie ihr, habe ich Dinge erlebt, für die ihr noch nicht alt genug seid."
„Du meinst den Second Impact?" fragt Akane, die älteste der Horde.
Er nickt.
„Was ist ein Second Impact?" stottert eines der jüngeren Kinder.
„Nichts Gutes."
Der alte Mann lächelt traurig.
„Wenn ich euch davon erzähle, könnt ihr hinterher nicht mehr schlafen. Und dann bekomme ich Ärger mit euren Eltern und eurer Großmutter. Das wollt ihr doch nicht, oder?"
„Nein!" rufen sie im Chor.
„Und danach? Nach dem Second Impact?"
Wieder schüttelt er den Kopf.
„Erzähl uns, wie du Großmutter kennengelernt hast!"
„Ja, bitte!"
Er seufzt, überlegt, wie er aus der Lage wieder herauskommen soll, kapituliert schließlich und setzt sich in den Sessel. Die Kinder nehmen um ihn herum Platz und blicken ihn fragend-neugierig mit großen Augen an, während er sich eine kindgerechte Fassung der Ereignisse zurechtlegt.
Zum Glück müssen wir diese Zurückhaltung nicht wahren…
*** NGE ***
Erde/Japan/Tokio-3/Geofront/NERV-Hauptquartier/TerminalDogma/jenseits der Himmelspforte – vor 4 Wochen
Aus den Wänden und der Decke jagen Energiestrahlen auf ADAM herab, rotglühende Laserstrahlen des Sicherheitsnetzes zur Kontrolle LILLITHs.
Der erste Strahl traf ADAMs Wirtskörper, schnitt mit der Kraft einer kleinen Sonne durch das geschwächte AT-Feld des Dunklen Engels, trennte die Monsterhand direkt am Gelenk ab.
ADAM brüllte auf, das Brüllen wurde zu einem hohen Kreischen, als sein eigentlicher Körper von Ikaris Leib abgetrennt wurde.
Immer mehr Laser wurden aktiv, bildeten ein engmaschiges Gitter, in dem die Hand verbrannte, noch ehe sie den Boden der Höhle berührte. Da raste schon der nächste Energiestrahl heran, erwischte ihn an der Schulter. Ein weiterer säbelte eine Scheibe des immer noch ausgestreckten Armes ab...
Ritsuko Akagi beobachtete, wie die Verteidigungssysteme der Höhle Gendo Ikari nach und nach zerschnitten, sah, wie millimeterdicke Scheiben seines Armes abgetrennt wurden, zu Boden fielen und dort verbrannten, sah die Pein in seinen Augen, bis schließlich ein dicker Laserstrahl seinen Kopf in zwei saubere Hälften teilte und seinem Leben – und damit der Existenz des Engels ADAM - endgültig ein Ende setzte.
Niemand jedoch bemerkte den dicken Blutspritzer, welcher der Außenseite einer der MAGI-Einheiten gelandet war, und eine bläuliche Schliere hinterlassend an der Metallverkleidung herablief, um unter dem Rechner zu verschwinden…
Teil 1
夢
(Traum)
Dezember 2016
Das Haus im Nebel
(Asuka's Decision)
Vorspann: Cruel Angel's Thesis Director's Edit Version
„Die Wissenschaft machte uns zu Göttern,
ehe wir es wert waren, uns Menschen nennen zu dürfen."
- Professor Doktor Ritsuko Akagi, Stockholm, 10.12.2019 -
Kapitel 01 - Die Schläfer von Tokio-3
Das Haus stand mitten im Nichts.
Im Herzen eines wallenden Nebels, durch den vielfarbige Blitze zuckten, schwebte ein großer Gesteinsbrocken mit nahezu flacher Oberfläche. Auf dem Felsen stand das Haus, ein gemütlich wirkendes, einstöckiges Einfamilienhaus. Im Vorgarten wuchs saftig-grünes Gras. Ein hüfthoher Zaun mit einem Tor schloss den Vorgarten ein und endet zu beiden Seiten am Haus. Hinter dem Haus befand sich ein gepflasterter Hof ohne solche Begrenzungen. Die Fassade des Hauses war rot angestrichen, an den Fenstern hingen Gardinen. Durch das Fenster neben der Haustür konnte man drinnen Licht und Bewegungen erkennen…
Asuka Soryu Langley saß auf dem bequemen Sofa im Wohnzimmer ihrer Pateneltern, die Füße auf einen stoffüberzogenen Hocker hochgelegt, und sah fern. Sie hatte die in weißen Söckchen und Häschenpantoffeln steckenden Füße übereinandergeschlagen, trug einen orangen Pyjama und darüber einen grauen Bademantel. In einer Hand hielt sie die Fernbedienung, während die andere in der Nähe einer Schüssel mit Keksen schwebte, immer wieder einmal einen der runden oder sternförmigen Kekse griff und zum Mund führte. Sie kaute genussvoll, spülte dann und wann mit einem Schluck Milch nach.
Ja, das war ein Leben…!
Gerade schaltete sie von einer dieser ewigen zu einer Komödie um, verharrte dort kurz, ehe sie weiterschaltete. Da klingelte es an der Tür.
Sie zuckte zusammen.
Es klingelte erneut.
„Nein, nein, nein…" flüsterte sie hektisch, schaltete den Fernseher ab und zog den Kopf ein, damit man sie bloß nicht sehen konnte, sollte jemand von draußen durch das Fenster hineinblicken.
Sie wollten sie holen…
Vorsichtig schob sie den Kopf wieder etwas höher, linste aus dem Fenster, sah verzerrte Gestalten im Nebel, die ebenso rasch wieder verwehten, wie sie entstanden.
„Asuka, wer ist es denn?" hörte sie die dunkle Stimme ihres Onkels aus dem ersten Stock durchs Treppenhaus dringen.
Immer noch geduckt huschte sie zur Wohnzimmertür.
„Sicher nur wieder ein Vertreter."
„Ah."
Sie hörte seine schweren Schritte im ersten Stock, konnte sich direkt vorstellen, wie er zum Fenster seines Arbeitszimmers ging und es öffnete.
„He! Runter von meinem Rasen!" schallte es durch das Haus.
Asuka lächelte. Ihr Onkel würde nicht zulassen, dass sie sie holten, nicht noch einmal…
Sie richtete sich auf und kehrte zu ihrem Platz auf dem Sofa zurück, steckte sich einen Keks – einen sternförmigen Keks mit Schokoladenstreuseln – in den Mund und griff nach der Fernbedienung.
Schwere Schritte kamen die Treppe hinunter, dann wurde die Wohnzimmertür geöffnet.
Asuka musste den Kopf nicht drehen, um zu wissen, dass die rotgepanzerte Gestalt ihres Onkels in der Tür stand und sie mit vier Augen ansah.
„Asuka, so kann das nicht ewig weitergehen…"
Jetzt wandte sie den Kopf doch ihm zu.
„Ich…"
„Irgendwann musst du dich der Außenwelt wieder stellen, du kannst dich nicht ewig hier verstecken."
Sie senkte den Blick.
„Ich weiß… Aber lass mich noch ein wenig…"
„Dann backe ich wohl besser noch eine Fuhre Kekse."
Ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
„Oh, ja, bitte – die mit Schokolade, ja?"
„Natürlich."
Er trat an das Sofa heran und nahm die leere Glaskanne an sich.
„Willst du noch Milch oder lieber Tee?"
„Hm, Tee wäre schön."
Das menschengroße Abbild von EVA-02 nickte.
„Ich koche eine Kanne."
„Danke, Onkel Wolf."
Sie lehnte sich wieder zurück, atmete auf.
Das war noch einmal gutgegangen…
Asuka blickte in die dunkle Mattscheibe des Fernsehers und betrachtete ihre eigene Reflektion. Hier war ihr Gesicht makellos, besaß sie noch beide Augen und waren ihre Züge nicht von Narben verunstaltet, blickte ihr keine leere Augenhöhle entgegen…
*** NGE ***
Doktor Ritsuko Akagi beschleunigte ihre Schritte, als sie den Tumult hörte. Laut hämmerten ihre Hackenschuhe auf dem Metallboden der provisorischen Krankenstation des Hauptquartiers. Den Türschildern nach handelte es sich eigentlich um einen Bürotrakt, doch gegenwärtig hingen Krankenblätter an den Türen. Seit der Schlacht um NERV waren knapp vier Wochen ins Land gegangen und in diesem Trakt befanden sich nur noch Patienten, die Bettruhe und Langzeitpflege benötigten.
Die blonde Akagi trug eine Kombination aus dunkelblauer Bluse, knielangem schwarzem Rock und darüber den fast schon obligatorischen langen, weißen Laborkittel.
Wie ein Schatten folgte ihr einer der Ayanami-Klone, ein blauhaariges Mädchen mit heller Haut und roten Augen. Das Mädchen trug eine beige NERV-Uniform und darüber einen Laborkittel, sowie eine rahmenlose Brille mit rechteckigen Gläsern. Unter dem Arm trug es einen Aktenordner. Auf der Brusttasche des Uniformoberteils stand die Zahl ‚312'.
Der Unruheherd befand sich mitten auf dem Flur vor der offenstehenden Tür des Zimmers Shinji Ikaris. Dort hatte Doktor Yui Ikari, die Mutter des Patienten, den wachhabenden Stationsarzt am Kragen gepackt und schüttelte ihn durch, während sie ihn anbrüllte und ihm Vorhaltungen machte, ein Unmensch sondergleichen zu sein.
Zwei Ayanamis in Krankenschwestermonturen standen ein Stück entfernt und wirkten ratlos – Akagi hatte mittlerweile gelernt, bestens in der für andere völlig ausdruckslosen Mimik der Klone zu lesen wie in einem offenen Buch und kleinste Anzeichen zu interpretieren.
„Doktor Ikari, beruhigen Sie sich! Yui-san…" rief Ritsuko.
Die Angesprochene wandte ihr den Kopf zu, Akagi konnte sehen, dass Tränen über die Wangen der eigentlich ansonsten starken und beherrschten Frau liefen und dass ihre Lippen bebten. Dann versetzte sie dem Arzt eine schallende Ohrfeige und stieß ihn von sich.
Der Mann taumelte zwei Schritte, stieß fast gegen Akagi.
„Sie ist verrückt geworden, ja, verrückt!" stammelte er. „Das wird ein Nachspiel haben!"
Er fing sich, hielt aber Abstand zu Yui Ikari.
Diese hob anklagend den Finger.
„Wie können Sie es wagen, vorzuschlagen, meinen Sohn aufzuschneiden und das S2-Organ untersuchen zu wollen, das ihn am Leben erhält?"
„Das war doch nur hypothetisch…"
„Shinji lebt noch!" brüllte Doktor Ikari, deren Gesicht einen roten Farbton angenommen hatte.
„Yui-san, fassen Sie sich", stieß Akagi hervor, dann blickte sie den Arzt finster an. „Und Sie verschwinden aus meinen Augen!"
„Ich werde darüber Bericht erstatten! Sie sind ja offensichtlich voreingenommen… ich berichte dem Subkommandanten persönlich!"
Akagi trat auf ihn zu. Der andere war einen halben Kopf größer, doch sie starrte ihn problemlos nieder.
„Tun Sie das. Und ich warne Sie – der Junge wird nicht angetastet!"
„Das S2-Organ in einem Menschen wäre aber eine unglaubliche Entdeckung, die erforscht werden muss – was zählt da ein Leben…"
Weiter kam er nicht, weil sich Yui mit einem Wutschrei erneut auf ihn stürzte.
Akagi ging dazwischen und kommt die beiden mit Hilfe der insgesamt drei Ayanamis trennen.
„Verschwinden Sie!" zischte sie dem Arzt erneut zu. „Und kommen Sie nicht wieder."
„Das… das hat ein Nachspiel!"
Akagi ignorierte ihn und bugsierte stattdessen Doktor Ikari ins Krankenzimmer.
Ein Blick zeigte ihr, dass der Patient immer noch so da lag wie bei ihrem letzten Besuch. Die Monitore zeigten ebenfalls keine Veränderungen an.
Yui Ikari sank auf dem Besucherstuhl zusammen und begann, zitternd zu schluchzen.
„Er kommt hier rein, überprüft die Anzeigen, misst Shinjis Blutdruck und erklärt ganz beiläufig, dass er es kaum erwarten könnte, das S2-Organ zu untersuchen – dazu müsste man Shinji natürlich aufschneiden, aber das wäre ja im Interesse der Wissenschaft, das müsste ich als Wissenschaftlerin doch verstehen… Doktor Akagi, das verstehe ich nicht, nein, so etwas verstehe ich nicht…"
Akagi zögerte, legte ihr dann eine Hand auf die Schulter, spürte, wie sie im ersten Moment sich wegdrehen wollte.
„Ich sorge dafür, dass derartiges sich nicht wiederholt."
Dann wies sie eine der Krankenschwestern an, für Yui ein Glas Wasser und ein leichtes Beruhigungsmittel zu holen.
„Wo ist Reika?"
„Ich habe sie auf ihr Quartier geschickt, damit sie sich einmal in einem richtigen Bett ausschläft, statt auf dem Boden oder halbverrenkt auf dem Stuhl…" Yui stieß ein Lachen aus. „Wäre sie hier gewesen, ich glaube, der Mistkerl wäre nicht bis zur Tür gekommen…"
„Hm, ja… Ich benötige sie nachher in der Werkstatt wegen abschließender Fragen und Tests am Exoskelettprototypen."
Akagi blickte wieder zu Shinji hinüber. Nur die Anzeigen der Monitore und das langsame, rhythmische Heben und Senken seiner Brust überzeugten sie davon, da keine Leiche in dem Bett lag.
„Reika schlägt ganz nach Ihnen. Ohne ihre Hilfe – und vor allem die Idee – wären wir noch lange nicht soweit, gewisse Mechanismen der EVAs auf kleinem Niveau anzuwenden."
„Es hält sie beschäftigt… sonst wäre Reika wahrscheinlich ebenso ein Nervenbündel wie ich es inzwischen bin. Was können wir nur tun? Shinji ist jetzt seit vier Wochen in diesem Zustand. Ich bete mittlerweile zu allen Göttern, die mir einfallen. Das Kunstherz funktioniert und wurde… wie hat es ihr Kollege ausgedrückt… zufriedenstellend integriert…, aber er wacht nicht auf. Die Untersuchungsergebnisse…"
„Ich weiß. Wir können nur hoffen. Ich habe eine ganze Reihe von Experten für Hirntraumata und dergleichen weltweit kontaktiert. Zu Anfang hatte ich noch gedacht, dass vielleicht EVA-01 einen Teil von ihm… zurückgehalten… hat, aber die Einheit ist völlig normal in Ruhemodus gegangen und zeigt keine Auffälligkeiten. Das einzige, was wir noch nicht gemacht haben, ist ein Tiefenscan mit Hilfe der MAGI, aber dafür müssten wir Shinji in einen EntryPlug setzen und irgendwie eine Synchronverbindung aufbauen."
„Das wäre wirklich das letzte Mittel…" murmelte Yui und schüttelte sich in Erinnerung an ihre eigenen Erfahrungen. Vor knapp vier Wochen war sie nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit aus dem Kern von Einheit-01 zurückgekehrt, als während des Kampfes im TerminalDogma die Energie ADAMs freigesetzt worden war und einen räumlich begrenzten, impactartigen Zustand hervorgerufen hatte. Und seitdem sorgte sie sich um das Leben ihres einzigen Sohnes.
„Zunächst einmal versetze ich zwei weitere Ayanamis in diesen Trakt."
Yui gab ein Zeichen, dass sie verstanden hatte.
„Fast vierzig Klone… Projekt R war wohl ein ziemlicher Erfolg… ich kann kaum glauben, dass ich es selbst damals begonnen hatte…"
„Ja, ein großer Erfolg… Yui-san, Sie haben nicht nur Leben kopiert, Sie haben neues Leben geschaffen. Jede der Ayanamis entwickelt eine eigene Persönlichkeit. Shinji-kun hat sich sogar in eine von ihnen verliebt."
„Gibt es bei Rei Veränderungen?"
„Nein."
Nun verdunkelte sich Akagis Gesicht.
„Keine Veränderungen. Und ich möchte Ihnen noch eines sagen – hätte der Kerl sich mir gegenüber über Rei so geäußert, er wäre nicht bis zur Tür gekommen, Eikyu wäre schneller gewesen."
„Ich würde meine ältere Schwester beschützen", bekräftigte Dreihundertzwölf. „Wir alle würden das. Und wir würden Shinji beschützen, weil er ihr alles bedeutet."
„Ich muss leider weiter, Yui-san. In einer Stunde will Subkommandant Fuyutsuki mit dem Kommandostab konferieren, ich glaube, Sie und Doktor Soryu wurden auch hinzugebeten?"
„Zumindest ich… Ich weiß nicht, wie es bei Soryu-san aussieht. Falls Reika dann wieder hier ist, werde ich an der Konferenz teilnehmen."
*** NGE ***
Akagi fand Doktor Kyoko Soryu im Kontrollraum des Hangarareals. Die blonde Halbjapanerin stand am großen Beobachtungsfenster und blickte mit müden Augen zu EVA-02 hinüber.
Ehe Ritsuko zu ihr hinüberging, warf sie dem diensthabenden Techniker einen Blick zu.
„Irgendwelche Veränderungen?"
„Keine, Doktor Akagi. – Sie kommen aber rechtzeitig zur Wachablösung."
„Ah, ja. – Kyoko-san, ich bin gleich bei Ihnen."
„Lassen Sie sich nur Zeit", murmelte Soryu.
Akagi trat zum Überwachungsterminal, dessen Bildschirm die Wiedergabe einer auf die Einstiegsluke des EntryPlugs von EVA-03/04 gerichteten Kamera zeigte, während Eikyu in Richtung des roten EVA-02 blickte.
„Pilot Nagisa beendet seine Schicht. Keine Vorkommnisse", kam eine Jungenstimme aus dem Lautsprecher.
„Danke, Pilot Nagisa. Kontrolle bestätigt." antwortete der Techniker.
Der grauhaarige, rotäugige Kaworu Nagisa stieg aus dem Plug, streckte sich ein paar Mal und überließ dann das Feld seiner Ablösung. Eigentlich war ein ständiger Aufenthalt im EntryPlug nicht notwendig und hätte der Pilot von EVA-03/04 sich auch in einem nahen Bereitschaftsraum oder im Kontrollraum aufhalten können. Die Notwendigkeit einer ständigen Einsatzbereitschaft des EVAs hatte der Subkommandant bestimmt angesichts der unberechenbaren Situation um EVA-02 und das Second Child – seit vier Wochen reagierte EVA-02 auf keine externen Kommandos oder Steuerimpulse und war die Pilotin, Asuka Soryu Langley, Doktor Soryus Tochter, im Inneren der Einheit verschollen. Unter diesen Umständen hielt es der gegenwärtige Befehlshaber für erforderlich, dass die einzige andere Einheit, deren Funktionsfähigkeit nicht in Frage gestellt war, beständig besetzt war.
Nagisa marschierte mit weiten Schritten über den Verbindungssteg auf seine Ablösung zu.
Hikari Horaki trug eine blau-schwarze PlugSuit mit hellen Absätzen und wirkte sichtlich unwohl. Seit gut zwei Wochen stand sie mehr oder weniger freiwillig wieder als Pilotin in den Diensten von NERV und wurde jeden Tag aufs Neue mit ihren Erinnerungen konfrontiert – sie war die designierte Pilotin von Einheit-03 gewesen, die während der ersten Aktivierung von einem Engel übernommen worden und Amok gelaufen war. Der Anzug war nicht wirklich das, was sie normalerweise trug. Und die Gegenwart ihres Freundes, Toji Suzuhara, trug nicht dazu bei, dass sie sich wohler fühle – er hatte sie zwar schon mit deutlich weniger am Leib gesehen, aber die PlugSuit verlieh ihr das Gefühl, völlig nackt auf dem Steg zu stehen und allen Blicke ausgesetzt zu sein.
„Also… dann…"
Sie nickte Toji zu, während sie die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ich bin hier, wenn deine Schicht endet."
Hikari lächelte schüchtern und verschwand in der Steuerkapsel, nahm im Pilotensitz Platz und orientierte sich. Einheit-03/04 – GREMLIN – war einsatzbereit. Eigentlich musste sie nur einen Knopf drücken, um den Startvorgang einzuleiten, so dass der Plug eingezogen und geflutet wurde. Und natürlich musste sie sich mit dem EVA synchronisieren.
„Pilotin Horaki übernimmt GREMLIN", gab sie die Standardstatusmitteilung ab.
„Danke, Pilotin Horaki. Kontrolle bestätigt."
Sie lehnte sich zurück, rief über die Handsteuerung die im EVA-Rechner gespeicherten Daten ab. Nach einigem Graben fand sie das gesuchte Unterverzeichnis mit Textdateien, öffnete ein Lehrbuch für Chemie und begann zu lernen.
*** NGE ***
„Das Mädchen hat große Furcht… ich kann es ihr selbst auf diese Entfernung ansehen…" murmelte Doktor Soryu.
Akagi reichte ihr einen Becher mit heißem Kaffee.
„Hikari weiß, was auf dem Spiel steht…"
„Glauben Sie wirklich, sie könnte EVA-02 aufhalten, falls…"
Soryu ließ den Rest des Satzes ausgesprochen.
„Und sie tut es für ihre Schwestern. Als Reservistin untersteht sie NERV und nicht den japanischen Behörden. Seit dem Tod ihres Vaters befürchtet sie, man könnte die Familie auseinanderreißen und ihre jüngere Schwester vielleicht in ein Heim stecken. Kyoko-san, wir alle tun unser Bestes."
„Ich weiß. – Aber es reicht nicht."
Akagi unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte diese Diskussion in abgewandelter Form bereits mehrfach mit Asukas Mutter geführt. Doch mittlerweile begehrte diese nur noch schwach auf. Seit vier Wochen arbeiteten sie und ihr Stab an dem Bergungsprojekt. Sie hatten Daten gesammelt und ausgewertet, mit den Daten des Shinji-Bergungsprojektes verglichen, Unterschiede hervorgearbeitet und das Projekt mit Hilfe der Supercomputer angepasst. Sie hatten Simulationen durchlaufen lassen und alles genau geplant. Als zwei Wochen nach der Schlacht um NERV der Hangar nicht länger als Notunterkunft und Suppenküche diente und die letzten Zelte abgebaut worden waren, hatten sie damit bekommen, das Bergungsprojekt umzusetzen – und waren gescheitert. Der EVA hat keine Signale akzeptiert, sie waren nicht einmal dazu gekommen, die genetischen Matrizen zu überspielen.
„Wir gehen alles noch einmal durch und starten dann einen neuen Versuch. Mit den erweiterten Kapazitäten des MAGI-2-Systems können wir noch mehr Daten gleichzeitig verarbeiten und analysieren, schneller reagieren."
„Ich finde einfach keinen Zugang. Das ganze System ist wie ein geschlossener Kreislauf. Wir können dem EVA quasi in den Kopf sehen, aber er weigert sich, uns zu hören oder zu sehen…"
„Nicht der EVA weigert sich…" murmelte Akagi halblaut.
„Asuka… sie igelt sich ein… wenn damals nicht dieser Unfall passiert wäre… sie ist jetzt dort, wo ich all die Zeit gewesen bin, und ich kann nur hoffen, dass es ihr nicht letztendlich genauso ergeht."
„Ihrem Bericht nach ist die taktische K.I. aktiv geworden."
„Die taktische K.I. soll den Hunger des EVAs nach einer eigenen Seele besänftigen und als Puffer zwischen dem EVA-Bewusstsein und dem Piloten fungieren", dozierte Eikyu. Sie hatte die für andere verwirrende Eigenschaft, Gesprächsfetzen aufzugreifen und nahezu lexikalisch aufzubereiten, was ihr zu Anfang von Major Kaji den Spitznamen Reipedia eingebracht hatte – doch aufgrund ihrer hohen Intelligenz war man schließlich übereingekommen, dem Ayanami-Klon Nummer Dreihundertzwölf den Vornamen Eikyu zu geben entsprechend der englischen Aussprache für die Buchstaben I.Q..
„Ja." bestätigte Kyoko irritiert. Es war nicht klar, auf wessen Aussage sie einging.
„Und da die Künstliche Intelligenz den Daten der MAGI nach dasselbe Upgrade erfahren hat, das auch bei EVA-03 und -04 schon zum Einsatz gekommen war, gehe ich davon aus, dass keine Verschmelzung des EVA-Bewusstseins mit Asuka stattgefunden hat."
„Ich hätte gerne ihre Ruhe." In Soryus Stimme schwang ein anklagender Tonfall mit, dass Eikyu sich bereitmachte dazwischen zu gehen, sollte es im Kontrollraum zu einem ähnlichen Zwischenfall kommen wie mit Doktor Ikari und dem Arzt. „Aber hier geht es um meine Tochter."
„Und Sie sind eine der Pionierinnen auf dem Gebiet der Synchronverbindungsforschung, wir brauchen Sie hier, andernfalls hätte ich längst entscheiden müssen, dass Sie emotional zu stark involviert sind."
„Sind wir das nicht alle?"
Kyoko wirkte plötzlich unsagbar müde.
„Gehen Sie nicht selbst wenigstens zwei Mal am Tag Yui-sans Sohn und den im Koma liegenden Klon besuchen? Lesen Sie dem Mädchen nicht jeden Abend Märchen vor? Wir sind beide emotional kompromittiert."
„Sie haben Recht." gestand Akagi ruhig ein. „Deshalb habe ich schon ganz am Anfang um die Versetzung eines Spezialisten aus der deutschen Zweigstelle nach Japan ersucht. Seine Ankunft hat sich ein wenig verzögert, aber Leutnant Ibuki ist gegenwärtig nach Matsushiro unterwegs, um ihn abzuholen."
„Peters, nicht wahr?"
„Ja. Er hat die entsprechenden Funktionen bei EVA-02 wiederholt überarbeitet, aktualisiert und verbessert."
„Seien Sie ehrlich mit mir, Doktor Akagi, wir greifen nach Strohhalmen, oder?"
Statt zu antworten, blickte Ritsuko zu EVA-02 hinüber.
Die Panzerung der Einheit war teilweise entfernt worden, um die während der Schlacht erlittenen Schäden besser reparieren zu können. Die Bauchregion war von einem hässlichen Narbengeflecht gezeichnet – doch war dieses immer noch besser als der Zustand, in den die MPEs den EVA versetzt hatten. An den vormals blanken Unterarmknochen hatte sich bereits Muskelgewebe gebildet, das jeden Tag an Masse zunahm. Nur an den Kopf und das ausgedrückte Auge hatte sich bisher niemand herangewagt.
Es klopfte heftig an der Außentür des Kontrollraumes.
Akagi nickte Eikyu zu, welche die Tür öffnete.
Draußen auf dem metallenen Laufsteg stand Toji Suzuhara. Der hochgewachsene Junge zuckte kurz zurück, als er Eikyu sah, fing sich aber sofort wieder.
„Hallo, Ayanami", murmelte er und schob sich in den Kontrollraum hinein. Er meinte zwar zu wissen, mit welcher von Rei Ayanamis Schwestern er es zu tun hatte – die Nummer auf dem Uniformoberteil war recht verräterisch und ihm war nur eine von den Schwestern bekannt, die eine Brille trug -, doch hieß dies nicht, dass er sich an den Anblick in irgendeiner Weise gewöhnt hätte.
„Suzuhara-kun…?"
Akagi blickte Toji fragend an, verwendete aber das Suffix, welche eine gewisse Vertrautheit und Bereitschaft, den anderen anzuhören, durchblicken ließ.
Suzuhara starrte sie an. Seine Lippen bebten.
„Ich… ah…"
Plötzlich verbeugte er sich tief und streckte dabei die Hände flehend vor.
„Ich möchte EVANGELION-Pilot werden."
„Ah… was?" fragte Akagi überrascht.
„Hikari… Hikari hat mir berichtet, dass ich damals ebenfalls auf der Auswahlliste gestanden habe. Ich habe also die nötigen… Veranlagungen", stotterte er in breitestem osakaer Dialekt, immer noch in Bittstellerhaltung. „Jeden Tag begleitete ich Hikari zum Dienst und hole sie wieder ab. Jeden Tag spüre ich ihre Furcht. Ich sehe nur diesen Weg, sie entlasten zu können. Bitte, Doktor Akagi-sama, ziehen Sie mich als weiteren Piloten in Erwägung."
Ritsuko atmete tief durch.
„Steh erst einmal gerade, sonst verrenkst du dir noch das Kreuz."
Sie musterte den großen dunkelhaarigen Burschen.
„Dir ist vielleicht nicht klar, was du da fragst."
„Doch, Akagi-sama. Hikari hat mir berichtet, wie es ist, einen EVA zu steuern. Und ich habe damals erlebt, wie es Shinji gequält hat. Aber mein Entschluss steht fest. Wenn sie einen Piloten benötigen…"
„Das würdest du für sie tun…" murmelte Kyoko.
„Ich werde dein Anliegen dem Subkommandanten und Colonel Katsuragi vortragen. Aber mach dir keine Hoffnungen – EVA-02 ist blockiert, EVA-01 akzeptiert nur eine Person als Piloten und ansonsten haben wir mit GREMLIN einen EVA und mit dem Fourth und Fifth Child zwei Piloten – also bereits mehr, als eigentlich benötigt."
„Bitte, Doktor Akagi-sama."
Ritsuko nickte nur.
Kyoko straffte die Schultern.
„Junge, deine Opferbereitschaft gibt mir neuen Mut."
Damit trat sie zu den Konsolen hinüber, um wieder mit ihren Berechnungen zu beginnen.
*** NGE ***
Die Konferenz des Kommandostabes fand im Büro des NERV-Kommandanten statt. Nach Gendo Ikaris Tod hatte sein Stellvertreter Kozo Fuyutsuki das Büro übernommen und mit als erstes einige Veränderungen an dem riesigen Raum vornehmen lassen – so kam das Mobiliar, welches aus diversen Räumen entfernt werden musste, damit diese zweckentfremdet werden konnten, gleich wieder zum Einsatz.
Den gewaltigen, hufeisenförmigen Schreibtisch hatte er behalten – man konnte nie genug Arbeitsfläche haben und wie er insgeheim zugeben musste, war der dazugehörige Stuhl ein wahres Meisterwerk, in dem man stundenlang sitzen und arbeiten konnte, ohne irgendwelche Verspannungen zu riskieren. Dafür zog sich eine Trennwand quer durch den Raum und stand nun vor dem Fenster ein langer, rechteckiger Tisch, um den ein Dutzend Konferenzstühle positioniert waren.
Das große Aussichtsfenster wies immer noch in den äußeren Schichten des Panzerglases lange Risse auf. Es gestattete einen beeindruckenden Blick über die Geofront und genau auf den Friedhof, der während der letzten vier Wochen für die nicht mehr identifizierbaren Toten der Schlacht und jene, die vor Ort bestattet werden sollten, angelegt worden war.
Am Kopf des Konferenztisches saß Professor Fuyutsuki und ging seine Unterlagen noch einmal durch. Zu seiner Linken hatte Akagi Platz gefunden, neben der sich die Doktoren Soryu und Ikari niedergelassen hatten. Letztere waren beide keine offiziellen Angehörigen der Kommandoebene, aber dennoch eigentlich schon vor der Gründung von NERV mit der Thematik involviert gewesen. Zu Fuyutsukis Rechten befanden sich zwei leere Stühle, dann kam der frisch beförderte und für seinen besonderen Einsatz während der Schlacht dekorierte Captain Shigeru Aoba. Am anderen Ende des Tisches saß an der Seite Eikyu Ayanami mit einem Block und einem Stift in Wartehaltung.
Soeben betraten die letzten beiden Angehörigen des Stabes das Büro des Kommandanten – Colonel Misato Katsuragi, der taktische Offizier der Organisation, und ihr Verlobter, Major Ryoji Kaji, Sicherheitschef und Leiter des NERV-internen Geheimdienstes. Kaji ging am Stock und stütze sich bei jedem Schritt auf die Krücke, grinste aber in die Runde, als er sich auf seinem Platz niederließ. Katsuragi beobachtete ihn mit Argusaugen und setzte sich selbst erst, als er seine Krücke seitlich gegen den Tisch lehnte.
„Wie geht es Ihnen, Major?" fragte Fuyutsuki leise.
„Besser als gestern", entgegnete Kaji. „Es wird langsam, war ja auch nicht mehr auszuhalten im Krankenrevier."
„Das freut mich."
Fuyutsuki schlug seinen Aktenordner auf und sah in die Runde, womit er den inoffiziellen Teil der Sitzung vorerst beendete.
„Zuerst einmal bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie es einrichten konnten, so kurzfristig zu erscheinen. Ich begrüße Captain Aoba in unserer Runde. Fräulein Ayanami wird einen Teil der Sitzung protokollieren. So…"
Er kippte den Ordner leicht an.
„Ehe ich mit der Tagesordnung beginne, begrüße ich ferner offiziell Doktor Ikari und Doktor Soryu in unserer Runde. Das Komitee hat ihren freien Mitarbeiterstatus bestätigt. Das Ergebnis der von Doktor Akagi und Major Kaji durchgeführten Sicherheitsüberprüfung und des Hintergrundchecks waren wohl recht überzeugend…"
Fuyutsuki blickte in die Runde.
Seiner gesamten Führungsriege waren die Anstrengungen des letzten Monats anzusehen – in gewisser Weise hatte jeder einzelne Übermenschliches geleistet, während er sich mit Bürokraten und Papierkram herumgeschlagen hatte und die meiste Zeit gewissermaßen in diplomatischer Mission unterwegs gewesen war, um die Auflösung von NERV zu verhindern. Er bemerkte das leichte Zittern von Katsuragis Händen, es war nicht mehr so stark wie noch vor drei Wochen, als sie mit dem Entzug begonnen hatte… Er sah die gezwungene Körperhaltung Kajis, der immer noch an den Folgen seiner Verletzung laborierte… Aoba war dagegen das blühende Leben, wirkte nur abgespannt und überarbeitet… Akagi hat dunkle Ringe unter den Augen und eine Menge ihrer früheren Unnahbarkeit verloren; er war sich nicht sicher, ob sie das Hauptquartier seit dem Angriff überhaupt einmal verlassen hatte, schließlich erforderten die laufenden Projekte angesichts der geschrumpften Spezialistenzahl ihr umfassende Aufmerksamkeit… Soryu wirkte unruhig, ihr Blick huschte immer wieder zur Uhr, als zähle sie die Sekunden, die sie dem Hangar – und einer Lösung für das Problem ihrer Tochter – fern war… Und Yui… ja, Yui… seit vier Wochen – seit ihrer Rückkehr - gingen sie einander aus dem Weg, waren krampfhaft bemüht, nur in Gegenwart dritter aufeinanderzutreffen. Dabei gab es so viel, was sie eigentlich hätten bereden müssen. Nach Gendos Tod gab es theoretisch nichts mehr, was zwischen ihnen stand, sah man von den mehr als zehn Jahren ab, welche die Zeit als Barriere zusätzlich zwischen ihnen aufgeschüttet hatte…
„Tagesordnungspunkt Eins: Die EVANGELIONs. Doktor Akagi, bitte…"
Ritsuko warf einen kurzen Blick auf ihr Klemmbrett.
„EVA-01 ist vollständig wiederhergestellt, die Einheit verfügt bekanntermaßen über hervorragende . Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass die Steuerung komplett auf das First Child verschlüsselt ist. Ein Überwinden der Verschlüsselung von unserer Seite aus ist nicht möglich und würde im Hauruck-Verfahren umfängliche Veränderungen und den Austausch von Schlüsselkomponenten erfordert."
„Nun, Doktor, ich denke, Sie alle werden mir zustimmen, dass die Nachricht auch als gute Nachricht betrachtet werden kann – die UN will eine funktionsfähige Einheit-01 und wenn nur ein Pilot in Frage kommt, können wir eigentlich davon ausgehen, dass Shinji-kun weiterhin jede verfügbare medizinische Versorgung erhält."
Der Subkommandant lächelte gequält.
Yui Ikari erwiderte dieses Lächeln.
„EVA-02 ist weitestgehend repariert. Nur das Auge steht noch an. Aus offenkundigen Gründen sind wir das aber noch nicht angegangen. Die Einheit ist nicht einsatzbereit, dazu mehr, wenn wir zu den Piloten kommen. EVA-03/04 ist vollständig einsatzbereit. Aufgrund der anstehenden Sparmaßnahmen habe ich die Außenstellen angewiesen, noch im Bau befindliche Einheiten ins Hauptquartier überführen zu lassen, sobald gewisse Parameter erfüllt sind. Wie ich eben erfahren habe, ist EVA-05 vor wenigen Minuten planmäßig aus Deutschland eingetroffen, der Fertigstellungsgrad des EVAs liegt bei 87%."
„Das heißt, Ritsuko?" hakte Katsuragi nach.
„Montage der Arme, Korrekturen an der Panzerung, Feinjustierung, Fertiginstallation des Betriebssystems – all die kleinen Dinge, die viel Zeit erfordern."
Der Colonel nickte.
Akagi fuhr fort:
„In Dubai und der antarktischen Zweigstelle sind sie hinter dem Zeitplan. Das liegt aber auch daran, dass wir immer wieder von dort Ersatzteile angefordert haben und beide Standorte gegenwärtig stark unterbesetzt sind, nachdem die meisten Fachkräfte ins Hauptquartier transferiert wurden. Es ist nicht damit zu rechnen, dass EVA-06 oder -07 dieses Jahr noch fertiggestellt werden oder auch nur die aufgestellten Transportkriterien erfüllen.
Ein zweites Problem ist die LCL-Versorgung. Mit dem Verlust LILLITHs gibt es keinen Nachschub mehr an LCL, so dass künftige Reparaturen an einem EVA länger dauern könnten. Die Vorräte reichen beim gegenwärtigen Routinebetrieb wenigstens noch ein halbes Jahr, wir überlegen bereits Verbesserungen an der Filter- und Aufbereitungsanlage, die vielleicht ein paar weitere Monate herausschlagen können. Forschungsreihen für die Entwicklung künstlichen LCLs – gegebenenfalls mit einer niedrigeren Wirkungsrate – sind in Arbeit."
„Danke, Doktor. Ich stelle also fest: Uns steht gegenwärtig eine funktionsfähige EVANGELION-Einheit zur Verfügung, der sogenannte GREMLIN. Tagesordnungspunkt 2: Die Piloten. Doktor Akagi?"
„Shinji ist immer noch bewusstlos, Lage unverändert. Die Traumaexperten verneinen das Vorliegen von Gehirnschäden. Sein Zustand gleicht einem Tiefschlaf inklusive Traumphase. Bei Rei Ayanami ist die Diagnose identisch. Ob und wann das Third und First Child wieder verfügbar wären, kann niemand sagen. Asuka befindet sich immer noch im Inneren von EVA-02, wodurch die Einheit funktionsunfähig ist. Auch hier kann ich keine Fortschritte vermelden, es ist uns bisher nicht gelungen, Zugang zu den Systemen des EVAs oder des Plugs zu erhalten. Allerdings gehe ich hier wie im Fall von EVA-01 davon aus, dass wir weiterhin nicht unversucht lassen werden, um die Pilotin zu bergen."
„Korrekt." bestätigte der Subkommandant. „Die Motive hinter diesen Anweisungen mögen mit unseren nicht ganz übereinstimmen, haben aber dasselbe Ziel."
„Das Fourth Child, Kaworu Nagisa, überwacht gegenwärtig EVA-02. Nagisa ist voll einsatzbereit. Das reaktivierte Fifth Child, Hikari Horaki, befindet sich im Synchrontraining. Der Einschätzung der MAGI nach besteht eingeschränkte Einsatzfähigkeit, gegen Jahresende sollte sie angesichts der gegenwärtigen Fortschritte voll einsatzfähig sein."
Akagi zögerte, ließ ihre Notizen sinken.
„Und ich habe eine Bewerbung erhalten… Toji Suzuhara, ein Angehöriger der Testgruppe, hat die Aufnahme in das Pilotencorps beantragt."
„Suzuhara hat was?" kam es von Katsuragi.
„Hm…"
Fuyutsuki lehnte sich zurück.
„Wir haben einen EVA und zwei aktive Piloten."
„Die sich taktweise im Hangar abwechseln und seit knapp vier Wochen keine Freizeit mehr hatten. Die Ausbildung eines weiteren Piloten wäre daher nicht falsch." brachte Akagi ihre Argumente vor. „Außerdem mag ich nicht ausschließen, dass wir die Kodierung von EVA-01 knacken können, so dass die Einheit einen anderen Piloten akzeptiert."
„Damit machen wir eigentlich dort weiter, wo wir aufhören wollten…"
„Ich weiß, Professor. Aber wenn wir EVA-05 auf die Beine bringen, benötigen wir früher oder später weitere Piloten."
„Stellen Sie den Grad seiner Eignung fest, Doktor. Gut… Tagesordnungspunkt 3: Status des Hauptquartiers. Colonel Katsuragi?"
„Ahm, ja… Die Statiker haben heute weitere Bereiche freigegeben, es besteht keine Einsturzgefahr mehr. Aoba-kun ist mit seinen Teams und den Ayanami-Suchtrupps inzwischen in die Archivebene vorgedrungen, womit alle versiegelten Bereiche wieder zugänglich wären – natürlich gibt es immer noch Durchgänge und Passagen, die wieder geöffnet werden müssen. Captain?"
„Ahm, ja. Wir haben keine weiteren Überlebenden mehr gefunden. Meine Leute suchen nun noch nach bisher nicht aufgefundenen Leichen. Ich habe die Ayanamis bis auf weiteres freigestellt. Das Hauptquartier hat einen geschätzten Verteidigungsstand von 50% im Vergleich zum Zustand vor dem Angriff. Viele interne Verteidigungsanlagen und natürlich die oberirdischen Abwehreinrichtungen müssten erst noch wieder instandgesetzt werden."
„Danke, Aoba-kun."
Katsuragi lächelte kurz.
„Kaji, innere Sicherheit?"
Der stoppelbärtige Major rückte ein Stück vor.
„Die Masse an Neuankömmlingen aus den Zweigstellen macht es natürlich etwas schwer, alle gleichzeitig zu überprüfen. Sektion II ist ziemlich weit gestreckt, wir tun aber unser bestes. Bisher ist mir niemand aufgefallen, bei dem es sich um einen Maulwurf handeln könnte. Meine Kontakte zur japanischen Innenministerium und zum UN-Geheimdienst bestätigen, dass alles ruhig ist. Sorgen macht mir nur die Möglichkeit, dass sich irgendwelche Irren bei uns einschleichen können – seit einem Dreivierteljahr schießen Engels- und Weltuntergangskulte nur so aus dem Boden und nicht überall scheint man mit Hintergrundchecks so sorgfältig gewesen zu sein. Aber wir arbeiten daran, Ritsuko hat Sektion II freundlicherweise Rechnerkapazitäten überlassen, damit unsere Überprüfungen schneller durchführen können. – Katsuragi, zurück zu dir."
„Personalstand: Wir haben während des Angriffes und unmittelbar danach viele fähige Leute verloren. Diese Lücken schließen die in Hauptquartier beorderten Spezialisten nur unzureichend laut Ritsukos Bericht. Sicherheitskräfte sind vollzählig, taktischer Stab ebenfalls. Genaue Zahlen liegen allen vor. Sollte GREMLIN in einen Einsatz müssen, wäre dies gewährleistet. Kapazitäten für die Ausbildung von Piloten und die Reparatur eines EVAs sind auch gegeben."
„Danke, Colonel."
Fuyutsuki faltete die Hände.
„Das wäre die Bestandsaufnahme. NERV ist angeschlagen, aber nicht am Boden. Allerdings stehen wir vor dem Problem, dass uns der Existenzzweck abhandengekommen ist mit dem Sieg über die Engel."
„Das weiß nur kaum jemand außerhalb dieses Raumes", warf Akagi ein.
„Je mehr Zeit aber seit dem letzten Erscheinen eines Engels vergeht, umso mehr Stimmen werden laut, welche das Weiterbestehen von NERV in Frage stellen. Und ich bin mir sicher, dass schon so manche Regierungen überlegen, wie sie es schaffen könnten, einen EVA in ihre Landesstreitkräfte zu integrieren. Ich habe über ein paar Kontakte ein paar Optionen angeregt. Bis auf weiteres werden wir uns aber mit harschen Budgetkürzungen abfinden müssen. Wir werden nicht mehr wie zu Kommandant Ikaris Zeiten über nahezu unbegrenzte Mittel verfügen und werden zudem rechenschaftspflichtig sein. Daher bitte ich Sie, sich Alternativen zu überlegen. Mir liegen unter anderem Anfragen der NASA wegen einer Zusammenarbeit vor, sowie ein Vorschlag, die Forschung künftig auch auf eine Bekämpfung der Roten See zu konzentrieren."
„Das klingt akzeptabel. Durch die Entwicklung von Waffen und Mitteln zur Bekämpfung der Engel und die Erforschung der Engel-DNA und des S2-Organs wäre NERV auf beiden Gebieten prädestiniert für eine Vorreiterrolle. Und mit den MAGI schaffen wir Durchbrüche auf dem Gebiet der Computertechnologie und Systemarchitektur."
Stumm meldete sich Yui Ikari zu Wort, wartete, bis Fuyutsuki ihr zunickte.
„Danke… Ich hatte noch nicht wirklich Gelegenheit, mir einen Überblick über die Fortschritte des letzten Jahrzehnts zu machen, aber wenn dieser… Brain-Trust, den Sie offenbar aufbauen wollen, das Wohl der Menschheit im Sinn hat, möchte ich Sie unterstützen."
Sie drehte den Kopf.
„Doktor Soryu, finden Sie nicht auch, dass wir uns einen Platz in dieser neuen Zeit verdienen sollten?"
„Alles, was dabei erforderlich ist, um meine Tochter zu retten… und natürlich Ihren Sohn, Yui-san", fügte Kyoko mit gesenktem Blick hinzu.
„Wir tun alles, was in unserer Macht steht", sagte Fuyutsuki bedrückt, um die eintretende Stille zu überbrücken. „Professor Akagi, wie steht es um ihre sonstigen Projekte?"
„Die Forschungen an den geklonten S2-Organen kommen nur langsam weiter, unsere Messgeräte sind einfach unzureichend. Aber wir arbeiten daran. Zu EVA-05 habe ich mich ja schon geäußert. Die Exoskelette stehen kurz vor Beginn der Serienfertigung. Dank Reikas Hilfe war die Konstruktion eines funktionsfähigen Prototypen fast ein Kinderspiel. Anfang des nächsten Jahres kann ich Ihnen die ersten zehn Einheiten versprechen."
„Gut. Ich beabsichtige, sie – auch zu Publicityzwecken – zusammen mit allen dann verfügbaren EVANGELIONs im Rahmen des Wiederaufbaus der Stadt zum Einsatz zu bringen, damit die EVAs nicht nur als Vernichtungsmaschinen angesehen werden."
„Eikyu, mach bitte eine entsprechend Notiz. – Ich halte das für ein gutes Zusatztraining im Umgang mit den manuellen Fähigkeiten der EVAs."
Akagi hütete sich, anzusprechen, dass es wohl auf den Einsatz eines EVANGELIONs hinauslaufen würde.
„Dann möchte ich eine weitere Ankündigung machen: Das Kontrollkomitee, welches nach der Schlacht von der UN eingesetzt wurde, hat mein Rücktrittsgesuch als Kommandant von NERV eingeschränkt zum Beginn des nächsten Jahres angenommen."
Alles starrte wie gebannt den Subkommandanten an.
„Das genaue Datum steht noch nicht fest, es kann also gut Frühling werden. Dies bedeutet aber nicht, dass ich NERV und Tokio-3 verlassen werde – dafür ist zu viel Zeit meines Lebens in dieses Projekt geflossen. Vielmehr werde ich mich quasi selbst in die Labore abkommandieren und das tun, was ich immer wollte – wieder ein Wissenschaftler sein."
Fuyutsuki blickte in die Runde.
Ryoji Kaji grinste breit und begann langsam zu klatschen.
„Hört, hört!"
Er stieß Aoba an, der in sein Klatschen einfiel. Kurz darauf tönte lauter Applaus durch das gewaltige Büro.
Fuyutsuki wirkte, als hätte er sich selbst einen Stein vom Herzen gerollt durch seine Ansage.
„Steht schon fest, wer Ihr Nachfolger wird?" fragte Kaji.
„Noch nicht hundertprozentig, aber Colonel Katsuragis Chancen stehen ziemlich gut."
Kaji blickte zur Seite, sah, dass Misato irgendwie erschrocken wirkte.
„Tja, Katsuragi, dann bist du mir nicht nur höherrangig, sondern auch noch meine Vorgesetzte… wir sollten das mit der Hochzeit wirklich vorher erledigen, sonst kommen sie uns noch mit Fraternisierungsregeln und so weiter…"
„Wie gesagt, noch steht nichts fest. Ich möchte nun zum inoffiziellen Teil übergehen. – Fräulein Ayanami, Sie müssen nicht mehr mitschreiben. Und bitte hören Sie auch nicht mehr zu."
Eikyu bestätigte den Befehl mit einem kurzen ‚Ja'.
„Danke."
Ehe der Professor weitersprach, reflektierte er kurz über den Umstand, dass er jede andere Sekretärin oder Schreibkraft aus dem Raum geschickt hätte, bei dem Klon aber völlig darauf vertraute, dass dieser seine Anweisung wortgetreu ausführte.
„Nun, ich habe Ihre Berichte an das Kontrollkomitee gelesen und danke Ihnen allen für Ihre Mitarbeit. Auch wenn ich nicht glücklich darüber bin, dass mein Vorgänger" – er unterließ es mit Rücksicht auf Yui Ikari absichtlich, den Namen ihres Mannes zu erwähnen – „offiziell den Heldentod gestorben ist, so dient es doch dem Fortbestand dieser Organisation und verhindert folglich, dass die EVANGELIONs – und die Piloten - in andere Hände fallen."
Yui Ikaris Gesicht war eine steinerne Maske und sie mied den Blick des älteren Mannes.
„Letztendlich sind all dies Bausteine, die es uns ermöglichen, NERV am Leben zu erhalten. Mir wurden für eine Neuorientierung auf dem Gebiet der Forschung und Wissenschaft größere Mittel zugesagt. Auch ein Wiederaufbau von Tokio-3 steht nicht mehr zur Diskussion – die japanische Regierung ist bestrebt, die Scharte auszuwetzen und die Erinnerung an den Putsch recht rasch auszulöschen, was bedeutet, dass auch aus dieser Quelle Mittel zum Wiederaufbau fließen werden, wie auch von Seiten der UN."
Er räusperte sich und trank einen Schluck Wasser.
„Gegenwärtig gibt es noch ein Thema, für das wir uns eine Lösung einfallen lassen müssen." Fuyutsuki blickte zu Eikyu hinüber. „Was machen wir mit mehr als drei Dutzend Rei Ayanamis?"
Akagi meldete sich zu Wort.
„Ich kann jeder einzelnen eine fast wasserdichte Identität verschaffen, daran soll es nicht liegen."
„Das meinte ich nicht ganz. Sie sind ein wenig… auffällig, wenn sie zusammen auftreten."
„Professor, NERV hat sie erschaffen, jetzt stehen wir in der Pflicht. NERV wollte ersetzbare Piloten, stattdessen haben wir es ganz klar mit denkenden, fühlenden Menschen zu tun. Und egal wie schnell, stark oder klug jede einzelne von ihnen ist, die Ayanamis sind in erster Linie eines: Junge Frauen, fast noch Kinder."
„Wir sind moralisch verpflichtet, nicht zuzulassen, dass sie zu Werkzeugen degradiert werden, die jedem Befehl folgen, nur weil es quasi in ihre Gene eincodiert ist." schlug Doktor Ikari in dieselbe Kerbe.
„Die Wissenschaft hat es der Menschheit ermöglicht, den Second Impact und seine Folgen zu überstehen. Dank ihr konnten wir die Engel besiegen und uns letztendlich von ADAMs Manipulationen befreien. Wir haben Leben erschaffen und uns zu Göttern erhoben – doch jetzt müssen wir uns erst einmal als würdig erweisen, dass wir uns Menschen nennen dürfen."
Aus dem Augenwinkel bemerkte Akagi, dass Eikyu ihre Worte anscheinend mitschrieb, sagte aber nichts dazu.
„Was sagen die übrigen dazu? – Colonel Katsuragi?"
„Ich konnte Reis Entwicklung während des vergangenen Jahres beobachten und muss Ritsuko zustimmen", seufzte Katsuragi und wünschte sich, ebenso routiniert wie Akagi mit Begriffen wie „Potential", „Prognosen" und „Individueller Entwicklung" um sich werfen zu können.
„Major Kaji?"
„Erlauben Sie mir eine Demonstration, Professor… - Eikyu?"
Die Angesprochene blickte von ihrem Notizblock auf.
„Ja?"
„Zieh dich aus."
„Kaji…" zischten Misato und Ritsuko fast synchron, während die beiden anderen Doktoren ihn entrüstet ansahen, Yui Kyoko aber am Aufstehen hinderte.
Eikyu stand mit einer fließenden Bewegung auf, legte den Laborkittel ab, begann dann, ihre Bluse zu öffnen.
Beim dritten Knopf stoppte Kaji sie.
„Halt, das genügt."
Akagis rotäugige Assistentin verharrte mitten in der Bewegung.
„Sehen Sie, was geschehen kann? – Du kannst die Bluse wieder zuknöpfen, danke. – Professor, wir müssen uns um sie kümmern."
Fuyutsuki sah kurz den knallrot angelaufenen Aoba an.
„Sieht mir nach Einstimmigkeit aus… Also, was machen wir mit dem Problem?"
Schweigendes, angespanntes Nachdenken erfüllte den Raum.
„Meine Schwestern und ich sind kein Problem. Wir wollen kein Problem sein", brach Eikyus Stimme die Stille.
Fuyutsukis Blick fixierte sich auf sie.
„Das war wohl ungeschickt von mir, Fräulein Ayanami. Wenn Sie etwas beitragen möchten…"
Sie schien um einen Hauch blasser zu werden, senkte erst den Blick, blinzelte, sah dann wieder auf.
„Ich weiß… meine Schwestern und ich wissen, dass wir keine richtigen Menschen sind. Wir wurden künstlich erschaffen aus menschlicher DNA und der Erbmasse des Engels LILLITH. Aber wir fühlen… wir spüren Schmerzen. Wir bluten, wir sterben. Während des Kampfes um das Hauptquartier sind mehr als einhundert von uns gestorben. Wir sind kein Problem. Wir sind… Wir leben."
Eikyus Schultern sanken herab, als hätten die Worte sie viel Kraft und Überwindung gekostet.
Ritsuko Akagi verspürte in diesem Moment Stolz. Selbst wenn Rei Ayanami nicht wieder aufwachen sollte, wusste sie nun, dass die Saat aufging, dass das, was das Second Child ausmachte, nicht verloren sein würde.
„Ich hätte einen Vorschlag: Wir öffnen Projekt-R erneut; die Ziele des Klonprojektes wurden damals sehr schwammig formuliert und sollten eigentlich auch die Entwicklung des Projektergebnisses umfassen – also die Schulung der Ayanamis und die Förderung jeder einzelnen."
„Schulung?" griff Misato Akagis Worte auf. „Ritsuko, willst du eine Schule für sie gründen?"
„Nein, aber die Idee hat etwas…"
Ritsuko sah nachdenklich zu ihrer Assistentin hinüber.
„Angesichts der gekürzten Mittel und anderen offenen Punkte… Professor, ich möchte einen Gedankenansatz einbringen: Wenn der Wiederaufbau der Stadt beschlossene Sache ist, sollten wir einen weiteren Faktor beitragen – wir haben hier hochqualifiziertes Personal, ich will sagen, dass unsere Wissenschaftler und Experten zu den weltbesten ihrer Disziplinen gehören. Diese Männer und Frauen sollten ihr Wissen und ihr Können weitergeben."
„Wie meinen Sie das, Doktor Akagi?"
Fuyutsuki bemerkte, dass Yuis Augen zu leuchten begannen und für einen kurzen Moment frei von der Sorge um Shinji waren.
„Es hieß doch immer, Tokio-3 wäre die Festungsstadt, von der aus der Wiederaufbau beginnen würde. Legen wir diesen Grundstein. Sorgen wir dafür, dass die künftige Wissenschaftlerelite hier ausgebildet wird – dann fallen vierzig Ayanamis auch nicht mehr auf."
Der Professor begann zu lachen.
„Sie regen also die Gründung einer… hm…"
„Die NERV-Akademie", warf Kaji ein. „Klingt für mich recht faszinierend, ich könnte Sportlehrer werden…"
„So verzweifelt bin ich auch wieder nicht!" erklärte Akagi.
„Ah, Ritsuko!"
In diesem Moment fühlte Fuyutsuki sich wie ein Vater, der seinen Kindern beim Herumalbern zusah.
„Ich werde den Vorschlag überdenken und gegenüber dem Kontrollkomitee zur Sprache bringen. Je mehr Kompetenzen wir uns sichern, umso besser wird NERV gedeihen – und dies geschieht letztendlich zum Wohl der Kinder."
Ein dumpfes Brummen war zu hören. Die versammelten Offiziere überprüften ihre Pieper. Kaji hob die Hand.
„Ah, tut mir leid, das bin ich... ist mein Handy… verzeihen Sie, es ist dringend…"
Er hielt sich das Gerät ans Ohr und schirmte zugleich seinen Mund mit der freien Hand ab, ließ diese aber überrascht langsam sinken.
„Wir haben ein Problem…"
Kaji schaltete den Lautsprecher auf Mithören und legte das Handy auf den Tisch.
„Wiederholen Sie das bitte."
„Wir haben im Archiv eine Tote gefunden. Die liegt hier noch nicht vier Wochen, sondern sieht ziemlich frisch aus."
„Spuren von Fremdeinwirkung? Oder vielleicht ein Selbstmord oder…"
„Da wurde nachgeholfen. Ich müsste mir die Leiche aber näher ansehen, um Ihnen jetzt mehr zu sagen."
„Nichts anrühren, ziehen Sie ihren Trupp aus dem Sektor zurück und sichern Sie ihn. Keine weiteren Schritte, bis ich mich melde."
„Verstanden, Major."
Es klickte.
„Das hat uns noch gefehlt", murmelte Kaji.
„Eine Leiche im Archiv… eine möglicherweise ermordete Frau… - Major, kümmern Sie sich um die Angelegenheit. Ich möchte vermeiden, dass die Polizei oder andere Außenstehende unsere Einrichtungen betreten und vielleicht auf den Kopf stellen."
„Habe ich volle Handlungsgewalt, Subkommandant?"
„Klären Sie die Angelegenheit auf, wenn möglich hätte ich gern erste Erkenntnisse in den nächsten achtundvierzig Stunden."
„Ich tue mein Bestes."
Er angelte nach seiner Krücke, die ihm Aoba schließlich reichte.
„Dann bin ich jetzt wohl nicht nur der Leiter der Sicherheit und des Geheimdienstes, sondern auch noch vom CSI NERV."
Die übrigen blickten ihn unverständlich an.
Kaji seufzte kurz.
„Ritsuko, ich werde wahrscheinlich ein paar deiner Experten bald nerven, dass Sie mir ein paar Dinge analysieren. Und ich brauche zwei Ayanamis als Assistenten, um den Tatort zu sichern."
„Wozu das?"
„Du hast letztens selbst gesagt, dass sie Dinge sehen, die wir zu übersehen neigen. Und bei ihnen weiß ich, dass sie nicht irgendeiner Neugier nachgeben. Also, los, du hast doch von allen ein Profil erstellt, welche eignen sich am besten als magenstarke Analytiker?"
„Oh, Kaji…" seufzte Ritsuko.
*** NGE ***
Maya Ibuki stoppte ihren Wagen auf dem Busparkplatz vor dem Terminal des Frachtflughafens von Matsushiro. Sie war spät dran – natürlich hatte sie angenommen, dass die Person, welche sie auf Anweisung Doktor Akagis abholen sollte, mit derselben Passagiermaschine eintrifft wie die übrigen ins Hauptquartier versetzten Spezialisten der deutschen Abteilung. Aber die Zielperson war nicht unter den drei Dutzend Wissenschaftlern und Technikern gewesen. Und auf Nachfrage hatte sie erfahren, dass Leutnant Jörg Peters nicht mit dem Rest gekommen war, sondern die fast zeitgleich eingetroffene Frachtmaschine begleitet hatte, die EVA-05 und die defekte MAGI-Einheit Georg nach Japan brachte.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – die Frachtmaschine war vor zehn Minuten gelandet.
Mehrmals atmete sie tief durch, flüsterte wie um sich selbst zu beruhigen: „Du kannst das. Du schaffst das…"
Knapp vor dem Hyperventilieren gelang es ihr endlich, den Lärm in ihrem Kopf zu unterdrücken, der immer wieder aufbrandete. Sie langte nach hinten zum Rücksitz, griff nach dem Pappschild mit dem Namen der Zielperson und sprang aus dem Wagen, unterdrückte den Reflex, erst einmal in Deckung zu gehen und die Umgebung zu sondieren.
Während sie sich fragte, warum Senpai Akagi sie auf diesen besseren Botengang geschickt hatte und nicht einen anderen Angehörigen des ihr unterstellten Wissenschaftler- und Technikerstabes oder einen Sektion II-Spezialisten, schließlich war sie – ohne falsche Bescheidenheit – eine hochqualifizierte Fachkraft und nach Senpai Akagi die Computerexpertin für die MAGI-Rechner im Hauptquartier. In Gedanken malte sie sich eine Katastrophe nach der anderen aus, die eintreten konnten, während sie nicht im Hauptquartier war. Doch eigentlich ging es gar nicht darum, dass sie unentbehrlich sein könnte, sondern vielmehr um den Umstand, dass sie das Hauptquartier seit vier Wochen nicht mehr verlassen hatte – seit dem Angriff der Vereidigungsstreitkräfte auf das NERV-Hauptquartier.
Maya sah sich aufmerksam um, konnte keine Gefahr erkennen. Sie löste sich von der sicheren Gegenwart ihres Autos und eilt zum Terminalgebäude hinüber, fühlte sich erst wieder sicher, als sie von der offenen Straße herunter war. Zögernd trat sie in die Halle des Terminals hinein und ließ den Blick schweifen. Am Ankunftsschalter – es gab nur einen, schließlich kamen nur selten Passagiere mit Frachtmaschinen – hob ein junger Mann gerade seinen Rucksack vom Förderband und schwang ihn sich auf den Rücken. Er trug eine NERV-Uniform im selben Stil und von derselben Farbe wie Maya Ibuki unter einem langen Mantel, während seine Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen waren, hatte hellblondes Haar, war hager, etwa einen Kopf größer als sie und wahrscheinlich annähernd gleichaltrig. Zusätzlich zu dem Rucksack führte er eine Laptopumhängetasche und einen Rollkoffer mit sich. Als er sich vom Abfertigungsschalter ab- und dem Ausgang zuwandte, bemerkte Ibuki, dass er seltsam steifbeinig ging und das Gewicht auf sein linkes Bein zu verlagern suchte.
„Gut, du kannst das…" murmelte sie. „Er sieht nicht aus, als würde er gleich eine Waffe ziehen und dich oder jemanden erschießen wollen, den du kennst…"
Sie drehte das Pappschild so, dass die Schrift richtig herum zu lesen war, und hielt es auf Höhe ihrer Brust.
Der Neuankömmling sah sie und hob die Hand, winkte ihr kurz zu. Den Rollkoffer hinter sich herziehend, marschierte er schnurstracks auf sie zu.
Maya ließ das Schild sinken, spürte Unsicherheit angesichts der Gradlinigkeit, mit der er auf sie zusteuerte. Kurz fühlte sie sich in einen der Albträume versetzt, die sie seit der Schlacht fast jede Nacht hatte, wurde er vom Bild eines schwarzgekleideten Soldaten ohne Gesicht überlagert, der mit schussbereiter Waffe und aufgepflanztem Bajonett auf sie zu gerannt kam. Automatisch wich sie einen Schritt zurück, fing sich aber wieder.
Langsam wurde ihr klar, warum Senpai Akagi sie mit dieser ‚Mission' betraut hatte.
Seit der Schlacht hatte sie sich keine freie Minute mehr gegönnt, hatte zugesehen, dass sie rund um die Uhr beschäftigt war – oder zumindest solange, bis sie vor Erschöpfung einschlief, egal ob in ihrem behelfsmäßigen Quartier, an ihrem Terminal in der Zentrale oder einem anderen Ort. Sie arbeitete Doppelschichten, vermittelte teilweise anderen den Eindruck an mehreren Orten zugleich zu sein. Sie hatte bei Aufräumarbeiten geholfen, bei der Bergung von Verletzten, war Senpai Akagi bei der Erstellung der Profile der Ayanamis zur Hand gegangen, hatte im vorübergehend als Auffanglager genutzten Hangar Essen ausgeteilt und zugehört, wenn Senpai Akagi der schlafenden – Maya hütete sich, an Bewusstlosigkeit oder Koma zu denken – Rei Ayanami aus ihrem provisorischen Märchenbuch vorlas. Sie hatte sich beschäftigt, um nicht darüber nachdenken zu müssen, wie knapp es gewesen war, um sich nicht der Angst stellen zu müssen, die sie überkam, wenn sie allein war…
Der hellblonde Mann war stehengeblieben. Langsam setzte er die Sonnenbrille ab und verstaute sie in der Brusttasche seiner Uniform.
„Sind Sie mein Empfangskomitee…", er schielte nach ihren Rangabzeichen, „… Leutnant?"
Sein Japanisch klang holprig, ungeübt und in gewisser Weise fremdartig.
Maya riss sich zusammen zu einem Lächeln und verbeugte sich knapp.
„First Lieutenant Maya Ibuki. Ich habe Auftrag, Sie ins Hauptquartier zu bringen, Herr Peters."
Jetzt, da sie beschäftigt war, konnte sie die Stimmen in den Hintergrund verdrängen.
Er erwiderte die Verbeugung, ging dabei etwas tiefer, nahm dann Haltung an.
„Second Lieutenant Jörg Peters meldet sich einsatzbereit, Ma'am."
Maya Ibuki war es gewohnt, mit Offizieren gleichen Ranges zusammenzuarbeiten – gut, Aoba-kun war zum Captain befördert worden, aber er behandelte sie immer noch wie vorher und hatte klargestellt, dass er weder von ihr, noch von Hyuga-kun erwartete, dass sie strammstanden und ihn mit ‚Sir' ansprachen. Normale NERV-Angehörige kannten sie als Senpai Akagis rechte Hand und die Vorgesetzten behandelten sie trotz ihres jungen Alters mit Respekt oder zuweilen auch wie das jüngste Familienmitglied. Und jetzt fand sie sich in einer Situation wieder, in der ihr ein unbekannter Offizier niederen Ranges gegenüberstand.
„Ahm… stehen Sie bequem…" befahl sie nervös. „Ich bin nicht im Dienst, also kein Grund für Formalitäten. Kommen Sie, mein Wagen steht direkt vor dem Gebäude."
„Danke, Ma'am."
Sie verließen das Terminalgebäude. Maya betätigte die Fernbedienung an ihrem Autoschlüssel und entriegelte die Türen, öffnete dann die Kofferraumklappe, damit Peters Rucksack, Tasche und Rollkoffer hineinstellen konnte.
„Ist das alles?"
„Ja, Ma'am."
„Nicht noch ein Koffer oder Gepäck, das mit der Passagiermaschine und den anderen Kräften aus Deutschland angekommen ist?"
„Ich reise immer mit leichtem Gepäck, Ma'am."
Sie zuckte mit den Schultern und schloss den Kofferraum.
„Sie können einsteigen."
Als er Anstalten machte, zur rechten Vordertür zu gehen, fragte Maya leicht irritiert: „Wollen Sie fahren, Leutnant?"
Peters hielt inne. Ein leichter Schatten eines Errötens bildete sich auf seinem Gesicht. Er lächelte verlegen – Maya bemerkte, dass er hellgraue Augen hatte, die sie an einen dicht bewölkten Himmel erinnerten.
„Japan hat Linksverkehr… Es war mir entfallen, entschuldigen Sie bitte, Ma'am."
Er eilte vorn um den Wagen herum, wartete, bis sie die Fahrertür geöffnet hatte und eingestiegen war, ehe er sich selbst ins Wageninnere faltete.
„Sie können ruhig den Sitz zurückschieben, falls Sie etwas mehr Beinfreiheit möchten. – Außer mir fährt niemand mit dem Wagen, sie können den Sitz also verstellen, wie es Ihnen beliebt."
„Nicht nötig. Danke, Ma'am."
„Und lassen Sie das Ma'am weg, so alt bin ich nicht."
„Wie wünschen Sie dann, angesprochen zu werden?"
„Maya genügt, Herr Peters. Sitzen Sie gut und sind angeschnallt?"
„Ja, danke… Maya-san."
Sie bemerkte, dass ihr Name ihm nicht leicht über die Lippen zu kommen schien, als wäre er es nicht gewohnt, andere Menschen mit dem Vornamen anzusprechen. Ein Seitenblick zeigte ihr, dass er sich angegurtet hatte und nun seine Hände auf den Oberschenkeln lagen.
„Dann wollen wir mal."
Maya startete den Motor und fuhr an.
„Bis ins Hauptquartier sind wir gut zwanzig Minuten unterwegs, vielleicht etwas länger, falls wieder eine Straßensperrung ansteht", sagte sie, um die Stille zu überbrücken, während ihr Blick von einem Rückspiegel zum anderen huschte und sie sich bemühte, jedes Detail der Umgebung aufzunehmen. Sie spürte, wie die Nervosität wieder von ihr Besitz zu ergreifen begann.
„Hat sich am Zustand von EVA-02 etwas verändert? Irgendwelche neuen Erkenntnisse im Hinblick auf Asuka?"
„Sie kommen gleich zur Sache, was? – Nein, nichts."
„Ich wurde deswegen herbeordert, das letzte Datenupdate habe ich vor meinem Aufbruch bekommen."
„Ahja… wie war Ihr Flug?"
„Ereignislos."
Seine Mimik war unbewegt.
„EVA-05 wird sicher bereits umgeladen und dann per Schwertransporter ins Hauptquartier gebracht."
Er nickte nur.
„Für mich sind die EVAs erst interessant, wenn es um die Synchronverbindung geht. Alles andere…"
Peters zuckte mit den Schultern.
„Sen... Doktor Akagi und die anderen im Hauptquartier setzen große Hoffnungen in Sie."
Auch das nahm er zur Kenntnis, während er aus dem Fenster sah.
„Dies ist eigentlich ein schöner Ort."
„Matsushiro? – Ja, die Meereslage, die Verkehrsanbindung und die Nähe zu Tokio-3 haben ihren Reiz. Ich habe eine kleine Wohnung hier am Stadtrand in der Nähe der Bahnstation."
„Also sind Sie ein Pendler."
„Das… war ich…" Sie biss sich auf die Lippe, während sie wieder die Rückspiegel kontrollierte. „Aber im Augenblick komme ich kaum aus dem Hauptquartier heraus."
Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie Hyuga-kun ihren Wohnungsschlüssel gegeben und ihn gebeten hatte, ihren Kleiderschrank leerzuräumen und alles in ihre Unterkunft im Hauptquartier zu schaffen, weil sie gegenwärtig nicht einmal den Gedanken nicht ertragen konnte, in ihrer Wohnung allein zu sein mit den Echo der Stimmen, Schreie und Geräusche, die sie seit Wochen verfolgten.
„Maya-san…" setzte Peters an. „Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich direkt bin… Werden wir verfolgt oder rechnen Sie mit Schwierigkeiten?"
„Oh, wie… nein, natürlich nicht."
„Sie blicken ständig in die Spiegel, als würden sie etwas oder jemanden suchen… sicher irre ich mich."
„Der… der Verkehr kann hier manchmal ziemlich überraschend sein", stotterte sie, trat sich zugleich mental in den Hintern, dass sie sich einem untergeordneten Offizier eine solche Blöße leistete.
„Dann sollte ich froh sein, eine derart aufmerksame Person am Steuer zu haben."
„Ahm… Herr Peters, ich hätte Sie mir älter vorgestellt angesichts der Dinge, die man von Ihnen erzählt und der Tatsache, dass Sie bereits mehrere kleine Veröffentlichungen hatten."
„Das kann ich nur zurückgeben – vorausgesetzt, Sie sind dieMaya Ibuki, die mit Doktor Akagi arbeitet und die dritte Version der MAGI-Systemarchitektur ausgearbeitet hat."
„Das war nichts…" wiegelte Maya automatisch ab.
„So…"
„Jedenfalls… ich denke, es wird Ihnen in Tokio-3 gefallen… der Wiederaufbau wird natürlich noch eine ganze Zeit in Anspruch nehmen. Aber die Kollegen sind alle nett und umgänglich und die vorgesetzten Offiziere…"
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Maya-san, aber ich bin nicht hergekommen, um Freundschaften zu schließen. Erstens gehe ich davon aus, dass ich nach getaner Arbeit wieder zurückbeordert werde, und zweitens haben wir nicht viel Zeit."
„So…"
Maya kniff die Lippen zusammen. Da hatte sie ja den Hauptgewinn gezogen – und die Fahrt zurück dauerte noch wenigsten zehn Minuten, auch sie bereits Matsushiro hinter sich gelassen hatten und die zerbrochene Skyline von Tokio-3 sehen konnten. Sie konnte bereits die nächste Welle aus Schreien förmlich erahnen, die sich in ihrem Kopf bildete.
„Oh, Mann", murmelte Peters.
Ein Seitenblick zeigte Maya, dass er auf die vor ihnen liegende Stadt starrte. Der Anblick ging offenbar nicht ganz an ihm vorbei. Das noch vor einem Vierteljahr strahlende Juwel Tokio-3 wies gewaltige Flecken und Sprünge auf, von vielen Gebäuden existierten nur noch ausgebrannte Gerippe. Ganze Viertel und Straßenzüge lagen in Trümmern oder waren gewaltigen Bombenkratern gewichen.
„Ja…"
„Erinnert mich an die Zerstörungen nach dem Second Impact… nur war da der Tod nicht von oben gekommen…"
„Wie alt waren Sie damals?" fragte sie, um die Erinnerungen zu übertönen – in ihrem Kopf wurde das ständige Hintergrundrauschen aus Hilfeschreien, Schmerzensschreien, Todesschreien, Schüssen und undefinierbaren Geräuschen wieder lauter.
„Keine Ahnung… offiziell sechs…"
„Offiziell?"
„Ah…"
Peters machte eine beiseitewischende Handbewegung.
„Zu den Erinnerungen, die sich mir eingeprägt haben, gehört die Einfahrt nach Hamburg… oder was von der Elbmetropole noch übrig war. Die Fluten hatten die Stadt einfach mit sich gerissen, Hochhäuser lagen im Wasser auf der Seite, die Natur hatte ihnen nicht einmal die Zeit zum Einsturz gegeben, sondern sie einfach aus den Fundamenten gerissen…"
„Wie das alte Tokio."
„Hm."
„Der Mensch schafft es doch immer wieder, solche Katastrophen noch übertrumpfen zu wollen… als hätten wir rein gar nichts gelernt."
„Der Fortschritt und die Wissenschaft haben uns damals gerettet. Ich bin sicher, dass die Menschheit andernfalls zu Grunde gegangen wäre."
„Ja… wir haben das wohl beide parallel erlebt, wie die Gesellschaft sich aus dem Nichts wieder aufgerappelt hat."
„Genau! Und wenn wir darauf vertrauen, dass wir es schaffen können, dann ist alles möglich!"
Peters musterte seine Fahrerin, bemerkte ein Glänzen in ihren Augen, das zuvor nicht dagewesen war und ihre ganze Erscheinung zu verändern schien. Als sie zur Seite blickte, wandte er den Blick wieder ab.
„Wenn wir so viel Zeit haben."
„Sie sprachen eben schon von Zeit."
„Also ist es wohl noch niemandem aufgefallen", murmelte er mehr zu sich selbst, wurde dann wieder etwas lauter. „Ich bin während des Fluges die letzten Daten durchgehangen, die ich zu EVA-02 habe, und habe sie mit den anderen Datensätzen verglichen. – Es war ein ziemlich langer Flug."
Er musste ja nicht erwähnen, dass er die Zeit in einer winzigen, quasi nachträglich eingebauten Passagierkabine auf einem Klappsitz verbracht hatte, in der er nicht einmal die Beine hätte ausstrecken können.
„Dabei sind mir minimale Abweichungen aufgefallen, die allesamt durchaus noch im Toleranzbereich liegen, weshalb die MAGI wahrscheinlich noch nicht Alarm geschlagen haben. Asukas Egoformation beginnt zu zerfasern."
Maya verriss beinahe das Lenkrad.
„Was? – Aber… aber das hätte doch auffallen müssen…"
„Die Abweichungen sind noch zu klein dafür, aber sie schaukeln sich langsam auf. Wenn meine Berechnungen stimmen, erreichen wir Weihnachten den Punkt ohne Wiederkehr."
„Das sind nur noch zehn Tage. So schnell… Sind Sie völlig sicher?"
„Ich würde gerne meine Berechnung von den MAGI gegenprüfen lassen, wenn man mich lässt. Wahrscheinlich wäre mir das immer kleiner werdende Zeitfenster bereits in Deutschland aufgefallen, wenn ich Zugang zu etwas besseren Rechnern gehabt hätte als meinem Laptop."
Maya spürte erneut eine Welle von Panik in sich aufsteigen, die sie zu Hektik und wildem Umschauen veranlassen wollte
„Senpai muss das erfahren", stieß sie hervor.
„Ich hoffe, dass ich mich irre und es nur unwesentliche Schwankungen sind. Mir
standen auch nur Momentaufnahmen zur Verfügung, während das System vor Ort sicher den ganzen Datenstrom dokumentiert hat… Whoa!"
Er wurde in den Sitz gepresst, als Maya das Gaspedal durchdrückte und für den Rest der Fahrt sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierte…
*** NGE ***
Ryoji Kaji musterte die insgesamt drei Ayanamis, welche sich eben bei ihm gemeldet hatten. Eigentlich hatte er Ritsuko ja um zwei gebeten, war aber weiterer Verstärkung gegenüber nicht abgeneigt. Zwei trugen NERV-Overalls, die dritte lindgrüne Kleidung und einen Ärztekittel, ansonsten waren sie völlig identisch.
„In Ordnung…" murmelte er und las die Nummern auf den Brusttaschen ab. Einhundertfünfzehn, Zweihundertdreiundvierzig und Zweihundertneunzig. „Habt… ihr Namen?"
„Sie haben mir die Bezeichnung Lisa gegeben", erklärte Einhundertfünfzehn leise.
Kaji runzelte die Stirn.
„Dann warst du eine der beiden, die mir die Kugel…"
Er legte unwillkürlich die Hand auf die Narbe.
„Ja, Major."
„Hm, ich glaube, ich habe mich nicht dafür bedankt. Also – ah, vielen Dank, dass ihr mein Leben gerettet habt."
Die andere reagierte mit einem mehrfachen Blinzeln.
Kaji seufzte innerlich. Es würde nicht einfach werden…
„Und ihr beiden?"
„Negativ, Major", antworteten beide wie aus einem Munde.
„In Ordnung… hm… Zweihundertdreiundvierzig, ab heute heißt du Foxy Ayanami. Und du Dana Ayanami."
„Foxy…"
„Dana…"
Die beiden blinzelten kurz, als würden sie die Information verarbeiten, erklärten dann synchron: „Bestätigt, Major Kaji."
„Gut, gut… Ich habe da etwas für euch, bitte durchlesen."
Er reichte seinen neuen Gehilfinnen eine dicke Broschüre mit Ausdrucken.
„Eine Anleitung für Tatortermittler. Ihr werdet den Tatort den Richtlinien nach untersuchen und nach Spuren absuchen."
Kaji wartete ihre Bestätigung ab, ehe er sich dem Mädchen im Ärztekittel zuwandte.
„So, Doc Lisa…"
„Ich muss Sie korrigieren, Major. Ich trage keinen Doktortitel."
„Ah, komm… warum hast Rit… Doktor Akagi dich hergeschickt?"
„Hier."
Sie hielt ihm eine handgeschriebene Notiz hin.
‚Kaji, ich schätze, du wirst einen Pathologen brauchen. Lisa verfügt über umfängliche entsprechende Kenntnisse.
- Ritsuko.
P.S. Und hör auf, den Ayanamis seltsame Vornamen zu geben.'
„Ups..." murmelte der Major.
Sie befanden sich in einem bis auf ein Regal mit großen Kisten leeren Lagerraum, den Kaji als vorläufiges Hauptquartier für seine Ermittlungen vor Ort in Beschlag genommen hatte.
„Passende Ausrüstung trifft hier in Kürze ein. Der Tatort ist immer noch abgesperrt und befindet sich im gleichen Zustand, in dem er vorgefunden wurde."
„Ich soll den Todeszeitpunkt bestimmen."
„Genau, Lisa, derjenige, der die Leiche gefunden hat, meinte, sie wäre noch frisch. Fühlst du dich dem gewachsen?"
„Ja."
„Ahm… Dann Handschuhe anziehen und so einen Überzug über die Schuhe ziehen. Ich komme mit. - Und ihr lest den Leitfaden durch."
*** NGE ***
Als sie endlich über den Kreisel die Tiefgarage des Hauptquartiers erreicht und aus dem Freien heraus war, fühlte Maya Ibuki sich schon um einiges sicherer. Ihr Fahrtgast war während der restlichen Fahrt nicht sonderlich gesprächig gewesen, andererseits hatte er sich auch nicht über ihren Fahrstil beschwert. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem der Engel Matriel aufgetaucht war und Aoba mit ihr in einem wahren Höllentempo in die Geofront hinuntergerast war. Wenn sie die Übelkeit als Maßstab nahm, welche sie damals noch den ganzen Tag geplagt hatte, hielt Peters sich bewundernswert. – Er schwankte nur kurz beim Aussteigen wie ein Seemann, der nach stürmischem Wellengang erstmals wieder ruhiges Land unter den Füßen hatte und sich daran gewöhnen musste.
Maya ging um den Wagen, öffnete den Kofferraum und lud den Rollkoffer aus, während Peters als erstes nach seinem Rucksack und der Laptoptasche griff. Der Koffer war wirklich ziemlich leicht und enthielt wahrscheinlich nur Kleidung. Der Leutnant bedankte sich kurz und sah sich dann fragend um.
„Kommen Sie, ich bringe Sie direkt in den Hangar."
Damit eilte sie voraus, zog im Laufen ihr Handy aus ihrer Tasche und wählte Akagis Nummer. Ritsuko reagierte fast sofort.
„Senpai, wir sind da, kommen direkt in den Hangar. Es kann sein, dass wir weniger Zeit haben, als wir dachten…"
*** NGE ***
Ritsuko fing Maya und Peters noch im Hangar selbst auf Höhe von EVA-02 ab. Akagis Begrüßung des Neuankömmlings fiel knapp aus. Die Chefwissenschaftlerin kam sofort zur Sache und nach dem Grund zu der Annahme, dass die Zeit knapp sei. Als Peters ihr seinen Verdacht mit der langsam zerfallenden Egoformation Asuka Soryu Langleys schilderte, schickte sie Maya sofort in die Zentrale, um die MAGI den Verdacht überprüfen und gegebenenfalls hochrechnen zu lassen. Ibuki rannte sofort davon.
„Sie wirkt anders, wenn sie etwas zu tun hat", murmelte Peters, schrak dann zusammen, dass er seine Beobachtung laut ausgesprochen hatte.
Akagi nickte nur.
„Jeder von uns verarbeitet das Geschehen auf andere Weise…"
Sie stieg die Metalltreppe zum Kontrollraum hinauf, drehte sich auf dem letzten Absatz noch einmal um.
„Leutnant, Sie werden gleich Doktor Soryu treffen – ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Bewahren Sie Stillschweigen über Ihren Verdacht, ich will sie nicht beunruhigen, solange Maya keine Bestätigung der MAGI hat."
Peters starrte sie an.
„Doktor Soryu? So wie Soryu in Soryu Langley?"
„Ja. Und noch eines – stimmt es, dass Sie einen MAGI-Rechner zerstört haben?"
Er blinzelte ob des plötzlichen Themenwechsels, nickte dann.
„Ich hatte leider keine andere Alternativen."
„Hm…"
Akagi öffnete die Tür zum Kontrollraum, hielt sie lange genug offen, dass er sie mit Sack und Pack passieren konnte.
„Meine Damen und Herren – Jörg Peters von der deutschen Zweigstelle. Hinsichtlich des Zustandes von EVA-02 berichten Sie ab so sofort ihm direkt."
Mit Peters und Akagi waren sieben Personen im Raum – an den Terminals saßen drei Frauen und ein Mann, während eine vierte Frau bei ihrem Eintreten aufgesprungen war. Ihre Gesichtszüge wirken vertraut, die Familienähnlichkeit sprang ihm regelrecht entgegen, auch wenn er es nicht fassen konnte.
„Leutnant, die NERV-Techniker Ooi, Agano, Mogami und Nakamura."
Peters machte sich zu jedem im Geiste Notizen, um sie später nicht zu verwechseln. Ooi war eine Frau mit blondgefärbten, langen Haaren, während Agano einen rotbraunen Pagenschnitt hatte und Mogami – die einzige Brillenträgerin im Raum – ihr dunkles Haar im Nacken lang trug. Alle drei waren wahrscheinlich sein Alter, während Nakamura wohl eher schon zehn Jahre älter war und einen kantigen, kahlrasierten Schädel hatte.
„Und Doktor Kyoko Soryu."
Er zwang sich zu einem Lächeln und einer Verbeugung.
„Doktor Soryu. Sind Sie wirklich…"
Die blonde Frau trat auf ihn zu.
„Sie sind also der Mann, von dem sich hier alle anscheinend Wunder versprechen, Doktor Peters."
„Ahm, tut mir leid, wenn ich Sie korrigieren muss – an meinem Doktortitel arbeite ich noch. Und Wunder…"
Er lächelte verlegen.
Sie nickte nur, schien wieder ein wenig an Hoffnung und Zuversicht zu verlieren.
„Wo kann ich arbeiten?"
Akagi hob eine Augenbraue.
„Wollen Sie sich nach dem Flug nicht erst etwas frisch machen und ausruhen?"
„Ich würde lieber keine Zeit verlieren."
„Gut – der Kontrollraum gehört Ihnen. Ein ausführliches Briefing folgt in den nächsten Tagen."
„Ich brauche Zugriff auf die aktuelle Konfiguration der Steuerungsdateien von EVA-02…" begann Peters, noch bevor er saß. Nach und nach ließ er einen Teil des Steuerungsprogrammes des EVAs nach dem anderen auf dem großen Monitor aufrufen, schien dann fündig zu werden.
Mittlerweile waren dreißig Minuten verstrichen und während hektische Arbeit den Kontrollraum ausfüllte, schwebte Akagi zwischen der Hoffnung, dass vielleicht alles einfacher war, als sie gedacht hatte, und vielleicht nur eine neue Perspektive erforderlich gewesen war, und der Sorge, dass sich der in der rasch kursierenden Gerüchteküche NERVs zum Heilsbringer hochstilisierte Deutsche nicht nur als völlig gewöhnlich, sondern auch noch als Reinfall erweisen könnte.
Peters trat an den Bildschirm im hinteren Bereich des Raumes und deutete auf eine Befehlszeile, die zwischen den übrigen nicht auffiel.
„Das hier habe ich gesucht. Ich sehe, dass das Steuerungsprogramm in der Zwischenzeit wenigstens einmal neu installiert wurde. Ebenso scheint es ein paar kleinere Anpassungen gegeben zu haben – aber wichtig ist nur, dass sie noch da ist…"
„Leutnant?"
„Eine Hintertür ins System, die ich vor etwas über einem Jahr auf Wunsch Doktor Myers eingerichtet habe. Mir wurde damals aus Geheimhaltungsgründen untersagt, es zu dokumentieren."
„Warten Sie, davon weiß ich ebenfalls nichts. Warum wollte Doktor Myers das?"
„Für den Fall, dass Asuka die Kontrolle über den EVA verlieren und eine Notabschaltung erforderlich werden sollte."
„Wenn uns das bekannt gewesen wäre, hätte sich der Amoklauf verhindern lassen, als Arael angriff…" Ritsuko stand kurz davor, laut zu fluchen. – Nicht über den Überbringer der Nachricht, sondern auf die wissenschaftliche Leiterin der deutschen Zweigstelle.
„Und über die Hintertür können Sie mit dem EVA Kontakt aufnehmen und ihn anweisen, Asuka freizulassen?" fragte Doktor Soryu hoffnungsvoll.
„Wenn es funktioniert, könnten wir dann wohl das Bergungsprogramm einleiten", bestätigte Peters. „Wenn…"
Er setzte die Techniker auf verschiedene Teile des Codes an und der Zielsetzung, eine angepasste Version des Bergungsprogrammes zu erstellen.
Akagis Handy klingelte, sie nahm das Gespräch an und verließ kurz den Raum.
Es war Maya, welche Peters' Angaben bestätigte – Asukas Egoformation löste sich tatsächlich langsam auf, noch war es nur erkennbar, wenn man gezielt danach suchte, aber die vorliegenden Daten ließen eine Hochrechnung zu, welche den Zeitpunkt, an dem der Schaden soweit fortgeschritten sein würde, dass das Bergungsprogramm nichts mehr bringen würde, auf den Morgen des 25. Dezembers 2016 legte.
Ritsuko blickte auf die Uhr – keine zweihundertvierzig Stunden mehr…
Sie kehrte in den Kontrollraum zurück, unterrichtete Peters kurz, dass Maya seine Einschätzung bestätigte, überlegte sich, wie sie die zusätzlichen Komplikationen Kyoko schonend beibringen konnte – und dies unter Einbeziehung der Tatsache, dass Diplomatie nicht wirklich ihre große Stärke war.
Peters warf immer wieder nervöse Blicke zu Kyoko Soryu hinüber. Allen Informationen nach, die er besaß, war Asukas Mutter vor über zehn Jahren verstorben – und er hatte keinen Grund zur Annahme, dass man ihn vorsätzlich falsch informiert oder dass Asuka selbst ihm Theater vorgespielt hatte. Wie war es also möglich, dass sie nun lebendig mitten im Raum stand…
„Können wir eine Momentaufnahme des Zustandes der Systeme des EVAs machen? Das komplette Programm, alle Signale, die rein und raus gehen, alle aktiven Verbindungen bis auf das Niveau des Kerns?"
„Natürlich, Peters-san", bestätigte Aoi Mogami und nahm die nötigen Schaltungen vor. „Die MAGI zeichnen ständig auf."
„Danke. – Akagi-sama, ich werde früher oder später vollen Zugriff auf die Aufzeichnungen benötigen und vielleicht auch auf die umfängliche Rechenkapazität der MAGI."
„Ich teile Leutnant Ibuki mit, dass sie Ihnen alles verfügbar machen soll, was Sie brauchen. Sollte ich nicht verfügbar sein, ist sie Ihre direkte Ansprechpartnerin."
„Danke."
„Ich dachte, Sie bekommen meine Tochter heute noch aus dem EVA heraus?"
„Doktor Soryu, ich weiß nicht, ob die Hintertür ins System funktioniert – sie wurde nie getestet, weil das in Wilhelmshafen nie erforderlich war. Ich weiß auch nicht, inwiefern sich die erfolgten Änderungen am Programmcode auswirken…"
Auf Tastendruck verkleinerte er die Darstellung auf dem Bildschirm, bis die Codezeilen nicht mehr zu lesen waren und Ähnlichkeit mit einer fraktalen Linie erlangt hatten. Dann ließ er einen Teil des Codes farbig markieren.
„Dieser Block ist vollkommen neu – soweit ich die Dokumentation durchschaue, hat die Steuerung am Tag des Angriffes auf das Hauptquartier ein ziemliches Update erhalten und wurden im Quellcode selbst massive Veränderungen vorgenommen. Ich will nicht ausschließen, dass der EVA sich an die Anwesenheit von Asukas… Seele… angepasst hat, auch wenn die von EVA-01 und dem Zeruel-Vorfall vorliegenden Daten nichts Derartiges enthalten. Die Frage ist nur, was verändert wurde – die Kaskadenkodierung ist kaum zu knacken in der Zeitspanne, in der das System sich selbst verändert."
„Das sehen Sie alles nach einer halben Stunde?" fragte Akagi.
„Ich habe mich seit vier Wochen auf diesen Tag vorbereitet und mich so gut in die Veränderungen eingearbeitet, wie das ohne Direktzugriff auf ein MAGI-System möglich war. Wenn die Hintertür nicht funktioniert, habe ich noch ein paar Ideen, brauche dann aber weitaus mehr Rechnerkapazität, als mir Mutter Natur mitgegeben hat. – Meine Damen, Herr Nakamura, wie lange schätzen Sie, werden Sie für die Anpassungen brauchen?"
Satsuki Ooi bewegte abwägend den Kopf.
„Etwa eine Stunde."
„Danke. - Dann würde ich mich jetzt doch gerne etwas frischmachen, wenn Sie gestatten, Akagi-sama. Gibt es in der Nähe einen Waschraum?"
„Ja, aber einen Moment noch…"
Sie deutete zu EVA-03/04 hinüber.
„Wir halten eine EVA-Einheit im Hangar in ständiger Bereitschaft. – Mogami, geben Sie mir bitte Hikari auf den Schirm."
Kurz darauf zeigte der Monitor die Bildübertragung aus dem EntryPlug. Die sommersprossige Pilotin schien einen anderen Bildschirm der ComPhalanx zu studieren und reagierte erst, als Akagi sie ansprach, zuckte dabei heftig zusammen und schien nach einer Entschuldigung zu suchen.
„Ist es soweit? Habe ich etwas übersehen?"
Ihrer Stimme war anzumerken, dass sie Angst verspürte.
„Alles in Ordnung, Hikari", sagte Akagi beruhigend. „Ich wollte dir nur ein neues Gesicht vorstellen, das du vielleicht öfters im Hangar sehen wirst."
„Ja…"
Akagi positionierte sich neben Peters.
„Das ist Leutnant Peters' aus Deutschland, er verstärkt das Team im Kontrollraum und hat das Kommando, wenn ich nicht da bin."
„Ja, gut. – Ahm, guten Tag."
„Hallo."
In Peters Gesicht bewegte sich keine Miene, als er ein Nicken andeutete.
„Hikari Horaki, das Fourth Child, gegenwärtig eine der EVA-03/04 zugewiesenen Piloten. – Sie machen im Augenblick Schichtdienst."
„Verstehe… Die Piloten sind alle noch so jung…"
„Ja… - Hikari, das war's schon. Was machst du gerade?"
„Ahm, Doktor Akagi, ich hole den Unterrichtsstoff auf, den wir aufgrund der Lage verpassen…"
„Du weißt ja, wenn du Fragen hast oder einfach etwas noch einmal besprechen willst, stehen dir hier alle zur Verfügung, solange sie nichts anderes zu tun haben."
Hikari lächelte verkrampft.
„Danke, Doktor Akagi."
Ritsuko ließ die Verbindung unterbrechen.
„Wir nehmen ihnen die Kindheit, machen sie zu Soldaten und lassen sie nun auch noch Wachschichten schieben. Die letzten Tage hat sich hier kaum etwas getan, weil wir in einer Sackgasse steckten – jeder hier hat Anweisung, zu solchen Zeiten den Kindern zu helfen, verstehen Sie?"
Peters nickte nur, ließ sich dann den Weg zum nächsten Waschraum beschreiben.
*** NGE ***
Eine Stunde später begann der neueste Versuch, das Protokoll des Bergungsprojektes auszuführen. Ritsuko Akagi hatte ihre besten Leute in den Kontrollraum beordert, jedes Terminal war doppelt besetzt. Akagi selbst stand am Hauptterminal und ging noch einmal die vorgenommenen Anpassungen durch.
Im Hangar hatte Kaworu Nagisa als erfahrenerer Pilot EVA-03/04 übernommen und startbereit gemacht.
Maya Ibuki teilte sich ein Terminal mit Jörg Peters, auf Anweisung Akagis sollte sie ihm speziell auf die Finger sehen und sich um alle auftretenden Fragen zu kümmern, die in den Zuständigkeitsbereich der MAGI fielen. Sie hatte nicht nachgefragt, warum Senpai Akagi diese Maßnahme verlangte – würde sie den Leutnant als Gefahr ansehen, wäre er längst nicht mehr in Raum. In gewisser Weise war Maya über jede zusätzliche Beschäftigung froh, egal wie ausgelastet sie sich eigentlich mit der Erweiterung der MAGI, dem Bergungsprojekt, dem Synchrontraining der Piloten und des Umstandes, dass auch die Ayanami-Klone offiziell ihrer Obhut unterstanden, fühlte. Solange sie beschäftigt war, konnten die Erinnerungen an den Überfall auf NERV nicht an die Oberfläche drängen…
Akagi sah auf die Uhr.
„Fünfzehnte Dezember, Zwölf Uhr mittags. Bergungsprojekt Asuka Soryu Langley, Version Dreiundvierzig. Wir beginnen!"
Ibuki blickte zur Seite, sah, dass ihr Partner die Lippen zusammengepresst hatte und schneller zu atmen schien. Die Wangenknochen traten stärker hervor und sein linkes Augenlid zuckte leicht. Er war unruhig und besorgt – und sie ahnte, dass er wusste, dass es nicht funktionieren würde…
„Kontakt zu EVA-02 hergestellt", verkündete Makoto Hyuga.
„Es funktioniert…" stieß Kyoko Soryu aus.
Wieder sah Ibuki zur Seite, sah Peters mit dem Kopf schütteln und wie sich seine Lider zu schmalen Schlitzen verengten, während er den Blick auf dem Monitor hielt.
„Stellen Sie sicher, dass alles aufgezeichnet wird…" hauchte er.
„Die MAGI speichern alles."
„ID-Signal akzeptiert… EVANGELION öffnet Kommunikationskanal… übermittle Backdoor-Code…"
Schlagartig wurde die Verbindung unterbrochen, erstarrten die Zahlen- und Symbolfolgen auf den Bildschirmen der Terminals.
„EVA-02 verweigert Backdoor-Code."
Hyuga schluckte, ehe er das Unvermeidbare aussprach: „Versuch Dreiundvierzig gescheitert."
Peters spürte eine Hand auf seiner Schulter, die ihn herumdrehte und zwang, nach oben zu sehen.
Doktor Soryus Gesicht war tränenüberströmt, doch in ihrem Blick konzentrierten sich all ihre Wut und Enttäuschung.
„Es hat nicht funktioniert! Warum hat es nicht funktioniert? Warum hat Ihre Hintertür…"
Er erhob sich, ergriff dabei ihr Handgelenk und löste ihren Griff um seine Schulter, brach dabei keinen Wimpernschlag lang den Blickkontakt.
„Doktor Soryu, die Hintertür hat funktioniert", sagte er leise.
Kyoko starrte ihn an, ließ langsam die Hand sinken.
Peters spürte die Blicke der anderen im Raum auf sich.
„Leutnant Ibuki, spulen sie die Aufzeichnung um zwei Sekunden zurück, bitte – und dann einfrieren…"
Mit weiten Schritten trat er an den Hauptmonitor, zog dabei einen zylinderförmigen Gegenstand aus dem Ärmel und betätigte einen Schalter. Ein bläulicher Lichtstrahl wurde aus einem Ende des Stiftes projiziert, mit dem er mehrere Programmzeilen langsam unterstrich.
„Hier! – Der Code hat funktioniert – aber die Hintertür wurde von Seiten des EVAs wieder zugeschlagen, um es bildlich auszudrücken! Aber soweit ich weiß, sollte der EVA nicht imstande sein, sein Programm umzuschreiben oder anzupassen. Wir wurden auch nicht von einem Virenschutz oder anderem Sicherheitsprogramm abgefangen. Und wenn…" Er machte einen weiteren großen Schritt, dieses Mal zu Akagis Terminal und deutete dort auf eine Reihe von Daten, die auf einem kleineren Bildschirm gezeigt wurden. „… das Steuerprogramm oder die taktische Künstliche Intelligenz des EVA oder das EVA-Bewusstsein selbst nicht dazu imstande sind… wer hat uns dann eben aus dem System geworfen?"
Die Frage schien sich regelrecht körperlich im Raum zu manifestieren und nachzuhallen.
„Leutnant Hyuga?"
„Ahm, Leutnant, keine Ahnung…"
„Kommen Sie, so schwer ist das nicht – nur ziemlich fantastisch!"
Er sah, dass Mayas Lippen ein Wort formten, sie es aber nicht auszusprechen und mit Leben zu erfüllen wagte.
Akagi besaß die Hemmungen nicht.
„Asuka hat uns rausgeworfen…"
Bei diesen Worten wirbelte Kyoko auf dem Absatz herum, um EVA-02 durch die Glasscheibe anzustarren und in seinen drei intakten Augen nach einem Zeichen zu suchen.
Peters nickte.
„Und das heißt trotz des Fehlschlages – wir haben ein Lebenszeichen!"
Er ballte die rechte Hand zur Faust.
„Wir müssen nur einen Weg finden, um Asukas in EVA-02 festsitzendes Bewusstsein zu erreichen und sie zur Rückkehr zu bewegen."
Akagi klatschte in die Hände.
„Sie haben es alle gehört! Volle Analyse der gewonnenen Daten. Abgleich mit den bisherigen Daten – ich will über jede noch so kleine Abweichung informiert werden!"
Peters kehrte zurück zu seinem Terminal, blieb in Mayas Rücken stehen.
„Ich hol dich da raus…" flüsterte er so leise, dass selbst Maya die Worte kaum verstand – und da sie kein Deutsch sprach, würde erst Stunden später Major Kaji es ihr nach einigem Herumgerate übersetzen.
*** NGE ***
Asuka sprang auf, als sie das Hämmern an der Hintertür hörte, riss dabei das Tablett mit der Milch und den Keksen vom Sofa, welches auf einem Zipfel ihres Bademantels gestanden hatte. Sie registrierte es nur am Rande, während sie aus dem Wohnzimmer in den Flur und von dort in die Küche lief. Die Küche hatte zwei Türen – eine zum Flur und eine, die nach draußen in den Hinterhof führte. Durch die Milchglasscheibe in der oberen Hälfte der Tür sah sie einen wuchtigen Schatten auf der anderen Seite der Tür. Dann hörte sie die Klickgeräusche, als sich jemand am Schloss der Tür zu schaffen machte.
„Asuka, was ist los da unten?" rief ihr Onkel von oben. Die schweren Schritte aus dem ersten Stock legten nahe, dass er aufgestanden war und auf die Tür seines Arbeitszimmers zuging.
Asuka stand bereits wieder im Flur. Ihr Blick hing an der Schrotflinte, die über den Kleiderhaken an der Wand befestigt war. Sie streckte sich, ihre Finger glitten über den hölzernen Gewehrkolben. Eilig holte sie die Trittleiter, welche in einer Nische neben der Haustür stand, klappte sie auseinander.
„Einbrecher an der Hintertür!" rief sie, während sie die Leiter hinaufstieg und die doppelläufige Flinte von der Wand nahm. Eine rasche Überprüfung ergab, dass beide Kammern geladen waren. Sie sprang wieder auf den Boden und trat, die Flinte unter dem Arm, wieder in die Küche.
Während die Schrittgeräusche über ihr andeuteten, dass ihr Onkel auf dem Weg zur Treppe war, richtete sie das Gewehr auf die Tür. Sie konnte den falschen Schlüssel sehen, der sich langsam im Schloss drehte, entdeckte die huschenden Schatten am Küchenfenster.
„Na wartet…" murmelte sie. „Nicht mit mir…"
Mit einem letzten Klicken wurde das Schloss geöffnet.
Der Türknauf drehte sich.
Die Tür schwang nach innen, in die Küche hinein auf.
Asuka zog erst den rechten und dann den linken Abzugshahn der Flinte durch. Unmittelbar hintereinander donnerten zwei laute, explosionsartige Schüsse durch das Haus. Die schattenhaften Gestalten an der Tür flogen zurück, lösten sich teilweise auf.
Asuka spürte eine Berührung an der Schulter, sanft und unnachgiebig zugleich, als ihr Onkel sie zur Seite schob. Seine massige Gestalt versperrte ihr den Blick auf die Tür. Sie vernahm nur ein Hämmern und ein Klopfen, während seine Arme sich wie Windmühlenflügel zu bewegen schienen und er rascher arbeitete, als ihr Auge folgen konnte. Als er zur Seite trat und die Sicht wieder freigab, wies die Hintertür eine Reihe von Vorhängeschlössern und Riegeln auf, sowie einen schweren Balken, der ihr vorlag.
„Früher oder später werden sie einen Weg finden… Ich hoffe, dass es dann nicht zu spät ist…"
„Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen, Onkel?"
Die rotgepanzerte Gestalt gab keine Antwort, begab sich stattdessen ins Wohnzimmer, wo sie damit begann, die über den Boden verstreuten Kekse aufzusammeln und die verschüttete Milch aufzuwischen.
„Asuka, es gibt nur drei Arten von Menschen: die Anführer – jene, die das Kommando übernehmen, aufbauen, inspirieren, nähren und erschaffen -, dann die Gefolgsleute – jene, die die Anführer unterstützen und auf gemeinsame Ziele zum Wohl der Allgemeinheit hinarbeiten. Und schließlich die Zerstörer… Zerstörer sind nicht in der Lage, anderen zu folgen. Ihr Hass und ihre Unsicherheit sind zu groß, zu rein, um in einem anderen Wesen Stärke zu erkennen oder es als gleichwertig anzuerkennen. Ihnen fehlt die Gabe zum Inspirieren oder zum Erschaffen – und deshalb gibt es für sie nur einen Weg: Sie reißen alles ein, was ihnen begegnet…"
„Wie meinst du das…?"
„Stell dir die Frage: Welcher Gruppe gehörst du an? – Und dann triff endlich deine Entscheidung."
Kapitel 02 – Der Endlose Schrei
Der Kontrollraum des Testcenters entsprach weitestgehend dem im Hangar, nur konnte man von diesem aus in eine große Halle mit einem mit Flüssigkeit gefüllten Becken blicken, in das eine Reihe von Testplugs eingelassen war – fünf Stück gegenwärtig, die trotz der bereits mehrere Wochen zurückliegenden Vernichtung von EVANGELION-00 mit 00 beginnend durchnummeriert waren. In Nummer 04 saß Toji Suzuhara im Rahmen seiner ersten, über die MAGI simulierten, Synchronisation.
Maya Ibuki und ein weiterer Techniker überwachten die Anzeigen und machten sich Notizen, während sie über Belanglosigkeiten sprachen, um die Stille fernzuhalten. Schließlich deutete der Techniker auf die Uhr.
„Die zwei Stunden sind um."
„Ja…"
Maya öffnete die Sprechverbindung zum Plug.
„Suzuhara-kun, wir sind fertig, du kannst aussteigen"
Ein Schnarchlaut drang aus dem Lautsprecher.
Maya und ihr Kollege wechselten einen bedeutsamen Blick. Der Mann unterdrückte nur mühsam ein Lachen.
„Wenn er nicht reagiert, gehen Sie ihn wecken." Sie wartete die Bestätigung ab, ehe sie die Empfindlichkeit des Mikrophons aufdrehte und „Suzuhara, aufwachen!" hineinbrüllte. Seltsamerweise fühlte sie sich danach besser und schienen die Stimmen sich ebenfalls vor Schreck etwas zurückgezogen zu haben.
„Wie? Was?" kam es erschrocken aus dem Plug.
„Du kannst aussteigen, wir sind fertig", murmelte Maya. Ein Gefühl von Scham stieg in ihr auf, dass sie sich hatte gehen lassen.
„Uh… ja…"
„Nicht schlecht, schläft beim ersten Training ein", lachte der Techniker leise. „Ich meine, Ibuki-san, das muss man dem Jungen schon lassen – Nerven hat er."
„Ich weiß nicht, ob sich das positiv auf die gewonnenen Daten auswirkt", sagte sie zurechtweisend mit leichter Schärfe in der Stimme, dass der andere zusammenzuckte. Die wenigsten wussten, dass sie zu einem solchen Tonfall imstande war – sie hatte aber auch vor dem Spiegel geübt, bis ihr die dazugehörende Körperhaltung und Mimik passend erschienen waren. Für die meisten, die im Hauptquartier mit ihr Kontakt hatten, war sie die stille kleine Maya… natürlich, körperlich überragte sie die Piloten gerade um einen halben Kopf, so dass davon auszugehen war, dass diese ausgewachsen größer sein würden als sie. Ihre Figur hatte auch nicht das, was man als ‚fraulich' bezeichnen würde – dafür hatte sie weniger Probleme, nette Kleidung zu finden. Aber trotz ihres doch ausgeglichenen Temperaments gab es Momente, in denen sie einen ihrer Kollegen – zum Beispiel Aoba oder Hyuga – anbrüllen wollte, sie nicht mehr Maya-chan zu nennen, als wäre sie ein Kind, egal ob sie ein Sitzkissen brauchte, um in ihrem Stuhl in der Zentrale die richtige Arbeitsposition am Terminal einnehmen zu können oder nicht. Selbst bei Colonel Katsuragi war sie sich nicht sicher, ob sie bei dieser nicht irgendwelche merkwürdigen Mutterinstinkte ansprach. Wenigstens Senpai Akagi behandelte sie nicht wie ein Kind, sondern wie eine geschätzte Mitarbeiterin.
Umso mehr Schwierigkeiten machte es Maya, sich einzugestehen, dass die in ihrem Kopf wiederhallenden Echos zu einem Problem werden könnten. Sie hatte zu lange gearbeitet, um ihre Position zu erreichen, als dass sie es wagen wollte – und konnte – Zweifel an ihrer geistigen Integrität aufkommen zu lassen. Doch genau so weit würde es kommen, wenn sie nicht bald ein paar Nächte durchschlief. Sie wusste nur nicht, wem sie sich anvertrauen sollte – ihre Hausärztin war mit einer der letzten Abwanderungswellen aus Tokio-3 verschwunden, noch bevor die Armee zugeschlagen hatte. In Matsushiro gab es eine Arztpraxis gleich bei ihrer Wohnung um die Ecke, aber dazu müsste sie sich aus dem Hauptquartier wagen und zudem sich auf nicht näher bestimmte Zeit abmelden, was Fragen provozieren konnte. Senpai Akagi konnte ihr sicher ein Schlafmittel verschreiben, aber diese sollte in Mayas Augen als allerletzte erfahren, wie es um ihre inoffizielle Stellvertreterin bestellt war…
Sie beobachtete, wie Suzuhara in seiner Badehose den Testplug verließ, herzhaft gähnte und nach dem Bademantel angelte, der über der Reling des Steges neben dem Plug hing, beneidete ihn eigentlich um die Fähigkeit, selbst in einem Plug schlafen zu können – auch wenn dies seine Befähigung als Pilot doch leicht in Frage stellte.
Der Techniker begann mit dem Herabfahren der Systems – da die Piloten Horaki und Nagisa sich in Bereitschaft hielten und ansonsten keiner verfügbar war, hatte es keinen Sinn, das Testcenter ständig in Betrieb zu halten. Maya schloss den Vorgang ab, indem sie ihren Schlüssel aus dem Terminal zog und sich um den Hals hängte.
„Suzuhara, morgen Nachmittag zur selben Zeit."
Durch das Fenster sah sie, dass der Junge eine Hand hob und eine bestätigende Geste machte. Der Techniker beendete seine Tätigkeit und verabschiedete sich ebenfalls in den Feierabend.
Maya hatte jetzt anderthalb Schichten hinter sich und würde den Rest voraussichtlich damit verbringen, die gewonnenen Daten zu sichten, nach den Ayanamis zu sehen und die Fortschritte der übrigen Kinder zu überprüfen. Vielleicht würde sie nach der Schicht noch Major Kaji fragen, ob dieser bei seinen Ermittlungen ihre Hilfe brauchte… Alles, um nicht mit den Erinnerungen in ihrem Quartier allein zu sein…
Als sie den Kontrollraum verließ, schaltete sie das Licht ab. Der Raum hatte zwei Ausgänge, einer zum Testareal hin und einen weiteren, der in einen Verbindungsgang zum Hangarkontrollraum führte. Der Gang war vielleicht zwanzig Meter lang und hatte Türen, die zu beiden Seiten abgingen – Lagerräume, Büros, Sanitäre Einrichtungen. Die Beleuchtung erhellte jeden Winkel, ließ keine Schatten, keine dunklen Ecken. Darüber war Maya froh, schließlich spielte ihr ihre Vorstellungskraft bereits genug Streiche.
Sie passierte eine offenstehende Tür, blieb stehen, ging einen Schritt zurück, sah in den Büroraum dahinter.
Der Schreibtisch war an eine Wand gerückt worden, auf ihm saß Leutnant Peters, neben sich seinen Laptop, einen Notizblock in der Hand, und starrte die gegenüberliegende Wand an.
Maya klopfte zwei Mal kurz und trat ein.
„Sie sind ja auch noch hier, Herr Peters."
Jetzt konnte sie sehen, dass die andere Längswand vom Boden bis zur Decke mit Computerausdrucken vollgehängt war - Diagramme, Seiten mit Zahlenkolonnen, Tabellen und Übersichten.
„Ibuki-san", nahm Peters sie zur Kenntnis, während er etwas auf seinen Zettel kritzelt.
„Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht hingelegt – der Flug war sicher lang und dann haben Sie gleich die Arbeit aufgenommen… und nicht zu vergessen der Jetlag…"
„Ich kann mich ausruhen, wenn ich sechs Fuß unter der Erde liege", murmelte er.
Sie erstarrte.
Er sah auf, es schien, als hätte er sich auf die Zunge gebissen.
„Tut mir leid, das war etwas drastisch formuliert. Geben Sie mir noch eine Chance – ich habe das Gefühl, dass jede Minute zählt."
„Ich… verstehe…"
Sie wollte sich schon abwenden und gehen, als sie innehielt und einen Schritt in den Raum tat.
„Asuka bedeutet Ihnen etwas, nicht wahr?"
Peters ließ sich Zeit mit der Antwort, suchte Mayas Blick.
„Nicht dass, was Sie vielleicht denken", sagte er dann leise.
„Es geht mich auch nichts an… Sie studieren die Auswertungen der Aufzeichnungen, die ich Ihnen gemacht habe, nehme ich an?"
„Ja. Ich habe ein paar Ideen, ein paar Ansätze… ich werde Sie morgen wohl um weitere Unterlagen bitten."
„Senpai Akagi meinte, Sie würden morgen Ihre Freigabe für die MAGI erhalten. Major Kaji und Sektion II sind aktuell etwas beschäftigt."
„Doktor Akagi lässt mich an die MAGI? Ich bin überrascht."
„Warum? Soweit ich weiß, haben Sie auch in Deutschland mit einem MAGI-System gearbeitet."
„Ich habe einen der Rechner getötet."
„Ahm…"
„Es bringt wohl nichts, wenn ich warte, bis es jemand anders sagt."
„Wie haben Sie das geschafft? Und warum?"
„Tag des Angriffes auf NERV, unser System stand unter fremder Kontrolle, die Einheit Georg wollte die Selbstzerstörung auslösen, widersetzte sich allen Kommandos. Ich wollte die manuelle Notabschaltung betätigen, aber der Rechner verfügte über interne Abwehrmechanismen und alles, was ich mit den mir verfügbaren Mitteln machen konnte, war ihm einen gehörigen Elektroschock zu verpassen, der die Biokomponente erledigt hat. Seitdem durfte ich auf Anweisung unserer dortigen Chefwissenschaftlerin nicht mehr an die Rechner, was es etwas erschwert hat, an einer Lösung des Problems mit EVA-02 zu arbeiten."
„Sie klingen wütend."
„Sagen wir es so – ich werde mich hüten, schlecht über meine Vorgesetzte zu sprechen. Ich gehe davon aus, dass ich spätestens in zehn Tagen zurückgeschickt werde."
„Zehn Tage… - wenn Sie Asuka nicht herausholen können? Wenn ihre Egoformation zerbricht?"
„Erfolg oder Misserfolg ist egal. Wenn meine Arbeit beendet ist, wird man mich fortschicken – wie immer."
„Leutnant…"
Seine Mundwinkel zuckten kurz, ehe sich ihre Blicke wieder trafen.
„Ibuki-san, Ihnen geht es nicht gut."
„Wie…"
Sie blickte ihn aus großen Augen an und sah in seinem Blick, dass er sie durchschaut hatte.
„Einen Trickser kann man nur schwer täuschen", murmelte er. Mit normaler Lautstärke fragte er: „Wann haben Sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen, wann erholsamen Schlaf gehabt?"
„Woher wissen Sie das?"
„Ich sehe es in ihren Augen, ich kenne diesen Blick aus dem Spiegel, diese Müdigkeit, diese Furcht vor dem Einschlafen. Welche Bilder verfolgen Sie? Zerstörungen? Leichen? Blut?"
„Ich höre Stimmen in meinem Kopf… Schreie… die Schreie von Verletzten und Sterbenden, Schüsse, Explosionen, stampfende Schritte… während des Angriffes auf NERV war ich an der Kommunikationsphalanx in der Zentrale. Seitdem verfolgt es mich. Ich bin nicht verrückt… ich meine, andere hören Stimmen, die es nicht gibt, bei mir sind es Erinnerungen. Ich habe ein perfektes audielles Gedächtnis, ich vergesse keine Stimme, kein Wort, kein Geräusch, das ich je gehört habe…"
„Hm…" Peters griff in seine Hosentasche und holte ein kleines Tablettenröhrchen hervor, welches er Maya zuwarf. „Lesen Sie sich die Inhaltsstoffe durch… Ich schaffe es manchmal, zwei, vielleicht sogar drei Tage ohne auszukommen…"
„Agh… Sie auch?"
Er blickte zu Boden.
„Es steht ohnehin in meiner Akte. Ich sehe die Zerstörungen des Impacts immer und immer wieder. Als wir heute in die Stadt einfuhren, hatte ich ein Déjà-vu, als wäre ich wieder… sechs und im Jahre 2000."
Maya betrachtete unschlüssig das Röhrchen in ihrer Hand, setzte sich dann neben Peters auf die Tischplatte.
„Wir sind uns also ähnlich."
„Wir sind beide offiziell kaputt. Und ich möchte meine Hand dafür ins Feuer legen, dass wir nicht allein sind. Ihr Kollege, Caption Aoba… er scheint Furcht vor engen Räumen zu verspüren. Die drei Damen, mit denen ich heute schon gearbeitet habe, haben eine instinktive Furcht vor den EVANGELIONs. Der Techniker Nakamura… hm, ich würde sagen, so wie er seinen Arbeitsplatz ausgeleuchtet hat, hat er Angst vor der Dunkelheit oder ähnliches…"
„Woher wissen Sie das alles?"
„Ich beobachte. Ich erkenne meinesgleichen. Und wenn Sie gewohnt wären, auf dieselben Dinge zu achten wie ich, würden Sie es auch sehen."
„Ihr Akzent ist beinahe fort. Heute Vormittag sprachen Sie ganz klar wie ein Ausländer, doch mittlerweile…"
„Ich lerne Sprachen schnell, ich scheine eine Begabung dafür zu haben. Ich passe mich an, vielleicht weil ein Teil von mir hofft, dann nicht fortgeschickt zu werden."
„Fortgeschickt…" wiederholte sie. „Sie wurden schon oft… fortgeschickt…, nicht wahr?"
„Ich reise mit leichtem Gepäck", sagte er ausweichend. „Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle, werden Sie sie nicht vergessen?"
„Selbst wenn ich es wollte…"
Sie blickte ihn leicht erschrocken an, schien ihn mit ihrem Blick zu bitten, ihr nicht vielleicht noch mehr aufzuladen.
„Ich wurde sieben Tage nach dem Impact auf dem Meer gefunden. Ein Fischkutter, der sich mit angeschlagenen Maschinen den ganzen Weg von Island aus zurück durch den Nordatlantik und die Nordsee gebahnt hatte, fischte mich aus dem Wasser. Sie sagen, ich hätte mich an Trümmerstücke geklammert, Holzplanken, Trümmer eines Schiffes, dessen Name niemand je in Erfahrung bringen konnte. Keine anderen Überlebenden, ich hatte keine Identifikationsunterlagen – und keine Erinnerungen. Es gab mich auch auf keinen Aufzeichnungen – nicht dass übermäßig lange nachgeforscht worden wäre, Sie dürfen nicht vergessen, dass gerade der Weltuntergang stattgefunden hatte. Man könnte sagen, meine Erinnerung setzt erst an diesem Tag ein. Sie schätzten mich auf sechs Jahre – ich weiß nichts über die ersten Jahre meines Lebens, Eltern, Verwandte… im Krankenhaus meinten sie, ich hätte sicher einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen, dazu das kalte Wasser, der Hunger und Durst, die Erschöpfung, der Blutverlust – ich hatte eine Beinverletzung… sie wollten mir eigentlich das Bein abnehmen, aber zu meinem Glück gab es genug andere Verletzte, die noch dringender versorgt werden mussten… aber, nun… meine Erinnerungen setzen damit ein, dass ich aus dem Wasser gezogen wurde, es sind schwammige, unscharfe Erinnerungen. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist die Einfahrt in den Hafen von Hamburg, den Heimathafen des Kutters. Die Besatzung hatte eine Woche gekämpft und gehofft, vier Männer von einstmals sechs, die nur nach Hause wollten zu ihren Familien und Lieben. Aber die Stadt war zerstört, als hätte ein Riese mit den Hochhäusern gekegelt, als wären Titanen die Elbe hinaufgewatet, hätten Brücken und Anleger abgerissen, Lagerhäuser fortgetreten und ganze Viertel einfach verschoben. Und es war so still… totenstill… Dann das Krankenhaus… voller Panik, Angst, Unruhe… die Ärzte entschieden schließlich, mich wegzuschicken, ich war die Ressourcen nicht wert, nur menschliches Treibgut ohne Fürsprecher, namenlos und unwichtig. Seitdem ist mein rechte Bein leicht steif – aber besser als ab, oder? Ich kam in ein Waisenhaus zu den Barmherzigen Schwestern des Heiligen Petrus, die gaben mir einen Namen und schätzten mich auf sechs Jahre. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war ich bei insgesamt sieben Pflegefamilien, doch jede schickte mich zu den Nonnen zurück – ich wäre seltsam, kein normales Kind, nicht das, was sie sich erhofft hatten… dabei wollte ich nur lernen. Um die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, versuchte ich, sie mit anderen zu ersetzen. Ich sog alles Wissen auf, was ich finden konnte. Ich lernte Sprachen, lernte auf vielerlei Weise zu kommunizieren. Als ich in Asukas Alter war, hatte ich die Schule abgeschlossen. Die Schwestern hatten längst aufgegeben, mir Pflegeeltern besorgen zu wollen. Mit einem Stipendium konnte ich die Universität besuchen und Mathematik und Computerwissenschaften studieren… eine neue Sprache, eine neue Welt, mehr Bilder. Ich war im letzten Jahr, als einer der Professoren von der Mathematischen Fakultät, der auch an der UN-Akademie unterrichtete, mich ansprach, ob ich einer seiner Studentinnen Nachhilfe geben könnte. Theorie der Sechsdimensionalen Mathematik ist schon ein kompliziertes Thema. Meine Schülerin war natürlich Asuka, das war vor über vier Jahren. Sie erzählte nicht viel, aber es machte mich neugierig. So bewarb ich mich für ein Praktikum bei NERV – und wurde angenommen. Natürlich erfuhr ich kaum etwas, aber das machte mich noch neugieriger. Ich machte meinen Abschluss und ging dann zu NERV zurück, dieses Mal als Angehöriger der Organisation – ich kann wohl sagen, dass sie mich mit Kusshand nahmen als Verstärkung ihres Technikerteams in der deutschen Zweigstelle. Tja… seit über drei Jahren habe ich an den Systemen von EVA-02 gearbeitet, die Synchronverbindung optimiert. Ich kenne das System bestens. Deshalb bin ich heute hier, deshalb wurde ich angefordert, weil ich die erforderliche Sprache beherrsche. Mein ganzes Leben haben andere meine Talente und Fähigkeiten zu ihrem eigenen Besten genutzt, aber nicht Asuka. Sobald ich meine Schuldigkeit getan hatte, konnte ich gehen, war ich nicht mehr interessant, wurde ich fallengelassen. Irgendwann gab ich es auf, dazugehören zu wollen, hatte genug von den seltsamen Blicken. Sie hat mich nie so angesehen – und der EVA auch nicht. Deshalb bin ich heute hier, deshalb bin ich nach Tokio-3 gekommen. Es ist meine Pflicht, einem Freund gegenüber. Ich habe nicht genug Freunde, als dass ich auch nur einen im Stich lassen könnte."
Peters stand auf, tat ein paar Schritte durch den Raum, blieb vor der Wand mit den Diagrammen und Ausdrucken stehen.
Maya verstand nun, warum er immer sein Gewicht auf das linke Bein zu verlagern schien, wenn er stand – das rechte ließ sich nicht ganz strecken.
„Sie wissen nicht, woher Sie kommen, oder wer Sie wirklich sind?"
„Nein. Niemand hat je nach mir gesucht und in den Unterlagen, welche den Impact überstanden hatten, gibt es mich nicht. Ich habe in den Jahren immer wieder nachgeforscht, mich in Diskussionsforen und andere Plattformen eingeklinkt. Und nun habe ich mir eine Identität geschaffen."
Er breitete die Arme aus.
„Der Impact hat mich quasi erschaffen. Ich bin ein Kind dieser neuen Zeit – so wie Sie auch, Ibuki-san."
„Trotzdem… es muss traurig sein, nicht zu wissen, woher man kommt und wo die eigenen Wurzeln liegen."
„Hm… erlauben Sie, Ibuki-san… Ich denke, Sie kommen aus einer relativ wohlhabenden Familie. Einzelkind oder jüngstes Kind von nicht mehr als zweien, in letzteren Fall Altersunterschied von wenigstens fünf Jahren. Ein Elternteil war immer abwesend, wahrscheinlich am Arbeiten, wahrscheinlich Ihr Vater."
Er beobachtete mit einem Anflug von Befriedigung, wie sie ihn erst anstarrte, während er seine Schlussfolgerungen wie ein Maschinengewehr runterratterte, dann aufstand und, ohne den Blick von ihm abzuwenden, sich langsam an der Wand entlang zur Tür schob.
„Angesichts Ihrer Begeisterung für Wissenschaft und Technik schätze ich, dass er auch auf diesem Gebiet tätig war und Sie gewissermaßen in seine Fußstapfen getreten sind. Ferner denke ich, dass er in Ihrem Umfeld während und nach dem Impact eine bedeutende Rolle gespielt hat, vielleicht gehörte er zu den prominenten Charakteren, die scheinbar in den Augen eines Kindes die Katastrophe abgewendet und alles zum Guten gebracht haben. Wie weit liege ich daneben?"
Als hätte die letzte Frage einen Bann gebrochen, blieb Maya stehen, die Hand schon nach der Türklinge ausgestreckt.
„Es… stimmt fast alles. Ich habe keine Geschwister. Meinen Großeltern gehörte eine große Elektrikerfirma. Mein Vater sollte den Betrieb einmal übernehmen, deshalb arbeitete er immer bis in die Nacht. Und nach dem Impact haben mein Großvater, mein Vater und seine Kollegen die Stromleitungen wieder instandgesetzt, das örtliche Kraftwerk zum Laufen gebracht… dank ihnen hatten wir wieder Licht und Wärme… Ah…"
Maya stieß hörbar die Luft aus.
„Wie machen Sie das?"
„Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, die nur augenscheinlich ruhig war. In Wirklichkeit war es eine Schlangengrube – oder meinetwegen ein Wespennest -, in der keiner dem anderen etwas gönnte. Da lernt man aufzupassen und achtzugeben. Ich habe recht früh gelernt, die Körpersprache anderer zu lesen. Und wenn man erst den individuellen Dialekt verstanden hat, fügt sich ein Puzzleteil an das nächste. – Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber vielleicht verstehen Sie jetzt, warum man mich für merkwürdig hält."
Peters wandte Maya den Rücken zu, legte eine Hand auf ein Papier an der Wand.
„Sie lassen niemanden wirklich an sich heran, nicht wahr?"
Damit verließ sie den Raum.
Ein dünnes Lächeln umspielte Jörg Peters Lippen.
„Wenn man zu lange in den Abgrund blickt, blickt der Abgrund irgendwann in einen zurück…" murmelte er bei der Erkenntnis, dass Maya ihn durchschaut hatte.
*** NGE ***
„Erste Ergebnisse."
Major Ryoji Kaji durchquerte das Büro des Kommandanten und ließ sich in einem der Sessel vor dem Schreibtisch nieder. Mit einer Mischung aus Seufzen und Ächzen streckte er die Beine aus und legte seinen Gehstock auf den Boden.
„Mal sehen, wie lange ich das verdammte Ding noch brauche…"
„Deine Muskulatur muss erst wieder richtig in Gang kommen und das Narbengewebe sich daran gewöhnen, dass du nicht nur im Bett liegst", kommentierte Ritsuko Akagi von der Seite. Die blonde Wissenschaftsoffizierin von NERV saß in einem identischen Sessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches saß Kozo Fuyutsuki leicht vorgebeugt, die Hände erwartungsvoll gefaltet auf der Tischplatte liegend.
„Nun, Major?"
„Dank der Hilfe unserer Ayanami-Division konnten wir einigermaßen professionell den Tatort sichern und Spuren sammeln. Gefundene Fingerabdrücke werden gegenwärtig verglichen, DNA-Spuren analysiert. Zum Opfer: Iewoko Hanaka, Angestellte im Archiv in leitender Position. Gestorben vor etwa zwei Tagen, Dana und Lisa grenzen gerade den Todeszeitpunkt weiter ein."
„Kaji…" setzte Ritsuko kann und in ihrer Stimme schienen Eiswürfel zu klirren. „Lisakenne ich ja inzwischen, aber wer ist Dana? Du hast doch nicht wieder…"
„Ah, Ritsuko, die Mädchen brauchen andere Bezeichnungen als Nummern, wenn sie je zu vernünftigen Individuen werden sollen."
„Und deshalb gibst du ihnen ausländische Namen, ohne vorher Rücksprache halten zu können?"
„Du kannst immer noch Papiere mit japanischen Vornamen ausstellen, Doppelnamen, Spitznamen, Künstlernamen…"
„Du prägst sie. Die Ayanamis neigen instinktiv dazu, sich in eine Rolle einfügen zu wollen, das ist einfacher, als eine eigene Identität zu entwickeln. Eikyu hat zu Beginn mich nachgeahmt, bis ich sie ins Gebet genommen habe."
„Oh, wo steckt deine Assistentin eigentlich?"
„Ist mit Reika bei den Horakis, Suzuharas Schwester, den drei Kleinen und PenPen."
Fuyutsuki klopfte mit den Fingerkuppen sacht auf die Tischplatte. Er kam sich vor wie ein Vater, der seinen Kindern beim Streiten zusah.
„Könnten wir uns wieder dem Wesentlichen zuwenden?"
„Ja, natürlich, Subkommandant. Also, Iewoko Hanaka, vor etwa achtundvierzig Stunden verstorben. Sie weist mehrere Stichwunden auf und postmortale Verletzungen. Der Täter scheint die Leiche durch den Archivtrakt geschleift zu haben, darauf deuten auch Blut- und Schleifspuren auf dem Boden und an den Wänden hin. Von den Stichwunden war eine in die Brust unmittelbar tödlich, die anderen hätten aufgrund von Organverletzungen und Blutverlust aber auch zum Tode geführt. Was für eine Waffe benutzt wurde, ist noch nicht sicher, unsere Auswertung tendiert im Augenblick entweder zu einer sehr scharfen Klinge oder einer Vibrationswaffe."
„Vibrationswaffe…?"
„Du meinst, einem Produkt der PROGRESSIVE-Technologie?"
„Genau. Ich hoffe natürlich, dass ich falsch liege und die Obduktion Metallsplitter oder –partikel in den Wunden findet. Aber ich lasse bereits eine Liste zusammenstellen, wer alles Zugriff zu den Entwicklungsmodellen für die EVA-Waffen hatte. Des Weiteren grenze ich den Kreis der Verdächtigen auf diejenigen ein, die sich vor zwei Tagen im Hauptquartier befunden hatten. Leider ist nicht sicher, ob es wirklich ein NERV-Angehöriger war oder ob es die Tat eines Außenstehenden war, der in die Einrichtung eindringen konnte. Zu beachten ist nämlich, dass vor zwei Tagen die Archivsektion eigentlich noch versiegelt war."
„Ich nehme an, Major, dass die Verstorbene bei der Versiegelung eingeschlossen wurde?"
„Korrekt."
„Könnte ihr Mörder mit ihr eingesperrt worden sein?"
„Das können wir wohl ausschließen. Ich konnte eine Art Tagebuch sicherstellen, es wird gegenwärtig im Labor noch untersucht, ich habe aber die Seiten abfotografiert und ausgedruckt. Hanaka und drei andere Archivangestellte hielten sich im Archiv auf, als die Armee angriff und Evakuierungsalarm ausgelöst wurde. Leider liefen sie direkt einem Vorabkommando der Ostarmee in die Arme, Hanaka konnte als einzige entkommen, so wie sie es schildert. Sie konnte unverletzt ins Archiv zurückgelangen und löste dort unter Überbrückung der Schlüsselschaltung die Versiegelung aus. Die Frau hat sich selbst freiwillig eingemauert, um den Eindringlingen die Abkürzung durch das Archiv zu verwehren. Allerdings hatte ihr Eingriff ins System zur Folge, dass die ganze Sektion abgeriegelt und alle Zugänge versiegelt wurden, außerdem wurde die Energieversorgung der Überwachungsanlagen unterbrochen. Sie saß nun in der Falle. Keine Kommunikation nach draußen, aber wenigstens ein Notstromaggregat, dank dem sie die ersten zwei Wochen Licht hatte, danach war sie auf Taschenlampen angewiesen. Der Archivtrakt liegt ringförmig um einen der Schächte, die in den Mantel der Geofront gebohrt wurden sind, so dass es auch Frischluft gab. Essen und Trinken lieferten zwei Automaten im Aufenthaltsraum der Belegschaft – sie hat beide aufgebrochen und geplündert. So gesehen hat sie sich wunderbar die vier Wochen über gehalten. Wenn wir zwei Tage eher das Archiv erreicht hätten…"
„Es ist leider einer der abgelegensten Plätze innerhalb des Hauptquartiers. Und wenn die Überwachung nicht funktionierte, gab es auch keinen Anlass, dort einen Überlebenden zu vermuten."
Fuyutsuki war anzusehen, dass er mit seinen eigenen Erklärungsansätzen nicht zufrieden war.
„Hanakas letzter Tagebucheintrag besagte, dass sie meinte, jemanden zu hören, dass Hilfe endlich käme. Ich denke, stattdessen kam ihr Mörder."
„Stellt sich die Frage, warum sie sterben musste."
„Ja, war Iewoko Hanaka das Ziel – aber warum hat der Täter dann nicht einfach abgewartet – oder war es etwas, dass sich im Archiv befand? – Eine Bestandsaufnahme steht als nächstes auf dem Programm, ob etwas fehlt. Aber vielleicht hast du da ein wenig Ahnung…"
Kaji reichte Akagi ein Blatt Papier, auf dem eine Buchstaben- und Zahlenfolge stand.
„Vor dieser Abteilung des Archives lag die Leiche. Das Zahlenschloss weist blutige Fingerabdrücke auf, wahrscheinlich hat der Täter die Hand seines Opfer genutzt, um den Fingerabdruckscanner zu überlistet – und ich will verdammt sein, wenn er dasselbe nicht mit dem Retinascanner gemacht hat."
„Major, ich dachte, die Sektion hatte nur Notstrom?"
„Die Sicherheitseinrichtungen an den Türen sind batteriebetrieben. Ich brauche den Zugangscode für diese Abteilung, damit der Speicher des Schlosses ausgelesen werden kann. Wenn ich die Tür aufbreche oder mir mit meinem Überrangcode Zutritt verschaffe, könnte das das System überlasten."
„Bekommst du sofort."
Akagi widmete sich ihrem Palmtop.
„Noch etwas, Major?"
Gegenwärtig nicht. Ich lasse gerade überprüfen, ob Hanaka noch Verwandte hatte und wer benachrichtigt werden muss."
„Gut, leiten Sie das dann bitte an mich weiter, ich kümmere mich darum."
„Interessant…" murmelte Akagi. „Die Abteilungsnummer kam mir zwar bekannt vor, aber ich wollte sicher gehen. Hinter dieser Tür befindet sich eine Treppe, die in einen Kühlraum führt – der andere Zugang zu diesem Raum ist immer noch versiegelt, wie ich gerade sehe."
„Und, was ist da drin?"
„Das konservierte S2-Organ des Engels Shamsiel."
Kaji hob die Augenbrauen.
„Sieht so aus, als fiele das in dein Spezialgebiet, Ritsuko. Willkommen im Team."
„Ja, wir sollten uns das besser ansehen."
*** NGE ***
Maya schritt den Flur des provisorischen Krankentraktes hinunter, blieb vor dem Zimmer Rei Ayanamis stehen, dessen Tür von zwei Klonen flankiert wurde.
„Ist… ist Doktor Akagi noch da?"
„Nein, Leutnant Ibuki", antwortete eine der beiden Ayanamis monoton.
Maya riss sich zusammen. Jörg Peters Worte hallten immer noch in ihr nach. Wie schnell hatte er sie doch durchschaut – und wie zutreffend analysiert. Ihr war, als läge ihr ganzes Wesen offen und wäre für die Welt lesbar.
„Wann ist sie gegangen und wohin?"
„Vor einer Viertelstunde. Sie war heute einundfünfzig-komma-zwei Minuten bei unserer älteren Schwester. Ihr Ziel hat sie uns nicht mitgeteilt."
„Und was macht ihr hier?"
„Sicherstellen, dass unserer älteren Schwester kein Leid zugefügt wird."
„Ahm…"
„Heute Morgen äußerte einer der behandelnden Ärzte die Absicht, unsere ältere Schwester und Pilot Ikari zu sezieren, um ihren Kern und sein S2-Organ zu untersuchen. Wir werden das nicht erlauben."
Maya trat einen Schritt zurück. In den Augen der Ayanamis lag nicht mehr diese Leere und Gleichgültigkeit. Sie glaubte, ein entschlossenes Feuer brennen zu sehen, doch vielleicht war es auch nur der Lichteinfall, der ihre Auge rubinrot aufblitzen ließ.
„Gut… dann… weitermachen…"
„Zu Befehl, Leutnant Ibuki."
Beide Ayanamis antworteten gleichzeitig und mit identischer Stimme, was dem Begriff Stereo eine neue Dimension verlieh.
Maya eilte rasch zur nächsten Zimmertür, klopfte, wartete auf das müde ‚Herein', ehe sie eintrat.
Shinji lag immer noch in seinem Bett – aber sie hatte nichts anderes erwartet, hätte er auch nur mit einem Finger gezuckt, hätte vor Ort Aufregung geherrscht wie in einem Bienenstock. Die Anzeigen der Monitore verzeichneten ebenfalls keine Änderungen, der Tiefschlaf hielt weiter an, nur eine Anzeige zeigte Ausschläge, denen zufolge der Junge träumte.
Im Raum stand in der anderen Ecke ein Feldbett und an dessen Fuß ein schmaler Schreibtisch mit einem Laptop. Am Tisch saß Yui Ikari, Shinjis Mutter, die sich seit vier Wochen weigerte, außer zu wichtigen Besprechungen den Raum zu verlassen. Wie auch bei Doktor Soryu überkam Maya jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie die Frau sah. Doktor Ikari war äußerlich keine dreißig Jahre als, also eigentlich viel zu jung für eine anerkannte Wissenschaftlerin und Mutter – wenn man davon absah, dass sie sich ihren Ruf vor über zehn Jahren erworben hatte und dann bei einem Experiment umgekommen war… Einer eigentlich Toten gegenüberzustehen, rechtfertigte in Mayas Augen durchaus ein gewisses Unbehagen. Vor vier Wochen war Senpai Akagi im TerminalDogma zurückgeblieben, um noch einen Rundgang zu machen, während sie, Maya, ins CentralDogma auf ihren Posten in der Zentrale zurückgekehrt war. Dann hatte der Angriff der Armee auf NERV begonnen – und Mayas ganz persönlicher Albtraum. Professor Fuyutsuki war ins TerminalDogma herabgefahren, um manuell die Selbstzerstörung auszulösen. Irgendetwas war dort unten geschehen – erst kehrte die fast schon abgeschriebene Asuka an der Spitze einer Armee Ayanami-Klone aus dem Dogma zurück, um den Verbindungskorridor zwischen Zentrale und Hangar zurückzuerobern, dann stieg der GREMLIN aus dem Zentralen Schacht und schließlich kamen mit der Aufzugsplattform der MAGI der Professor, mehrere Ayanamis, Senpai, Doktor Soryu, Doktor Ikari und Reika Ikari nach oben gefahren. – Und Maya war sich ziemlich sicher, dass die beiden Doktoren nicht die letzten zehn Jahre im TerminalDogma verbracht hatten, auch wenn sie keine Zugangsberechtigung zu allen Bereichen besessen hatte. Ihre persönliche Theorie ging dahin, dass Kommandant Ikari wahrscheinlich seine verstorbene Frau geklont hatte – wenn es Gendo Ikari möglich gewesen war, eine kleine Armee Ayanamis zu klonen, dann dürfte ihm das doch wohl ein Klacks gewesen sein, oder? – Nur Doktor Soryu war bei dieser Theorie ein Unsicherheitsfaktor – da Kyoko Soryu bei der Wiederholung des Experimentes, das Doktor Ikaris Leben gefordert hatte, ebenfalls zu Tode gekommen war, war sie vielleicht der Testlauf für Yui Ikari gewesen… - jetzt hätte Maya nur noch wagen müssen, ihre Theorie auszusprechen, denn bei Senpai Akagi war sie mit ihrer Frage, wo die beiden Frauen hergekommen waren, nur auf Schweigen gestoßen und diesen gewissen Blick, der ihr sagte, dass sie sich nicht weiter mit dem Thema befassen sollte. Nur gab es eben Dinge, die zu ignorieren oder zu akzeptieren man sich zwar vornehmen konnte, die deshalb aber noch lange nicht in das eigene Weltbild passten.
„Doktor Ikari… haben Sie Doktor Akagi gesehen?"
„Sie war vor über einer Stunde hier, ehe sie Rei besuchen gegangen ist."
„Sie wissen nicht, wo sie jetzt sein könnte?"
„Nein… Maya, nicht wahr?"
Maya schloss die Tür hinter sich und trat an Shinjis Bett heran.
„Ja. Ich… ich wollte nur sagen… wir machen Fortschritte bei Asuka… wenn wir sie aus EVA-02 bekommen, dann bekommt S… Doktor Akagi sicher auch Shinji-kun wieder wach. Und Rei."
„Fortschritte… das ist schön für Kyoko. Ich habe heute wieder mit Komaspezialisten weltweit konferiert. Alle sind sich einig, dass Shinjis Zustand völlig von dem eines Menschen abweicht, der im Koma liegt. Ich würde ihn gerne in eine Spezialklinik bringen, aber der Vorfall heute Vormittag hat mir die Augen darüber geöffnet, dass er außerhalb von NERV völlig schutzlos wäre."
„Dass… einer der Ärzte wollte…"
„Ja. Ich könnte ihn dafür töten."
Die Kälte in Doktor Ikaris Stimme überzeugte Maya davon, dass sie es völlig ernst meinte.
Die Tür wurde von außen geöffnet.
Ein Mädchen in Shinjis Alter kam herein. Es war nicht nur so alt wie er, es sah ihm auch sehr ähnlich, hatte fast identische Gesichtszüge und dieselbe Haar- und Augenfarbe. Wie Yui Ikari trug es einen NERV-Overall – beide waren bisher nicht dazu gekommen, sich mit anderen Kleidungsstücken auszustatten.
Auch diese Person war Maya ein Rätsel.
Offiziell hieß sie Reika Ikari und wurde als Cousine Shinji Ikaris geführt, auch wenn sie ihm eher ähnelte wie eine Schwester. Auch Reika war vor vier Wochen aus dem Dogma gekommen, ein weiteres Puzzlestück, das nicht in Mayas Theoriegebilde passen wollte. Damals hatte sie den Eindruck gehabt, das Mädchen wäre ihr und den anderen Offizieren am liebsten um den Hals gefallen und hätte sie wie alte, verloren geglaubte Freunde begrüßen wollen.
„Tante, da möchte jemand Shinji besuchen." sagte Reika vorsichtig mit Seitenblick auf Maya.
Wieder hatte Maya das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dieses ‚Tante' klang gequält und gezwungen, als würde Reika Doktor Ikari viel lieber anders nennen.
Auch Doktor Ikari wirkte gezwungen, als sie lächelte, doch das schien mehr an ihrer Müdigkeit zu liegen. Die Frau gönnte sich wahrscheinlich kaum Schlaf, sondern war ständig dabei, medizinische Berichte und Texte zu sichten und mit den Daten zu vergleichen, welche die Monitore zum Zustand ihres Sohnes lieferten.
Maya verspürte großes Mitgefühl, egal wie die Antwort auf ihre Fragen hinsichtlich des Rätsels der beiden Doktoren lautete, sie spürte, dass Shinjis Mutter unter dem Zustand ihres Sohnes litt. Während des Kampfes gegen die EVANGELIONs der Massenproduktionsreihe – der gewissermaßen vierten Generation von EVAs nach dem Prototypen, dem Testmodell und den EVAs der Serienproduktion, welche an einem geheimen Ort angefertigt worden war – war EVA-01 schwer beschädigt worden. Mehrere lanzenartige Waffen hatten die Einheit durchbohrt und eine davon hatte auch die Steuerkapsel durchstoßen und Shinji durch die Brust aufgespießt wie ein Insekt. Damals hatte Maya erfahren, dass seit dem Zeruel-Vorfall und Shinjis Assimilierung in EVA-01 ein Miniatur-S2-Organ in seiner Brust schlug. Nur diesem Organ nichtirdischer Herkunft verdankte der Junge sein Überleben, da es die Funktion des Herzens übernommen hatte, bis ihm in einer Notoperation ein Kunstherz eingepflanzt werden konnte. Allerdings war er seitdem nicht wieder aufgewacht, sondern schlief und träumte…
„Dann lass den Besuch doch bitte herein, Reika." erklärte Yui.
Zwei weitere Mädchen traten ein.
Bei dem einen handelte es sich um Hikari Horaki, das Fourth Child, frühere Mitschülerin von Shinji und Rei – da die Schule nicht mehr existierte, dachte Maya in der Vergangenheit – und gegenwärtig reaktivierte Reservepilotin. – Noch so ein großes Rätsel. Eigentlich war Hikari als Pilotin von EVA-03 vorgesehen gewesen, doch beim ersten Aktivierungslauf war der EVA von einem Engel übernommen wurden, war Amok gelaufen und hatte das Testgelände in Matsushiro verwüstete. Kommandant Ikari hatte damals befohlen, gegen den EVA als Ziel vorzugehen. Hikari hatte wochenlang danach im Koma gelegen; offiziell war der Vorfall zu einem Unfall und Versagen des Piloten erklärt worden – Maya war durchaus klar, dass der Kommandant ihn gegenüber dem Kontrollkomitee vertuscht hatte… Hikari war schließlich wieder erwacht, nachdem Senpai Akagi sie ins TerminalDogma gebracht und dort offenbar den Kern von EVA-03 gesprengt hatte. In Gedanken machte Maya sich eine Notiz, die Untersuchungsergebnisse von damals und die Überwachungsdaten zu EVA-03 rund um den Vorfall anzufordern. Sie hatte gehört, wie Senpai Akagi darüber gesprochen hatte, dass die EVAs ihre Piloten nur ungern wieder hergaben – vielleicht waren die Aufzeichnungen ja hilfreich für Jörg Peters Projekt und die Bergung Asukas… Maya erwischte sich dabei, dass sie schon wieder an den Neuankömmling dachte. Obwohl er sich doch ein wenig Mühe gegeben hatte, um sie zu vergraulen, erschien er ihr gar nicht unsympathisch. Und wenn sie seine Geschichte bedachte, konnte sie sogar nachvollziehen, dass er sich verhielt – wer keine Bindungen zu anderen zuließ, der konnte nicht verletzt und enttäuscht werden… vielleicht taute er ja etwas auf, wenn das Bergungsprojekt Erfolg hatte… wenn… Ihr Blick wanderte wie von selbst zur Uhr über der Tür. Es war keine zehn Stunden her, dass sie erfahren hatte, dass für Asuka die Zeit ablief und ihre Egoformation keine zehn Tage mehr Bestand haben würde, ehe sie zerfallen und unrettbar mit dem EVA verschmelzen würde…
Hikari wurde von Mari Suzuhara begleitet, Toji Suzuharas neunjähriger Schwester. Fast jeder kannte die Geschichte, wie der ältere Suzuhara mit seiner kleinen Schwester vor den Truppen der Ostarmee durch die Geofront geflohen war und eigentlich nur dank einer unglaublichen Portion Glück und durchtrainierten Beinen das CentralDogma erreicht hatte. Dass Mari selbst laufen konnte, verdankte sie indirekt Senpai Akagi, die ihre Operation finanziert hatte…
Hikari und Mari verbeugten sich artig vor Yui Ikari.
„Frau Ikari, dürfen wir Shinji besuchen?"
„Ja, natürlich."
Yui regelte die Belüftungsanlage des Zimmers etwas höher, mit insgesamt sechs Personen in dem fensterlosen Raum war es nicht nur eng, sondern wurde es auch rasch stickig, wenn die Umwälzer mit normaler Kapazität arbeiteten.
„Ikari-kun, Mari wollte sehen, wie es dir geht. Toji lässt dir ausrichten, dass du langsam aufwachen sollst, du bräuchtest keinen Schönheitsschlaf – er meinte noch, das helfe bei dir ohnehin nichts, aber ich sagte ihm, dass ich das nicht ausrichten würde und… oh… naja, vergiss es einfach wieder, ja? Aber es wäre schön, wenn du wieder aufwachst. Der dumme Toji hat sich nämlich in den Kopf gesetzt, EVA-Pilot zu werden, um in deiner Abwesenheit das Land zu beschützen. Ich habe Angst, dass ihm etwas geschehen könnte, er ist doch ein wenig tollpatschig, nicht dass er von einem Laufsteg fällt oder ihm im Hangar ein EVA auf den Fuß tritt…"
Hikari blickte zur Seite.
„Frau Ikari, kann ich Mari kurz hierlassen? Ich würde gern noch bei Rei vorbeisehen."
„Natürlich. Es tut Shinji sicher gut, wenn mal jemand anders im Raum ist…"
Dabei galt ihr Blick den Bildschirmen, die aber keine Veränderungen aufzeigten.
Maya rechnete eigentlich fest mit einem leisen Seufzen und war dann beeindruckt, dass die Frau nach außen hin Stärke demonstrierte.
Mari Suzuhara setzte sich auf die Bettkante, während Reika Doktor Ikari einen Block reichte.
„Meine Aufgaben von heute", sagte Reika leise, was mit einem Nicken quittiert wurde.
„Ah, ah!" Mari sprang wieder von der Bettkante und drückte Maya einen ähnlichen Block in die Hand. „Ich habe auch alles fertig, Maya-sensei."
Maya nahm den Block lächelnd entgegen.
„Fein, Mari-chan. Ich sehe es mir bis morgen an."
Kaworu Nagisa, Toji Suzuhara, Hikari Horaki, Nozomi Horaki, Mari Suzuhara und über drei Dutzend Ayanamis waren ihr und ein paar anderen NERV-Angehörigen quasi zugewiesen worden, damit sie ihnen als Ansprechpartner dienten. Dass die Ayanamis im Hauptquartier blieben, lag auf der Hand, dafür hätte Senpai Akagi ihr nicht von Major Kajis Demonstration am Vormittag berichten müssen. Die Piloten hatten Bereitschaft, Maris einziger noch lebender Angehöriger – der Vater – arbeitete im Hauptquartier und für Nozomi lag offiziell die Vormundschaft bei der volljährigen Schwester Kodama, die Realistin genug war zu erkennen, dass sie sich nicht um sie kümmern konnte. Allerdings hatte die älteste der Horakischwestern aus der Not eine Tugend gemacht und sich von NERV anstellen lassen, so dass sie nun in der wiedereröffneten Kantine tätig war, bis ihre rechtlichen Angelegenheiten geklärt und entschieden war, welche Entschädigung den Schwestern für den Tod des Vaters von Seiten der Regierung zustand. Jemand hatte die Gruppe von Kindern als NERVs Kindergarten bezeichnet. Da abzusehen war, dass sie im Folgejahr wieder die Schule besuchen würden, taten Maya und ihre drei Kolleginnen Kaede Agano, Satsuki Ooi und Aoi Mogami einiges, damit sie nicht zu weit zurückfielen. Der Schulunterricht in Tokio-3 war ohnehin nicht im Takt mit dem Rest von Japan gewesen mit dem Schuljahresbeginn zur Jahresmitte statt dem Jahresanfang, aber das war den ganzen UN-Mitarbeitern geschuldet gewesen, die mit ihren Familien in der Stadt gewohnt hatten.
Mari kehrte an die Seite des Schläfers zurück.
„Weißt du, Shinji, das ist gar nicht toll, dass du immer nur schläfst. Onee-chan sagt zwar, du bist sehr müde gewesen und müsstest dich noch ausruhen, aber Toji braucht dich. Er sagt, unter den ganzen Mädchen wird er noch wahnsinnig. Also wird ganz schnell gesund, ja?"
*** NGE ***
Die beiden wachehaltenden Ayanamis hatten Hikari anstandslos in Reis Zimmer gelassen. Die äußerlich völlig identischen Mädchen waren Hikari absolut unheimlich. Der Verdrängungsmechanismus, mit dem sie sich einredete, dass Rei halt eine große Familie – eine sehr große Familie – hatte, funktionierte angesichts von fast vierzig Schwestern nicht wirklich. Und sie war alt genug, um nicht nur die Ohren offenzuhalten, sondern auch eine ganze Menge zu verstehen. Demnach waren die Ayanamis auch noch genetisch identisch wie eineiige Zwillinge. Aber immerhin begegneten sie ihr mit einer gewissen Achtung und hoben immer wieder Hikaris besonderen Stand als gute Freundin ihrer älteren Schwester hervor.
Hikari ließ die Zimmertür angelehnt, zog sich den Stuhl heran und setzte sich schweigend neben Reis Bett, als rechne sie damit, dass die andere als erste etwas sagen würde. Schließlich brach sie aber das Schweigen, als es erdrückende Dimensionen annahm.
„Ayanami, vor einem Jahr hätte ich das nicht für möglich gehalten, aber du fehlst mir."
Damit stand sie auf und verließ den Raum wieder.
*** NGE ***
Ritsuko Akagi und Ryoji Kaji standen am Tatort. Beide hatten große, eigentlich schon scheinwerferartige Taschenlampen bei sich, deren Lichtkegel über die Wände und den Boden geisterten. Die Schuhe steckten in Plastiküberzügen und an den Händen trugen sie Einweghandschuhe.
Ein weißer Kreideumriss markierte den Fundort der Leiche. Metallene Aufsteller mit Zahlen standen an den Orten gesicherter Spuren. Ein leicht schmieriges Pulver bedeckte fast alle glatten Oberflächen.
„Die Mädels waren fleißig. Haben Fingerabdrücke genommen wie die Weltmeister. Die haben das Handbuch zur Spurensicherung regelrecht verschlungen und sich dann an die Arbeit gemacht."
„Hast du ihnen auch eine Berufskleidung verordnet?" fragte Akagi und nickte in Richtung einer Ayanami, die einen schwarzen Anzug mit Krawatte und weißem Hemd trug, sowie eine dunkle Sonnenbrille in die Stirn hochgeschoben hatte.
„Nein…" antwortete Kaji mit leichter Unsicherheit in der Stimme.
„Das meinte ich – sie suchen sich jemanden oder etwas zum Nachahmen. Als ich von der Krankenstation entlassen wurde, fand ich Eikyu in meinem Labor. Sie sah aus wie ich – dieselbe Kleidung, die Haare blond gefärbt, dunkle Kontaktlinsen, sogar ein Muttermal auf der Wange."
„Oh, das hätte ich gerne gesehen – hast du Fotos gemacht?"
„Nein, ich habe auf dem Absatz kehrtgemacht und bin in die nächste Damentoilette, damit mich niemand schreien hört. Und dann hatte ich mit ihr ein sehr, sehr langes Gespräch darüber, dass ich mich zwar geschmeichelt fühle und Nachahmung die höchste Form der Anerkennung sei, aber sie ihren eigenen Weg gehen und ihren eigenen Stil finden müsse."
„Hat es funktioniert?"
„Es gab da noch eine kurze Phase, in der sie Doktor Ikari optisch nachgeahmt hat, aber inzwischen scheint es überwunden."
„Na also."
„Ja, Kaji, aber du hast hier eine Rei in Schwarz. Wir haben die Jungs von Sektion-II immer scherzhaft als unsere Männer in Schwarz bezeichnet – zieh zu, dass du am Ende kein Monster schaffst."
„Verstehe. Ich werde darauf achten."
„Gut… hast du alles dabei? Ich mache jetzt die Tür auf. Es ist gut, dass ihr hier den Strom noch nicht wieder eingeschaltet habt, die Spannungsschwankung hätte möglicherweise den Speicher des Schlosses gelöscht."
„Worauf der Mörder vielleicht spekuliert hat. Gut…"
Er gab der Ayanami ein Zeichen, welche einen Ausrüstungskoffer anhob und zu ihnen brachte.
Akagi gab ihren Code in das Türschloss ein. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen, als die Dichtungen sich lösten und Luft in den Gang dahinter strömte. Die blonde Wissenschaftlerin unterdrückte ein Keuchen, als sie im Licht der Lampen eine breite Blutspur sichtbar wurde.
„Er hat sie hier reingeschleift und die Treppe runter – das erklärt die Prellungen und sonstigen postmortalen Verletzungen. Foxy, dokumentieren. Unten am nächsten Schloss…"
„Fingerabdrücke nehmen, ich weiß." kam es leicht gereizt zurück, dass Kaji Akagi überrascht ansah.
Diese hob nur die Schultern.
„In Ordnung… sie weiß offenbar, was sie machen muss…" murmelte Kaji, während er eine Klappe in der Wand öffnete und sein Lesegerät an den Speicher des Türschlosses anschloss, um diesen auszulesen. „Die Tür wurde in den letzten vier Wochen nur drei Mal geöffnet – gerade eben und zwei Mal kurz hintereinander vor zwei Tagen. Damit hätten wir wohl in etwa den Todeszeitpunkt. Dann mal weiter."
Er seufzte, als sie an der Treppe ankamen.
„Vierzig Stufen…"
„Komm, die nimmst du doch wie ein junger Gott."
„Mit dem Ding hier", er hob demonstrativ den Gehstock, den er statt einer Krücke benutzte, „komme ich mir eher wie ein vorsintflutlicher, vergessener, toter Gott vor. Na, los – geh am besten vor, dann kannst du mich auffangen, falls ich stolpere."
„Aber natürlich doch…"
Akagi rollte mit den Augen.
„Dass ihr alle dieses Schauspiel immer noch aufrechterhalten müsst… Ich weiß, dass es dir dreckig geht und die Rekonvaleszenz noch dauert. Du bist dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen."
„Naja, Ritsuko, so knapp war es noch nie… da fängst du an nachzudenken, was du bisher mit deinem Leben angefangen hast und was du besser machen könntest."
„Und da hast du Misato einen Antrag gemacht."
„Es erschien mir richtig zu sein – tut es immer noch. Ich bekomme nur langsam Angst vor meiner eigenen Courage und dem Gedanken, dass ich mich vielleicht selbst an die Kette lege. Letztens hatte ich diesen Traum…"
„Hoffentlich jugendfrei."
„Da war Katsuragi. Sie trug eine Generalsuniform – Orden, Abzeichen und Lametta ohne Ende. Sie küsste mich und meinte, sie müsste dann mal zum Dienst und dass es toll sei, dass ich mich um den Haushalt kümmere. Und weg war sie. Ich blickte an mir herunter. Ich trug eine Schürze. Nichts gegen Männer mit Schürzen, Schürzen sind praktisch, bin lange genug Junggeselle gewesen, um das zu wissen. Aber es war eine Schürze mit Rüschen. Und dann waren da die Kinder – wenigstens ein Dutzend. Ein Haufen kleiner Katsuragis, die an Bierflaschen nuckelten, sich stritten, heulten…"
„Ich habe das Bild förmlich vor Augen. Danke – wieder ein Grund mehr, mir keine Kinder zuzulegen, jedenfalls keine eigenen und keine, die noch nicht in der Lage sind, hinter sich sauberzumachen. Aber dir ist schon klar, dass dieses Szenario recht unwahrscheinlich ist, oder?"
„Natürlich. Ich weiß nur nicht, ob ich schon reif bin, um mich… naja, zähmen zu lassen."
Er atmete schwer beim Herabsteigen der Treppe, eine Hand auf dem Geländer.
Ritsuko lachte.
„Keine Sorge, Kaji, der Rebell ist viel zu tief in dir verwurzelt, als dass man dich dauerhaft an die Leine legen könnte."
Sie wurde wieder ernst.
„Hast du mit ihr über deine Zweifel gesprochen?"
„Nein, sie könnte glauben, dass ich wieder vor ihr weglaufen würde. Außerdem weißt du selbst genau, was sie gerade durchmacht."
„Die Symptome klingen ab."
„Aber sie hat sich nach der Schlacht fast ins Delirium gesoffen, dazu die Schuldgefühle wegen der Kinder…"
„Kaji, Misato packt das – sie käme auch mit einer Zurückweisung klar, solange jemand auf sie aufpasst. Doch der größte Fehler wäre es, wenn du sie vor den Altar führst und stehenlässt oder – schlimmer noch – es nicht ernst meinst."
Sie erreichten das Ende der Treppe.
„Wie sieht es aus?"
Foxy Ayanami betrachtete die blutigen Fingerabdrücke auf der Tastatur des Schlosses durch ein beleuchtetes Vergrößerungsglas.
„Iewoko Hanakas Fingerabdrücke. Sonst keine frischen Abdrücke. Die Türklinge ist voller sich überlagernder Abdrücke. Und dann das hier."
Sie deutete auf einen flachen, blutigen Abdruck an der Metalltür knapp unterhalb der Klinke.
„Er hat ihren Kopf gegen die Tür geschlagen. Unser Mörder war frustriert, weil ihre Fingerabdrücke und der Retinascan an dieser Tür nicht funktionierten – stimmt's Ritsuko?"
„Die Tür lässt sich nur von einem Angehörigen der Kommandoebene öffnen. Die Archivarin dürfte das Schloss nicht als berechtigt erkannt haben. Warum sprichst du immer von einem ‚er'? Bist du dir völlig sicher, dass es ein Mann war?"
„Ziemlich. Da wäre die zum Einsatz gekommene Kraft. Da ich die Ayanamis allesamt ausschließe und wir bei NERV keine Profibodybuilderinnen oder –athletinnen haben – ich habe es nachgeprüft -, gehe ich von einem männlichen Täter aus. Die Verletzungen des Opfers legen nahe, dass er Iewoko anscheinend entweder völlig planlos attackiert hat – oder, und das ist meine These, er sie zu diesem Zeitpunkt zumindest noch nicht töten wollte. Sie hat sich gewehrt. Dana und Lisa haben Abwehrverletzungen gefunden. Leider keine Hautpartikel unter den Fingernägeln oder so etwas. Sie machen gerade eine Analyse der Hautoberfläche und der Kleidung, vielleicht finden sie Speichelrückstände, Schweiß, Hautschuppen oder Haare, die nicht zum Opfer gehören. Aber das Ganze hat was von der Suche nach der Nadel im Heuhaufen, wenn nicht sogar in der Nadelfabrik."
„Kratzspuren am Schloss. Ich mache einen Abdruck."
„Sehr gut, Foxy, lass mal sehen…"
Ächzend ging Kaji in die Knie und leuchtete.
„Könnte das von einer PROG-Klinge stammen?"
„Möglich", bestätigte Ritsuko. „Ich habe natürlich schon im Labor nachgefragt – alle unsere Prototypen sind vorrätig, haben laut Inventarliste die Waffenentwicklungsabteilung nicht verlassen und an keinem befinden sich Blutspuren. Es sind übrigens insgesamt nur fünf Modelle, die wir damals im für Menschen geeigneten Maßstab angefertigt haben, drei Messer, ein Schwert und einen Speer. Deine Theorie, der Mörder hätte eine Vibrationswaffe benutzt, ist etwas wacklig."
„Tja… Können wir aufmachen?"
Die Ayanami trat zurück.
„Dann – bitte – Ritsuko."
Akagi gab ihren Code ein, blickte in den Retinascanner und die Tür schwang auf.
Bläuliches Licht wallte ihnen entgegen.
„Heilige…" flüsterte Kaji.
Hinter der Tür befand sich eine große Lagerhalle. Boden und Wände waren gefliest. In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Rolltor, hinter dem sich – wie Kaji wusste – ein noch versiegelter Korridor befand.
Und mitten in der Halle schwebte ein pulsierendes, ballonartiges Gebilde, welches dieses blaue Licht abgab.
Foxy Ayanami hatte ihre Sonnenbrille heruntergezogen und aus ihrem Koffer einen Geigerzähler und ein Gerät zur Analyse des Lichtspektrums geholt.
„Leichte Radioaktivität. Ohne Schutzanzug sollte der Aufenthalt in der Halle zeitlich auf eine Stunde begrenzt werden. Das Licht bewegt sich im normalen Wellenbereich."
„Das ist das S2-Orgen, oder, Ritsuko?"
„Ja…"
„Sollte es nicht aufgeschlitzt am Boden liegen und vor langsam vor sich hin verwesen? – Ich bemerke nämlich, dass die Kühlung ausgefallen sein muss."
„Ja, das sollte es…"
Sie trat in die Halle.
„Ritsuko, was soll das…"
„Du bleibst da – wir wollen doch nicht die potentiellen kleinen Kajis und Misatos gefährden. – Einen Probenbehälter, bitte, und eine kleine Klinge."
Akagi streckte die Hand aus und erhielt das Gewünschte sofort. Dann ging sie zu dem schwebenden Objekt hinüber. Es hatte einen Durchmesser von vielleicht fünf Metern. Ganz deutlich konnte sie eine Verwucherung erkennen, wo das Gewebe wieder zusammengewachsen war. Sie schnitt einen fingernagelgroßen Gewebebrocken aus der ledrigen Oberfläche, hielt kurz die Luft an, doch es geschah nichts, so dass sie rasch wieder aus der Halle eilte.
„Du solltest zusehen, dass du deinen Tatort freigibst – ich habe hier zu arbeiten."
„Wie ist das möglich?"
„Keine Ahnung. Als ich das S2-Organ zuletzt gesehen hatte, befand es sich bereits im einsetzenden Verwesungszustand, nachdem wir genug Proben gesammelt hatten, um es zu klonen. Es muss sich regeneriert haben – sogar der Schnitt, wo Shinji-kun mit EVA-01 das Messer reingerammt hatte, hat sich geschlossen. Und es gibt Energie ab. Dazu muss es von irgendwoher Nahrung beziehen…"
„Schon verstanden, du hast ein neues Spielzeug. Ich habe inzwischen den Speicher des Türschlosses ausgelesen – die wurde die ganze Zeit über nicht geöffnet. Ich fasse zusammen: Unser Mörder dringt ins Archiv vor – ich habe den Luftschacht im Verdacht -, trifft Iewoko, will sie dazu bringen, dass sie ihm die Türen öffnet. Es kommt zu einem Kampf, er tötet sie, schleift sie zur ersten Tür, öffnet das Schloss – er kannte den Zugangscode -, schleppt sie die Treppe hinunter, muss feststellen, dass ihr Retinascan ihm die zweite Tür nicht öffnet, reagiert gefrustet, schleift sie wieder hoch, lässt sie liegen und verschwindet. Er wollte zum S2-Organ. Wusste er, dass es sich regeneriert hat? Was wollte er hier? Und warum hat er Iewoko wieder hochgeschleppt?"
„Er brauchte sie, um wieder hinauszukommen – du hast doch gesagt, dass die Tür zwei Mal geöffnet wurde. Einmal rein, einmal raus. Wenn er sich nicht festgeklemmt hat, ist sie hinter ihm zugefallen."
„Klar. Aber warum auf den Hauptgang des Archivs… Ah, er hat seine Wut noch einmal an ihr ausgelassen – wir haben gebrochene Rippen und andere Verletzungen gefunden, die auf Tritte hindeuten. Das sollte bei der Erstellung eines Profils helfen."
„Das kannst du?"
„Mein Lehrer hat mir eine Reihe von Regeln beigebracht. Mit ganz oben steht: Kenne den Feind.– Aber ich werde die Erkenntnisse am besten noch einem Profi auf dem Gebiet vorlegen, mal sehen, ob meine Kontakte mir jemanden vermitteln können, dem ich das als Denksportaufgabe präsentieren kann. Der nächste Punkt in meiner Ermittlung sind mögliche sonstige Zugänge in die Abteilung – beginnend mit dem Luftschacht. Du kannst die Halle haben, sobald Foxy den Korridor durch hat."
„Warum Foxy? Ist das nicht ein leicht anzüglicher Begriff?"
„Mulder und Scully."
„Hm? Wer?"
„Ach, Ritsuko, du solltest mehr Abende vor dem Fernseher verbringen…"
*** NGE ***
Am nächsten Tag suchte Doktor Akagi Jörg Peters im Kontrollraum auf. Natürlich hätte sie ihn in ihr Büro zitieren können, wollte ihn aber nicht bei seinen Arbeiten unterbrechen, in denen er laut Maya – die sie am Vorabend schließlich noch gefunden hatte – bis zur Unterlippe steckte.
Auf dem Hauptmonitor waren gerade mehrere Fenster zu sehen, über die parallel auf den ersten Blick identische Daten scrollten. Aoi Mogami stand neben Peters und starrte wie dieser angestrengt auf die Daten, während die anderen an ihren Terminal arbeiteten.
„Da, wieder."
Peters ließ eines der Fenster vergrößern und einfrieren.
„Jetzt habe ich es auch gesehen", bestätigt Mogami. „Eine Unregelmäßigkeit."
„Ein Datenstrom, der nicht vorgesehen ist."
Peters fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
„Was könnte das bedeuten… - Oh, Doktor Akagi-sama…"
„Ich sehe, Sie sind bereits bei der Arbeit und haben anscheinend eine Spur."
„Ja, ich habe gestern verschiedene Aufzeichnungen verglichen und mir kam etwas merkwürdig vor. Die Datenströme innerhalb des EVAs sind eine Form der Kommunikation zwischen den einzelnen Systemen, sowie dem EVA und dem Piloten. Und dann war da etwas, was ich nicht zuordnen konnte, quasi ein fremder Ton. Wir haben den Datenstrom mittlerweile isoliert."
„Ich sehe keinen Unterschied", bemerkte Nakamura von seiner Konsole her.
„Da könnte etwas sein, aber ich bin mir auch nicht sicher", erklärte Satsuki Ooi.
„Wir angeln hier nach Strohhalmen", seufzte Aoi Mogami. „Aber das ist der bisher vielversprechendste, auch wenn ich zugegebenermaßen keine Ahnung habe, was er bedeutet."
„Ja, wir müssen herausfinden, woher dieses Signal kommt und wohin es geht. Mir schwebt da heute Nacht ein Experiment vor, wenn der Hangar leer ist."
„Erklären Sie."
„Gern, Doktor Akagi-sama. Ich möchte den EVA heute Nacht verschiedenen optischen und akustischen Reizen aussetzen – wir machen quasi Diskonacht im Hangar und werten morgen die Daten aus, ob es irgendwelche Reaktionen gab."
„Wir haben bereits versucht, den EVA – oder besser: Asuka – anzusprechen. Doktor Soryu hat tagelang oben auf dem Steg in Kopfhöhe gestanden und gerufen, bis sie heiser war."
„Hm… da gibt es nur ein Problem: In Asukas Augen ist ihre Mutter tot."
„Was meinen… hm…"
„Wenn jemand vor meinen Augen herumrennen würde, von dem ich weiß, dass er tot sein müsste, gehe ich dem entweder nach oder ich ignoriere ihn und erkläre ihn zu einer Sinnestäuschung. Da ich davon ausgehe, dass Asuka nicht herauskommen will – und nicht vom EVA festgehalten wird -, wird es Doktor Soryu wahrscheinlich als letzter gelingen, sie dazu zu überreden, mit uns zusammenzuarbeiten."
„Klingt leider plausibel. Wo ist Doktor Soryu eigentlich?"
„Hat sich im Bereitschaftsraum hingelegt. Eine schlaflose Nacht in Folge zu viel. – Ich gedenke aber zweigleisig zu fahren, damit eventuell heute Nacht anfallende Daten auch gleich genutzt werden können. Ich möchte die Synchronverbindung kartographieren."
Einen Moment lang fehlten Akagi die Worte.
„Das hat bisher noch keiner versucht."
„Asuka ist gegenwärtig Teil des EVAs, ich gehe also davon aus, dass die Datenströme Parallelen zu ihren Hirnströmen haben. Wir müssen wissen, wie wir ihre Wahrnehmung ansprechen müssen, um sie erreichen zu können."
„Dann ist es gut, dass ich das hier für Sie habe."
Akagi reichte ihm eine Zugangskarte.
„Uneingeschränkter Zugang zu den MAGI – seit gestern um die drei Einheiten des MAGI-2-Systems erweitert, die mit CASPAR, MELCHIOR und BALTHASAR parallel geschaltet sind. Sie sollten also hinreichend Rechenkapazität haben. Informieren Sie mich nur, ehe sie alle Kapazitäten in Beschlag nehmen, wir haben noch ein paar Projekte am Laufen, die auch auf die MAGI zurückgreifen, nicht zu vergessen das Synchronisationstraining der Piloten und die Startbereitschaft von EVA-03/04."
„Danke. Ihr Vertrauen…"
„Kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte."
Peters folgte Akagi aus dem Kontrollraum auf den Steg vor der Tür.
„Ich hatte gestern ein aufschlussreiches Gespräch mit Doktor Myers in Deutschland wegen der von Ihnen ins System eingeschleusten Hintertür. Zuerst stritt sie jede Kenntnis ab und gab Ihnen die alleinige Verantwortung und erklärte, dass Sie das hinter ihrem Rücken gemacht hätten."
Akagi nahm zur Kenntnis, dass Peters den Kopf hängen ließ und einiges von dem eben noch präsentierten Selbstbewusstsein einzubüßen schien.
„Dann betonte ich, welch große Hilfe das doch gewesen wäre – und plötzlich reklamierte sie doch die vollständige Verantwortung für sich und degradierte sie vom Haupttäter zum Handlanger. Es war faszinierend mitanzuhören. Jedenfalls habe ich sie nach Neujahr ins Hauptquartier bestellt. Dann habe ich mit dem Stützpunktleiter gesprochen. Major Maasters hält große Stücke auf Sie. Als nächstes bin ich Ihre Akte noch einmal genau durchgegangen und habe mich Doktor Myers Kommentaren gewidmet. Ihre Doktormutter hat Ihnen da ein ziemlich fatales Zeugnis ausgesprochen; ich behaupte sogar, dass Sie sich wohl einen anderen Betreuer suchen sollten, um dieses Abhängigkeitsverhältnis zu beenden. Was mich betrifft, Leutnant, werde ich diese Kommentare und Vermerke ignorieren und Sie allein auf der Basis Ihres hier demonstrierten Könnens bewerten. Ihr gestriger Einsatz und Ihre aktuelle Idee haben Ihnen freien Zugang zu den MAGI eingebracht – enttäuschen Sie mich nicht."
„Das… das werde ich nicht, Doktor Akagi-sama."
„Und machen Sie mir keinen der drei Hauptrechner kaputt, die gehören quasi zu meiner Familie."
Peters sah auf, wollte bereits beteuern, derartiges niemals zu machen, als er ihr Lächeln bemerkte.
„Sie haben eine wertvolle Fürsprecherin, bedanken Sie sich bei Gelegenheit bei Maya. Vielleicht schaffen Sie es sogar, Sie zum Lachen zu bringen."
„Ah…"
„Maya war früher der strahlende Optimismus von uns – aber seit vier Wochen hat sie nicht mehr gelacht. Das macht selbst mir Sorgen."
*** NGE ***
Zurück in ihrem Labor betrachtete Doktor Akagi lange den Behälter mit der Gewebeprobe des S2-Organs – er schwebte, ein blaues Licht abgebend – eine Handbreit über der Platte ihres Schreibtisches…
Kapitel 03 – Auf den Schultern von Riesen
„Drehen Sie auf."
Peters saß auf einem Steg vor dem Käfig von EVANGELION-01 und blickte an dessen Kopf vorbei zu Einheit-02 hinüber.
„Beginne wie besprochen. Aufzeichnungen laufen." kam Aoi Mogamis Stimme aus seinem Headset.
Dann schallte aus den Lautsprechern klassische Musik.
„Und?"
„Keine Ausschläge."
Er seufzte.
„Das kommt nicht wirklich unerwartet. Wir lassen es eine halbe Stunde laufen und wechseln dann zu etwas modernerem."
„Agano hat eine J-Pop-CD vom letzten Jahr mitgebracht."
„Wunderbar – die heben wir uns für Phase drei auf, falls die europäischen Charts auch nichts bringen – ich kenne in etwa Asukas Musikgeschmack."
Es klickte in der Leitung.
„Leutnant, könnte die klassische Musik nicht länger laufen?" fragte Kaworu Nagisa.
Peters peilte an EVA-02 hinüber zum GREMLIN, in dessen Cockpit er den Jungen mit dem schiefergrauen Haar wusste.
„Wir haben die ganze Nacht den Hangar für uns. Für den zweiten Anlauf überlasse ich dir die Wahl, in Ordnung? – Die MAGI haben eine ziemlich große Auswahl im Speicher und ich kenne mich mit Musik nicht wirklich aus."
„War das eben ein Eingeständnis, dass Sie nicht auf jedem Gebiet ein Meister sind?" erklang Maya Ibukis Stimme seitlich von ihm.
Er drehte den Kopf, sah, wie sie gerade die Metallleiter hinaufstieg.
„Ah, Ibuki-san. Es gibt genug Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Musik ist eine Sprache, die sich mir immer noch entzieht."
„Musik ist eine der wunderbarsten Erfindungen der Menschheit, Leutnant", erklärte Kaworu über Funk.
„Das bestreite ich gar nicht. Aber es wird wohl wieder ein lange Nacht werden."
„Ich wache."
„Danke, Pilot Nagisa."
Mit einem Handgriff schaltete Peters das Mikrophon ab.
„Was bringt Sie in den Hangar zu so später Stunde?"
Maya ging in die Hocke und hielt ihm eine Thermoskanne hin.
„Kaffee?"
„Ah, danke."
Dann reichte sie ihm das Tablettenröhrchen.
„Ich habe die Zusammensetzung analysiert. Ein leichtes Schlafmittel, habe mir selbst eine Packung besorgt."
Er steckte den Behälter weg.
„Haben sie geholfen?"
„Ich konnte die letzte Nacht schlafen."
„Gut. - Der Kaffee ist gut."
„Sie wollen heute austesten, ob der EVA… ob Asuka irgendwie auf äußerliche Reize reagiert?"
„Ich muss einen Ansatzpunkt finden. Es gibt noch einige Unbekannte bei den Datenleitungen. Dass EVA-02 offenbar seit dem Zeitpunkt, an dem er Asuka assimiliert hat, die Steuerungsdaten mit einem stetig in Veränderung befindlichen Kaskadencode verschlüsselt, macht es auch nicht einfacher. Den könnten wir zwar mit genug Zeit und Rechenkapazität knacken, aber ‚genug Zeit' ist definitiv mehr als die paar Stunden, die uns noch zur Verfügung stehen."
Er griff nach einem Behälter, der neben ihm stand.
„Wollen Sie eventuell mit mir essen? – Ich war vorhin in der Kantine, wenn die junge Dame hinter dem Tresen mir hinsichtlich des Thermobehälters nicht das Blaue vom Himmel herabgelogen hat, sollte es noch warm sein."
Maya ließ sich neben ihm auf den Steg nieder.
„Sie gehen ziemlich ran."
„Wieso?"
„Wir kennen uns erst seit gestern und Sie laden mich schon zum Essen ein – nicht vergessen, ich bin ihr vorgesetzter Offizier."
Er blickte sie fragend an, bis er das Zucken ihrer Mundwinkel bemerkte.
„Der Countdown im Kontrollraum ist auch die Zeit, auf die sich mein Aufenthalt hier wahrscheinlich bemisst. Zeit ist keine Ressource, über die ich ohne Grenzen verfüge – außerdem dachte ich mir, Sie könnten mir vielleicht sagen, was die Kantine da fabriziert hat und was drin ist."
Damit öffnete er den Deckel, reichte ihr die beiliegenden Essstäbchen, während er selbst eine Plastikgabel hervorholte.
„Keine Stäbchen?"
„Nicht mit meinen Wurstfingern."
„Das geht ganz einfach, schauen Sie, Sie halten das eine Stäbchen so…"
*** NGE ***
Die Schachtel war zur Hälfte geleert, als Mogami im Kontrollraum die klassische Musik abschaltete und stattdessen englische Popballaden zu spielen begann.
„Ah, das Lied mag ich."
„Wovon handelt es?"
„Naja, das übliche – Junge trifft Mädchen, Mädchen hat anscheinend einen anderen, Junge ist schwer deprimiert, dann stellt sich heraus, dass der andere ihr Bruder ist, der Junge bezeichnet sich selbst als Trottel… und so weiter…"
Plötzlich wurden seine Augen groß, er schaltete das Mikrofon des Headsets ein, während er aufstand.
„Bestätige! Ich komme."
Dann reichte er Maya die Hand.
„Ausschläge bei den Anzeigen! Etwas tut sich!"
Sie ließ sich auf die Beine helfen und eilte mit ihm zum Kontrollraum.
Die Schachtel blieb zurück.
*** NGE ***
„Ah, wunderbar! Das wird uns helfen, die Signalbereiche einzugrenzen."
„Die Reaktion scheint ziemlich minimal zu sein", bemerkte Maya.
„Besser als gar keine."
Aoi Mogami schob ihre Brille zurecht.
„Wir messen in einem noch feineren Bereich als in den letzten Wochen."
„Könnte es da vielleicht auch Zeichen gegeben haben?"
„Keine Ahnung, Leutnant Ibuki."
„Wir begeben uns hier auf völliges Neuland", brummte Nakamura.
Peters blickte den einzigen anderen Mann im Raum an.
Hoshi Nakamura, vierunddreißig Jahre alt, erschien pünktlich zur Schicht und ging ebenso pünktlich, hielt seine Pausen ein und verhielt sich ansonsten so professionell, wie es von ihm zu erwarten war. Er legte zwar die erforderliche Höflichkeit an den Tag, doch aus seiner Körpersprache und den feinen Untertönen ging hervor, dass er die um wenigstens zehn Jahre jüngeren Offiziere nicht wirklich als ernstzunehmende Vorgesetzte empfand. Das war selbst bei der fast gleichaltrigen Akagi zu merken, so dass Peters ihn bei den Chauvinisten einordnete. Aus seinem Äußeren entnahm er, dass Nakamura anscheinend Junggeselle war – der Kragen seiner Uniform war zu zerknittert und seine Erscheinung einfach nicht sauber und gepflegt genug, als dass eine weibliche Hand zu erkennen war, die sich um ihn kümmerte. Agano hatte gesagt, Nakamura würde das Hauptquartier nach seiner Schicht immer verlassen und an die Oberfläche fahren – offenbar wohnte er in einem der Stadtteile, welche vor vier Wochen verschont geblieben waren.
„Nun, Herr Nakamura, dann wollen wir mal Pionierarbeit leisten."
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, bemerkte zugleich, dass Maya etwas sagen wollte. Er sah zur Seite – die Hand gehörte Doktor Soryu.
„Sie haben eine Reaktion erzeugt?"
„Sieht so aus. Gegenwärtig sammeln wir noch Daten."
„Und?"
„Kommen Sie mit. – Sie auch, Ibuki-san, wenn Sie möchten."
Er führte sie in ‚sein' Büro – den Raum, den er nach seiner Ankunft als Arbeitszimmer in Beschlag genommen hatte. Mittlerweile hingen Ausdrucke an drei Wänden, während sein Rollkoffer und der Rucksack halb unter dem an die Wand geschobenen Schreibtisch standen.
Mit seinem Laserpointer deutete er auf mehrere Diagramme.
„Hier, hier und hier – winzige Ausschläge. Ich habe mir zum Vergleich die Daten besorgt, die beim Zeruel-Vorfall aufgezeichnet wurden, da gibt es ähnliche Ausschläge. Doktor Akagi hat damals alles hervorragend dokumentiert. Hier zeigte sich eine minimale Reaktion von Einheit-01 auf das Geigenspiel des First Child im Hangar zum Beispiel. Nun der Vergleich… Die Ausschläge präsentieren emotionale Reaktionen. Und da der EVA nicht darauf programmiert ist, von sich aus auf derartige Reize zu reagieren – und da die taktische K.I. nicht angesprungen ist, etwa weil sie eine Bedrohung registriert hat -, gehe ich davon aus, dass nicht der EVA der Ursprung dieser Reaktionen ist, sondern die Pilotin."
„Soweit waren wir heute Vormittag schon."
„Im Grund ja, doch nun kreisen wir das Feld ein. Wenn die MAGI die Kartographierung der Synchronverbindung abgeschlossen haben, können wir auf der Darstellung das Signal verfolgen. Es wird das Reizzentrum durchlaufen und dann zum Piloten hin. Danach gilt es, die übrigen Signalbahnen zu entschlüsseln, die diesen Sektor durchlaufen."
„Wie Sie schon sagten – Pionierarbeit. Werden Sie es in der Zeit schaffen, die…"
Soryu stockte.
„Ich gebe mein Bestes. Wir alle. Die MAGI werden mit der Erstellung des dreidimensionalen Modells der Synchronverbindung noch gut zwei Tage beschäftigt sein. Ich rechne einen weiteren Tag für Analysen und Anpassungen, ehe es wieder ernst wird."
*** NGE ***
Nach einem längeren Gespräch kehrte die kleine Gruppe in den Kontrollraum zurück. Kyoko Soryu übernahm es, die gewonnenen Daten einer ersten oberflächlichen Analyse zu unterziehen, während Aoi Mogami nun gezielt Lieder spielte, von denen Peters wusste, dass Asuka sie mochte, danach sollte eine Auswahl von Künstlern folgen, die sie absolut nicht mochte.
„Ich gehe und berichte Doktor Akagi von den Fortschritten – sie möchte über alles informiert werden, was die Piloten betrifft." verabschiedete sich Maya.
„Gute Nacht."
Doktor Soryu hatte auf einem Blatt Papier eine einfache Zeichnung angefertigt.
„Das hier ist das PROPHET-Interface… es stellt die Verbindung zu Asukas Geist dar. Normalerweise nimmt der Pilot über das Interface Kontakt zum EVA auf, doch wir gehen eigentlich genau den umgekehrten Weg und versuchen, über den EVA Kontakt zum Piloten aufzunehmen."
Eine unförmige Wolke stellte in der Zeichnung den Piloten dar. Mit drei Strichen malte sie ein großes A in die Wolke.
„Asukas Egoformation."
„Oder vielleicht ihre Seele..."
„Meinetwegen auch das."
Nakamura kam herüber, es war Zeit für seine vertraglich garantierte Pause.
„Seelen… wenn Sie die Existenz einer Seele messen können, sagen Sie Bescheid, ich wüsste gerne, wie meine aussieht."
Soryu setzte zu einer zornigen Erwiderung an, bemerkte dann die auf ihrem Unterarm liegende Hand und Jörg Peters' Kopfschütteln.
„Nakamura hält sich an technischen Begriffen fest, er würde eine Zurechtweisung nicht einmal verstehen."
„Also… als Yui-san mich für das Projekt-E… Projekt EVANGELION rekrutierte, pries sie mir eine ganze Reihe von Anwendungsmöglichkeiten an. Dass die EVAs imstande sein würden, an Orte zu gehen, die uns Normalsterblichen nicht zugänglich waren, dass die Klontechnik gewaltige Fortschritte in der Medizin ermöglichen würde, dass es mit dem PROPHET-Interface möglich sein würde, eines Tages den menschlichen Geist mit Maschinen zu vernetzen… sie meinte damals, dass man über die Synchronverbindung vielleicht Komapatienten ansprechen und wieder zurückholen könnte… damals erschien alles so fantastisch und so möglich… wir waren so jung und in gewisser Weise unbedarft."
„Doktor Soryu, ich habe keine Ahnung, wo Sie die letzten über zehn Jahre waren und was Sie durchgemacht haben – aber Sie haben mein Wort, dass ich Asuka… dass ich Ihre Tochter aus dem EVA holen werden."
„Geben Sie kein derart leichtfertiges Versprechen. Ich sehe es in den Augen der gegenwärtigen Generation – in Ihren Augen, in Maya Ibukis Augen… Sie sind ebenso unbedarft und vertrauen auf die Technik, wie wir es damals taten. – Ah… ich gehe mich kurz frischmachen, ich glaube, ich habe etwas im Auge."
„Gehen Sie nur."
Er sah ihr nach, bis sie im Verbindungskorridor zum Testareal verschwunden war.
„Wie wollen Sie dieses Versprechen erfüllen?" frage Aoi leise. „Wir sind nur unwesentlich weiter als gestern."
„Und wenn es das Letzte ist, was ich tue…" murmelte er. „Ich bin kurz draußen aufräumen."
Mit langen Schritten verließ er den Raum, trat auf den Steg, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
„Verdammt, Asuka, du weißt, dass ich dir versprochen habe, dass ich notfalls für dich sterben würde, Kinderspiel hin oder her…"
Langsamer werdend wanderte er über die Verbindungsstege und Leitern, die sich wie ein metallenes Spinnennetz einer größenwahnsinnigen Riesenspinne ohne Sinn für Architektur in der Höhe des Hangars erstreckten, bis er den Käfig von Einheit-01 erreichte und sich suchend umsah.
Mit einem Finger tippte er gegen sein Headset.
„Frau Mogami, haben Sie oder Nakamura mein Abendessen sichergestellt?"
Die Antwort klang ehrlich überrascht.
„Nein, Leutnant."
„Hm, der Behälter ist weg."
Er kehrte in den Kontrollraum zurück.
„Haben wir Überwachungskameras am Käfig von EVA-01?"
„Nur im Reaktionsmodus. Gegenwärtig sind alle Überwachungssysteme auf EVA-02 ausgerichtet, bei den anderen Einheiten müssten die Kamera entweder von hier aus aktiviert werden oder die Bewegungsmelder im Käfig anschlagen."
„Sonst war niemand in der Zwischenzeit im Hangar, oder?"
„Augenblick… ich überprüfe die Logs der Türschlösser. Nein, niemand, nur Leutnant Ibuki hat den Hangar verlassen."
„Und Maya ist direkt nach unten…"
Aoi Mogami hob leichte die linke Augenbraue.
Maya… so, so…
„Vielleicht ist ja etwas dran an dem Gerücht."
„Was für ein Gerücht?"
„Dass es nachts im Hangar spukt."
„Oh, nein. Frau Mogami… so etwas binden Sie mir nicht auf."
„Doch, doch, das Gerücht kursiert seit Monaten, seitdem EVA-01 damals den Engel Zeruel gefressen hat und sich immer wieder einmal leicht bewegt seitdem. Der Hangar war ja direkt nach dem Angriff Lazarett und Auffanglager, in das alle Überlebenden gebracht wurden, die man noch fand. Seitdem heißt es zusätzlich, die Geister der Verstorbenen würden umherirren, weil sie nicht den Weg ins Jenseits fänden."
„Und das glauben Sie?"
„Eh, mir ist nicht die Lunchbox abhandengekommen."
„Was machen Sie eigentlich sonst hier während der Nachtschicht, wenn kein verrückter Wissenschaftler Sie scheucht?"
„Der große Bildschirm lässt sich als Fernseher zweckentfremden."
„Verstehe. – Ich gehe mir mal etwas die Beine vertreten und mich in den umliegenden Korridoren umsehen."
„Passen Sie auf, falls wirklich ein Geist…"
„Dann packe ich ihn im Genick, schleife ihn in den Hangar und stopfe ihn in EVA-02, vielleicht drückt das Asuka dann raus."
*** NGE ***
Asuka blickte aus dem Fenster ihres Zimmers und suchte nach der Quelle der Musik, die sie seit einiger Zeit hörte. Das Fenster hing zum Hinterhof hinaus. Der Hof war leer – und jenseits der Grenzen des Hofes wallten nur farbige Nebel, in denen aufblitzende Elektronen verwirrende Muster bildeten. Dennoch vernahm sie die Musik – erst war klassische Musik aus dem Nebel gedrungen, dann später Popmusik. Mittlerweile hatte sie aus allen Fenstern des Hauses geblickt, selbst aus der Dachbodenluke, ohne den Ursprung der Musik feststellen zu können. Sie schien überall her aus
den Nebeln kommend auf die kleine Insel der Realität zuzuströmen, die das Haus mit dem bisschen umliegenden Land bildete.
Gedankenverloren drückte sie den Teddybären an sich, der sonst auf dem Bett saß – oder nachts über ihren Schlaf wachte, auch wenn sie gegenüber ihren Pateneltern immer betonte, sich nichts aus Kuscheltieren zu machen. Der Bär war alt und abgewetzt und an mehreren Stellen ausgebessert, wo Nähte aufgeplatzt waren. Die Augen waren nicht identisch, das linke glitzerte zu neu, zu… anders. Der Bär war eine Erinnerung an ihre Mutter, das letzte Geschenk, an das sie sich erinnern konnte.
„Du weißt es auch nicht, oder?" fragte sie leise und lachte im nächsten Moment, weil sie einen Augenblick tatsächlich mit einer Antwort gerechnet hatte. Vorsichtig setzte sie den alten Teddybären wieder an seinen Platz und verließ dann den Raum, trat auf den Flur und stieg die Treppe hinauf.
„Onkel?"
„Ja?" kam es aus dem Arbeitszimmer.
Sie öffnete die Tür zum Allerheiligsten ihres Onkels.
Das Arbeitszimmer war Trophäenzimmer, Bibliothek, Schießstand, Büro und Kommandozentrale zugleich, schien keine Begrenzungen zu besitzen und ständig im Wandel zu sein. Computerterminals wuchsen aus den silbernen Wänden und verschwanden wieder, auf dem Schreibtisch blätterte sich ein Buch selbst um, während unter der Decke dreidimensionale Bilder rotierten, die Gesichter und Orte zeigten. Und mitten im Raum stand der rotgepanzerte Hüne mit den vier Augen und sah sie an.
„Kannst du mir sagen, wo die Musik herkommt?"
„Musik?"
Er legte den Kopf schräg schien zu lauschen.
„Ich höre keine Musik."
„Aber…"
Sie zögerte. Selbst hier konnte sie die Rhythmen noch vernehmen. Aber ihrem Onkel war es nicht möglich!
„Ich habe mich wohl getäuscht."
Langsam verließ sie die Kommandozentrale wieder, ging die Treppe hinunter und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Im Nebel schienen sich Gestalten zu formen, die teilweise einen, zwei Herzschläge lang verharrten, ehe sie sich wieder auflösten und verwehten.
*** NGE ***
Ziellos hatte Peters einen der aus dem Hangar führenden kleinen Korridore gewählt und war überrascht worden – an der metallverkleideten Wand hingen Fotos von Männern und Frauen allen Alters. Am Boden lagen Blumen und standen Kerzen, dazu kamen mehrere kleine Schreine.
Er blieb stehen und betrachte die Bilder im abgedämmten Licht der Nachtbeleuchtung. Die Überlebenden des Angriffes hatten hier die Bilder der Vermissten und Toten aufgehangen, hatten um die sichere Heimkehr der Vermissten und für die Toten gebetet und getrauert…
Langsam wanderte er den Gang hinunter, glaubte beinahe, Schluchzen und Klagen hören zu können, das ein nicht existenter Lufthauch den Korridor hinuntertrug. Er blickte durch offenstehende Türen in leere Räume, stieß auf weitere Stätten der Andacht, einen kleinen buddhistischen Schrein, einen Shintoschrein und eine provisorische Kapelle.
Bei letzterer atmete er tief ein und trat dann über die Schwelle.
An der Wand hing ein einfaches Holzkreuz und daneben hing ein Bild der Gottesmutter Maria. Antrainierte Reflexe ließen ihn die Knie beugen und sich bekreuzigen, ehe er zu der einzigen Bank ging und sich niederließ.
„Ist schon länger her, nicht wahr? – Schwester Elke würde mir wohl die Ohren langziehen, wenn sie erführe, dass ich seit über fünf Jahren keine Kirche mehr betreten habe. Aber in Zeiten der Not suchen wohl auch die größten Logiker und Leugner nach dir… Naja…"
Er sah sich um, als suche er nach jemanden.
„Ich habe ein Versprechen gegeben."
Vor seinem geistigen Auge sah er Asuka, die weinend in einer Ecke hockte, sich aber weigerte etwas zu sagen. Der er versprach, eher zu sterben, als zuzulassen, dass jemand ihr noch einmal etwas antat… zwei Tage später hatte er seinen Vertrag bei NERV unterschrieben…
„Nach der Sache mit Fresenhark habe ich ihr versprochen, dass niemand mehr ihr etwas antun wird. Du weißt, dass ich Pietter Fresenhark eigenhändig umgebracht hätte, wenn er nicht untergetaucht wäre… Aber als es soweit war, war ich nicht da. Ich hätte mich mehr um eine Versetzung nach Japan bemühen müssen. Und jetzt sind es nur noch ein paar Tage… Ich habe wieder mein Wort gegeben, aber ich sehe nur einen Weg, es wirklich einhalten zu können, sollte ich mich irren, sollte die Technik mich im Stich lassen, sollte es neue Probleme geben… Der EVA hält nur eine Seele… wenn ich ihm eine andere anbiete, könnte er im Gegenzug Asuka freigeben… ich weiß, dass ich eine der größten Sünden überlege, aber ist es verwerflich, sich für einen anderen opfern zu wollen? Wer ein Leben rettet… Ich will gar kein Vergebung oder Verständnis, nur die Kraft zu tun, was nötig ist, wenn es soweit kommen sollte…"
Er wurde immer leiser, bis die Worte nicht mehr über seine Lippen wollten und er kraftlos die Schultern nach vorn sinken ließ, sich auf der Bank zusammenrollte und dem Zittern ergab, dass durch seinen Körper lief.
*** NGE ***
Als Jörg sich endlich wieder erhob, als er endlich das Zittern wieder unter Kontrolle hatte, drehte er dem Kreuz den Rücken zu.
„Danke fürs Zuhören", flüsterte er und verließ den Raum – und stolperte beinahe über den Warmhaltebehälter, den er im Hangar vermisst hatte. Rasch blickte er nach links und rechts, meinte, gangabwärts eine Bewegung gesehen zu haben.
„Hey!"
Er rannte los.
Ein Schatten verschwand um die nächste Ecke.
Er bog um die Ecke, stand vor dem Tor einer größeren, dunklen Halle. Peters zog sein Multiwerkzeug aus dem Jackenärmel, verschob zwei der winzigen Schaltelemente. Der vormals winzige Lichtstrahl der Lampenfunktion weitete sich, wanderte über mehrere Reihen von Rollliegen und einen Berg schmutziger Laken, erfasste zwei weitere Türen, die aus dem Raum führten. Es war still…
Er schüttelte vehement den Kopf, als vor seinem geistigen Auge wieder die Bilder der zerstörten Stadt aufstiegen, schaltete die Lampe ab und machte sich auf den Rückweg.
*** NGE ***
Der Folgetag wurde im Kontrollraum von Datenanalysen, Anpassungen des Bergungsprojektes und wiederholten Simulationen und Gegenprüfungen beansprucht. Jörg Peters bemerkte die Blicke, welche die NERV-Techniker ihm und einander beim Schichtwechsel zuwarfen, wusste insgeheim, dass sie sich fragten, ob er überhaupt schlief. Niemand wusste besser als er selbst, dass er den Eindruck eines Besessenen vermittelte. Eigentlich war nur Doktor Soryu noch stärker involviert. Die während der Nachtschicht gewonnenen Daten erschienen vielversprechend, für diese neuen Puzzleteile mussten jedoch die MAGI den Rahmen liefern, damit er sie richtig einsetzen konnte.
Am Abend platzierte er einen gefüllten Warmhaltebehälter in der Katakombe, wie Technikerin Mogami den Gang mit den Fotos bezeichnet hatte – in der großen Halle am Gangende waren die Gefallenen des Angriffes aufgebahrt gewesen, die noch identifiziert werden mussten. Am nächsten Morgen war der Behälter leer gewesen und er hatte ihn Mogami als Beweis dafür gezeigt, dass der im Hangar umgehende Geist offenbar einen gesunden Appetit hatte…
Während Kaworu Nagisa in GREMLIN Wachdienst hatte, führte Maya Ibuki mit Hikari und Toji Synchrontraining durch. Hikari war mittlerweile fast wieder auf ihrem alten Stand vor dem Bardiel-Zwischenfall – wie das Ereignis verharmlosend bezeichnet wurde. Toji dagegen wirkte zugleich gelangweilt und unruhig, auf Nachfrage erklärte er, dass er es doch irgendwie anders vorgestellt hatte, statt die ganze Zeit in einer Testkapsel zu hocken und ‚Nabelschau' zu betreiben, wie er es ausdrückte. Maya war dennoch überrascht von den gewonnenen Werten – Suzuhara besaß entgegen ihren eigenen Erwartungen nach seinem Schlafanfall am Vortag durchaus Potential. Da Senpai Akagi angekündigt hatte, in Bälde Einheit-05 in Betrieb zu nehmen und Maya über die in Arbeit befindlichen Einheiten 06 und 07 in Kenntnis gesetzt hatte, sah Maya deutlich den Bedarf an weiteren Piloten, auch wenn die älteren Offiziere immer wieder ihre Zweifel durchblicken ließen.
Doktor Akagi hatte Doktor Ikari zur Beschäftigung mit der Gegenprüfung ihrer Maßnahmen an EVA-05 beauftragt. Die beiden Frauen hatten immer noch kein Wort über ihr Verhältnis zum verstorbenen Gendo Ikari gewechselt.
Ryoji Kaji setzte seine Ermittlungen fort; der nächste Schritt bestand darin festzustellen, wie Iewoko Hanakas Mörder in die versiegelte Archivabteilung gekommen war. Während Lisa Ayanami Abdrücke der Stichverletzungen zum Vergleich mit gängigen Stichwaffen herstellte, kletterten zwei andere Ayanamis – denen Namen zu geben es Kaji regelrecht drängte – erst in die Belüftung des Archives, wo sie Zentimeter um Zentimeter absuchten, bis sie in den fünf Meter durchmessenden Luftschacht vorstießen, der fast senkrecht an die Oberfläche führte – und noch mehrere Dutzend Meter in die Tiefe. Das Gitter zwischen dem Schacht und der Belüftungsanlage wies deutliche Spuren auf, so dass Kaji den Einsatz einer Drohne befahl, die im Schacht aufstieg und Bilder von den anderen Gittern sammelte. Weiter oben fehlte eine komplette Absperrung, so dass er dort, in einem Labortrakt, mit seinen Untersuchungen weitermachte – sehr zum Leidwesen der mit Experimenten an Gewebebrocken des S2-Organs beschäftigten Wissenschaftler.
Misato Katsuragi verbrachte einen Gutteil des Tages mit Erbrechen unter Beobachtung auf der Krankenstation. Seitdem sie sich vor wenigen Wochen fast mit Alkohol vergiftet hatte, befand sie sich im Entzug. Es gab gute Tage und es gab weniger gute – dieser gehörte zu letzteren. Ihr Körper hatte sich derart an einen gewissen Alkoholpegel gewöhnt, dass die Entzugserscheinungen kaum zu ertragen waren. Misato war sich darüber im Klaren, dass sie ohne den Zuspruch Akagis und der stillschweigenden Unterstützung des Subkommandanten und der Junioroffiziere Aoba, Hyuga und auch Ibuki kaum bisher durchgehalten hätte.
Nur EVA-02 blieb stumm und Shinji Ikari und Rei Ayanami schliefen weiterhin…
*** NGE ***
Wieder einen Tag später suchte Maya Peters nach Ende ihrer Schicht in dessen Büro auf. Viel hatte sich nicht verändert – sein Gepäck stand immer noch an der Wand unter dem Schreibtisch und er schien wirklich aus dem Koffer zu leben. Dafür waren nun alle Wände und sogar die Decke regelrecht mit grafischen Darstellungen und Teilausschnitten der Codesequenzen, auf die sich seine Arbeit konzentrierte, zutapeziert.
Doktor Soryu fand die beiden nebeneinander auf dem Boden liegend vor, wie sie im abgedunkelten Raum die Lichtpunkte ihrer Laserpointer von einer Übersicht zur anderen wandern ließen, Datenkurven diskutierten und Verbindungen zwischen unterschiedlichen Datenbereichen herstellten.
Eine Stunde später kam Doktor Akagi auf der Suche nach Maya vorbei und war überrascht, Jörg, Maya und Doktor Soryu auf dem Boden liegend anzutreffen, wie sie über an der Decke befestigte Datenkurven theoretisierten.
*** NGE ***
„Major, hier drüben!"
Kaji stand kurz davor, sich einzugestehen, dass er mit seinem Können am Ende war. Sämtliche Spuren hatten sich als Sackgassen erwiesen – Iewoko Hanakas Mörder hatte weder an der Leiche, noch im Lüftungsschacht verwertbare DNA-Spuren oder gar Fingerabdrücke hinterlassen. Der Leiter der NERV-Sicherheit konnte daher nur davon ausgehen, es mit einem Profi zu tun zu haben. Die einzelnen Teile des Puzzles fügten sich langsam zusammen – offenbar war es dem Täter nicht um die Archivarin gegangen, sondern allein um das auf Eis liegende S2-Organ, Hanaka war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Und die Spur war am potentiellen anderen Zugang in den Lüftungsschacht so kalt gewesen wie der Nordwind, der gegenwärtig über das Land strich.
Doch die Ermittlungen lenkten ihn ab – davon, dass er noch einige Zeit brauchen würde, um seine alte Bestform wieder zu erlangen, davon, dass er Katsuragi die Ehe versprochen hatte, davon, dass selbige sich einer qualvollen Entgiftungsprozedur unterzog, davon, dass er zum ersten Mal seit gut zehn Jahren vollkommen eigenverantwortlich für sein Leben war – er hatte auf alle seine Fragen Antworten bekommen, auch wenn manche nicht ganz so befriedigend und erfüllend gewesen waren, wie erhofft. Mit dem Tod seines Vorgesetzten beim UN-Geheimdienst und dessen Vorgesetzten wusste niemand mehr von seiner Mission und war es sehr unwahrscheinlich, dass sein altes Leben ihn einholen würde – dazu war sein Hintergrund zu gut etabliert worden. Die Identität, welche Wolf Larsen letztendlich für ihn gestrickt hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten. Kaji konnte nicht behaupten, daran etwas auszusetzen zu haben. Und sollten alle Stricke reißen, gab es immer noch ein Nummernkonto in der Schweiz und eine Reihe nicht minder wasserdichter Identitäten, in die er schlüpfen könnte.
Da aber die Ermittlungen in eine einzige große Sackgasse zu führen schienen – und auch seine sicherheitshalber durchgeführte Durchleuchtung von Hanakas Hintergrund zu nichts geführt hatte, hatte er seine Leute angewiesen, die Einrichtungen der Geofront zu durchsuchen – schließlich fehlte ihnen immer noch die Mordwaffe, von der Kaji sich sicher war, dass sie sich noch im Hauptquartier befinden musste. Bei dieser Gelegenheit verfluchte er wiederholt Gendos Ikaris gewaltiges Bauvorhaben. Die Anlagen in der Geofront waren ein vielstöckiges Labyrinth, ein nur schwer zu durchschauender Irrgarten. Die Mitarbeiter einer Abteilung kannten sich in der Regel in den eigenen Räumen und Korridoren und den benachbarten, sowie mit den Hauptgängen aus, doch da hörte es bei den meisten bereits auf. – Zugleich aber hatte gerade diese Strukturierung während der Invasion die Streitkräfte der JDSSF gewaltige Zeit kostet, um sich zu orientieren, welche die Verteidiger zu ihrem Vorteil hatten nutzen können…
Zum Glück hatte Ritsuko ihm Eikyu ausgeliehen, welche die Baupläne des Hauptquartiers bis ins kleinste Detail im Gedächtnis hatte und nun von der Koordinationsstelle der NERV-Sicherheit aus die Durchsuchung steuerte. Die Orte, die sie nicht kannte, gab es auf den Plänen der MAGI auch nicht.
„Major, hier drüben!" wiederholte einer der Männer in Schwarz der Sektion II. Sein Tonfall war drängend, während er Kaji zu sich heranwinkte und auf einen Spind zeigte.
Sie befanden sich in einem der nicht wieder in Betrieb genommenen Trakte. Kaji war nicht wirklich überrascht gewesen, in einer der Waffenfertigungsstätten gerufen worden zu sein. Dass es sich um die Werkstatt handelte, in welcher die EVA-PROGRESSIVEKLINGEN angefertigt worden waren, gab ihm ein seltsames Gefühl von Befriedigung.
„Wie lange steht die Fertigung hier von still? – Ein Vierteljahr?"
Ein bestialischer Verwesungsgestank hing in der Luft.
„In etwa", kommentierte ein anderer seiner Untergebenen. „Als das den EVAs verfügbare Arsenal als ausreichend betrachtet wurde, ließ Kommandant Ikari bis auf weiteres die Fertigung einstellen und die Mitarbeiter auf andere Projekte verteilen.
Kaji spürte leichte Atemnot und ein krampfhaftes Ziehen in der Bauchgegend, während er auf sein Ziel zuging. Fast ein Monat Bettruhe war wirklich nicht gesund gewesen für seine Kondition…
Dann erreichte er den Spind, vor dem seine Leute standen.
In den engen Platz war ein halbnackter menschlicher Körper gequetscht worden. Am Winkel, in dem die Gliedmaßen abstanden, war problemlos zu erkennen, dass die Arme und Beine gebrochen worden waren. Das Gesicht war von der Tür abgewandt.
„Männliche Leiche." erklärte ein Mann in Schwarz dumpf durch das Tuch, welches er sich vor den Mund presste.
Kaji konnte nur ganz flach atmen – der Gestank war andernfalls nicht zu ertragen.
„Spuren sichern, dann den ganzen Spind in die Pathologie abtransportieren. Ist jemand hier nicht der Ansicht, dass die Leiche definitiv älter als ein paar Tage zu sein scheint? – Danke."
Er kehrte in einen Bereich zurück, in dem er besser atmen konnte, zog dann sein Handy heraus und wählte die Nummer des Subkommandanten.
„Professor? – Ja, ich bin's. – Wir haben noch einen Toten gefunden."
*** NGE ***
Am fünften Tag nach Jörg Peters' Ankunft in Tokio-3 begann Maya auf Weisung Akagis mit einer Einschätzung der Synchroneignung bei insgesamt fünf Ayanamis, die sich allesamt als unfähig erwiesen, mit einem EVA zu synchronisieren. Aus den privaten Aufzeichnungen Gendo Ikaris entnahm Ibuki, dass dieser jenen Rei-Klon, der sich als Die Zweite verstand, gezielt aufgrund ihrer Begabung ausgesucht hatte, eine Synchronisation einzugehen. Laut ganz zu Anfang von Projekt-R gewonnenen Daten, war bestenfalls ein Zehntel der Klone synchrontauglich. Der Umstand, dass nur etwas mehr als ein Zehntel die Aktivierung und die Schlacht um NERV überhaupt überstanden hatte, weckte bei Maya starke Zweifel, dass die beiden Gruppen deckungsgleich waren. Entsprechend Murphys Gesetz war wahrscheinlich keine der Ayanamis in der Lage, einen EVA zu steuern, wie sie ihren eigenen Notizen frustriert anvertraute.
Und die MAGI waren mit der nach Peters' Vorgaben angefertigten, dreidimensionalen Kartographierung der Synchronverbindung zwischen EVA-02 und Asuka Soryu Langley fertig…
*** NGE ***
Die kleine Gruppe aus dem Hangarkontrollraum war bis auf Nakamura in die Zentrale verlegt worden, da diese größer war und so die NERV-Offiziere der Präsentation beiwohnen konnten.
Misato saß an einem der Terminals unterhalb des Kommandostandes mit einem großen Becher Kaffee. Sie wusste, dass sie von dem folgenden Technogerede bestenfalls einen Bruchteil verstehen würde, und war dankbar für die große Kanne extrastarken Kaffees, den Aoba gekocht hatte. Aber wenigstens war ihr nicht mehr so elend und übel wie am Vortag – und sich nicht die Eingeweide aus dem Leib würgen zu müssen, hatte auch seine deutlichen Vorteile…
Ritsuko nahm neben Misato Platz.
„Dir geht es heute besser." stellte sie fest.
„Es gibt gute und schlechte Tage. Heute scheint ein guter zu sein. Weißt du, Ritsuko, unter anderen Umständen könnte man bei den Symptomen annehmen, ich wäre schwanger…"
„Gut, dass du dir deinen Optimismus bewahrt hast. Das Ende der Talfahrt ist noch nicht ganz erreicht. Aber das Medikament gegen deine Leberschäden schlägt an."
„Wenn ich wirklich das Kommando hier erhalten sollte, muss ich in Bestform sein, keine abgehalfterte Säuferin."
„Misato, das sage ich dir jetzt nicht als Freundin – an deinen miesesten Tagen warst du während des letzten Jahres das Beste, was die Menschheit für den Posten des taktischen Offiziers von Tokio-3 zu bieten hatte."
„Das…ah… so etwas von dir… Moment… Au! Nein, ich träume nicht."
„Gib mir auch etwas von dem Kaffee, das ist meine zweite Schicht."
„Hier. Wie viele Entgiftungszyklen muss ich noch mitmachen?"
„Drei oder vier, hängt davon ab, wie sich deine Leber regeneriert – die schwamm ja schon in Alkohol."
„Hm, hört sich eklig an… Aber die bildliche Vorstellung ist seltsam interessant… Ich bekomme Durst…"
Verzweifelt leerte Misato ihre Kaffeetasse und goss nach.
„Wie geht es mit dem S2-Organ voran?"
„Es ist unglaublich – schon die kleinen Proben spotten den Naturgesetzen. Sie beziehen von irgendwoher Energie, die sie in Form von Licht und anderer Strahlung wieder abgeben – und ignorieren die Schwerkraft. Wenn wir das S2-Organ unter freiem Himmel gelagert hätten…"
„… hätte das eine ziemliche Sauerei gegeben bei der Verwesungsrate damals."
„Hrmpf. Das auch. Oder es wäre einfach weggeschwebt wie ein Heliumballon. Wir haben einem Fragment vorhin ein wenig Energie zugeführt – nur winzige Spannungsmengen, aber die Wirkung war interessant."
Misato warf Akagi einen nervösen Seitenblick zu.
„Habe ich verpasst, dass du ein Labor in die Luft gejagt hast?"
„Unsinn. Der schwerkraftaufhebende Effekt wurde noch verstärkt. Dieses kleine Stück Zellgewebe hat ein Zehn-Kilo-Gewicht angehoben, bis wir die zugeführte Energie wieder abgeschaltet haben."
„Hm… Ich bin jetzt ja nicht so der ScienceFiction-Fan, aber etwas sagt mir, dass du da einer wichtigen Sache auf der Spur bist."
„Oh, du Meisterin der Untertreibung", seufzte Akagi.
„So, und was machen Maya, Aoba-kun und dein Wunderknabe nun da vorne?"
„Sie installieren bei den MAGI holographische Projektoren."
„Stimmen die Gerüchte?"
„Welche Gerüchte?"
„Dass der Neue nicht schläft, übers Wasser gehen kann und Maya anbaggert."
„Hemmungslos überzogen. Wir alle müssen schlafen. Übers Wasser gehen… hm… das könnte mit richtiger Positionierung der S2-Fragmente möglich sein… wobei es dann eher über das Wasser schweben wäre…"
„Und wegen Maya machst du dir keine Sorgen?"
„Maya ist erwachsen."
„Ich habe immer gedacht, du hättest etwas für sie übrig – natürlich auf rein platonische Weise", fügte Katsuragi hastig hinzu, als sie den überrascht-fragenden Blick der Wissenschaftlerin sah.
„Sie ist die beste Assistentin, die ich je hatte, aber es wird Zeit, dass sie auf eigenen Beinen steht, statt mir am Laborkittel zu hängen. Sie ist soweit."
„Hui. Du wirfst sie also aus dem Nest."
„Ach, Misato, mit dir ist es manchmal eine Qual…"
„Das hat Kaji gestern auch gemeint, während ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe."
„Dafür hatte er Zeit, obwohl er bis zur Nasenspitze in seiner Mordermittlung steckt?"
„Er hat doch eine romantische Ader. Außerdem hat er auf die Ergebnisse seines letzten Fundes gewartet."
„Und du bist dir ganz sicher, dass es diese Mal klappt mit euch?"
„Ich habe ein gutes Gefühl."
„Das hattest du damals auf der Uni auch."
„Du bist doch nicht etwa wieder mit ihm…?"
„Nein. Einmal hat mir gereicht. – Aber du darfst nicht vergessen, dass er im Grunde seines Herzens ein Herumtreiber ist"
„Und?"
„Wenn du versuchst, ihn an die Kette zu legen, könnte er die Flucht ergreifen. Und wenn es dir gelingen sollte, ihn zu zähmen, zerstörst du dabei vielleicht den Teil von ihm, der dich so anspricht."
„Sprichst du aus Erfahrung? – Ich meine, zwischen unserer Zeit an der Uni und unserem Wiedersehen hier sind doch ein paar Jahre vergangen."
„Sagen wir, ich hatte meinen Anteil an menschlichen Enttäuschungen."
„Wie kommt es, dass wir solche tiefschürfenden Gespräche immer führen, wenn Leben auf dem Spiel stehen?"
Akagis Antwort bestand aus einem Fingerzeig nach vorn in Richtung der MAGI, wo Professor Fuyutsuki in seiner üblichen unscheinbaren Uniform ohne Rangabzeichen erschienen war. Ohne große Worte ging er den Technikern bei der Installation der Geräte zur Hand.
„Es ist gut, dass wir mit der Installation der Rechner aus Matsushiro rechtzeitig fertiggeworden sind – die Rechner addieren sich nicht, sie potenzieren sich in ihrer Kapazität. Die Prototypen hätten die Ausgabe zwar auch geschafft in derselben Zeit, aber wir hätten einige andere Prozesse abschalten müssen."
„Dann hoffe ich doch auf eine gute Show."
Über dem inneren Dreieck des MAGI-1-Systems baute sich eine holographische Darstellung des Schädels von EVA-02 auf. Mitten durch den Schädel zog sich ein gerader Riss. Die beiden Hälften wurden auseinandergezogen und weggeklappt. Die eine Hälfte war mit Technik und grauen Gewebeanballungen gefüllt, während in der anderen ein richtiges Gehirn platziert war.
Maya stieß Jörg Peters leicht an, der irgendwie verloren auf der Rampe zwischen den Terminals und den MAGI stand.
„Ja, ahm… wir haben die Schädelstruktur des EVAs als Grundmodell gewählt – hier der Querschnitt des computergestützten EVA-Hirnes. Dann haben wir quasi mit ein wenig Verzerren den Querschnitt eines menschlichen Gehirns darübergelegt und die einzelnen Bereiche des Gehirns umsortiert, bis sie von der Platzierung her den jeweiligen Funktionen im EVA-Hirn entsprachen. Und dann haben wir das hier gemacht…"
Durch beide Schädelhälften begannen auf verschlungenen Bahnen verschiedenenfarbige Lichtpunkte zu zirkulieren.
„… Jeder Lichtpunkt entspricht einer Kategorie von Datensignalen. Wir konnten nahezu alle zuordnen – bis auf dieses Bündel hier."
Bis auf eine Reihe rötlicher Punkte verschwanden alle anderen.
„Durch unsere Akustikexperimente im Hangar konnten wir offenlegen, dass die Teile des Gehirnes angesprochen werden, die für Gehör und audielle Reize zuständig sind. Besser noch, durch schwache Ausschläge in der Freund-Feind-Erkennung konnten wir sogar bestimmen, ob das Gehörte gefiel oder missfiel. Und dann sind wir über dieses Signal gestolpert…"
Das Bild auf dem großen Hauptbildschirm veränderte sich, hatte es bis eben noch eine Kameraübertragung aus dem Hangar und EVA-02 in Großaufnahme gezeigt, erschien nun ein Symbolcode.
Peters sah sich um, trat an Makoto Hyugas Seite.
„Leutnant Hyuga, Sie scheinen mit der Codierung etwas anfangen zu können."
„Sieht aus wie die Codierung eines optischen Signals. Kommt mir bekannt vor…"
„Darf ich?"
Peters beugte sich vor, wartete, bis Hyuga die Hände von der Tastatur gezogen hatte, ehe er ein paar Eingaben machte und flüsterte:
„Auch schon einmal Kabelfernsehen gehackt?"
Das Bild begann zu flackern, ein Cursor wanderte rasch über die Symbole, einzelne Zeichen veränderten sich. Am unteren Bildrand erschien der Vermerk ‚Entschlüsselung läuft'. Und dann erschienen Bilder.
Die Techniker und der Subkommandant neben den Rechnern zuckten zusammen, als auf dem Bildschirm Zeichentrickfiguren erschienen – ein breitschultriger bulliger Typ im Unterhemd und ein bebrillter Punk mit einer Lederjacke, die beide laut brüllten: „Morisato!"
„Was ist das?" fragte Fuyutsuki.
„Ein Fernsehsignal. EVA-02 schaut Animes." erklärte Peters trocken.
„Das scheint mir etwas…"
„Genau!"
Peters breitete die Arme aus.
„Der EVA ist nicht darauf programmiert. Der taktischen K.I. würde ich ein wenig Raum zugestehen – aber nicht dafür." Er deutete auf den Bildschirm. „Asuka wählt dieses Programm bewusst aus. Das Signal ist ein direkter Draht zum Bewusstsein des Piloten!"
„Schau genau hin", flüsterte Akagi. „So sieht wissenschaftlicher Triumpf aus. Er strahlt regelrecht."
„Macht dich so etwas an?" fragte Misato leise.
„Hm…"
Weiter unten hatte Jörg Peters sich einmal um die eigene Achse gedreht und jeden Anwesenden angeblickt.
„Wenn wir das Signal hijacken und das Bergungsprogramm huckepack einschleusen, können wir direkt mit Asuka… mit dem Piloten Kontakt aufnehmen in einer Form, die er nicht ignorieren kann!"
„Es wird nicht funktionieren." stieß Akagi düster hervor.
„Was?"
Misato sah die andere entgeistert an.
„Technisch ist alles perfekt – bereits die letzten Anläufe hätten jeder für sich Erfolg haben müssen. Das Problem liegt auf der psychologischen Seite."
„Also bei Asuka."
„Nicht der EVA blockt das Signal ab…"
„Du meinst also, wir könnten uns auf den Kopf stellen und würden nichts erreichen, solange sie nicht will."
„Du erinnerst dich sicher noch an das Shinji-Bergungsprojekt. Damals hatte ich auch den Eindruck, dass Shinji-kun nicht zu uns zurückkommen wollte. Erst Rei hat es eigentlich geschafft, ihn zurückzuführen."
„Und wozu dann der ganze Aufwand? – Geht die Arbeit dann nicht in die völlig falsche Richtung, Ritsuko?"
„Misato, wenn jemand Asuka erreichen kann, dann dieser Mann. Jörg Peters ist der einzige Mensch, zu dem Asuka noch ein wenig Vertrauen hat, seitdem Kaji ihre Zuneigung so schnöde verraten hat."
„Hm? Was hat Kaji damit nun wieder zu tun?"
„Asuka war in ihn verliebt. Nicht nur kindliche Schwärmerei, glaube ich, sondern ein Mittelding aus erster großer Liebe und Heldenverehrung. Hat er dir erzählt, dass sie versucht hat, ihn zu verführen?"
„Nein…"
„Mir hat er es ziemlich beunruhigt damals erzählt. Vielleicht wollte er das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Asuka und dem Rest – und besonders dir – nicht noch weiter belasten."
„Er hätte es mir erzählen können. Überhaupt hättet ihr alle mir etwas mehr damals über sie erzählen können. Rückblickend habe ich eine Psychopathin in meine Wohnung einziehen lassen."
„Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb sie nicht zurückkommt… Scham… Ich habe mich ja nun sehr mit den Aufzeichnungen befasst, die am Tag des Überfalls angefertigt wurden. Asukas Psychoprofil hat sich an mehreren Punkten stark verändert."
„Den Eindruck hatte ich damals auch, als sie an der Spitze der Ayanamis den Sturm auf den Hangar führte…"
„Jedenfalls… Kaji hat sich für dich entschieden. Ansonsten ist auch niemand ihren Erwartungen nachgekommen. Das Mädchen hat davon geträumt, als Heldin empfangen und als Retterin des Landes hofiert zu werden, stattdessen musste sie sich einen Platz im Team mit den Ellenbogen erkämpfen und bekam obendrein noch von Rei die Abreibung ihres Lebens. Versetz dich mal in sie hinein."
„Ich weiß nicht… Du meinst, sie ist zu bewusstem Handeln fähig, obwohl sich ihr Körper aufgelöst hat und ihre Seele sich im EVA befindet?"
„Shinji-kun hat mir erzählt, er hätte seine Mutter getroffen, als EVA-01 ihn assimiliert hatte. Und die späteren Vorgänge haben bewiesen, dass Doktor Ikari ebenfalls von der Einheit assimiliert worden war. LILITH musste erst einen begrenzten Vorfall verursachen, um die Fesseln zu lösen, die Yui Ikaris Seele an den EVA banden – und da wir genetische Proben von ihr besaßen, konnten die MAGI ein angepasstes Bergungsprojekt in die Wege leiten."
„Das hast du alles schon einmal erzählt."
„Ja, aber da du zu diesem Zeitpunkt noch halt im Suffkoma gewesen warst, dachte ich, dass eine Wiederholung nicht schadet. – Oh, sie sind fertig, einen Moment…"
Akagi stand auf.
„Gute Arbeit. Passen Sie das Programm des Bergungsprojektes an, dass wir es im Rahmen eines TV-Signales übermitteln können. Dann schirmen Sie den Hangar und den EVA gegen alle Störquellen ab. Anvisierter Termin für den nächsten Versuch, das Bergungsprojekt durchzuführen: Heute um Mitternacht."
Sie nahm wieder Platz und beobachtete, wie die versammelten Spezialisten eilig wieder aus der Zentrale abzogen.
„Du glaubst wirklich, dass das alles keinen Sinn hat…?"
„Die Show war eigentlich für ganz andere gedacht."
Akagi verschränkte die Arm unter der Brust.
„Wir müssen Asuka emotional erreichen. Ihre Mutter scheidet aus, die ist in Asukas Augen tot, wenn wir sie einsetzen, wird Asuka es für einen Trick halten und sich weiter abschotten. Kaji hat ihre Liebe verraten und dürfte damit auch nicht mehr vertrauenswürdig sein. Auf dich würde sie als vorgesetztem Offizier hören, aber hier kann man schlecht von einer Befehlsempfängersituation sprechen. Und von mir wollen wir gar nicht reden."
„Der Subkommandant vielleicht?"
„Komm, mit dem hatte Asuka doch gar nichts zu schaffen. Gen… Kommandant Ikari hätte es wahrscheinlich geschafft, sie heraus zu zwingen."
„Ein eiskaltes ‚Komm da raus, Pilotin Soryu'?"
„So in etwa."
„Kannst du ihn nicht klonen? – Die Stimme reicht ja…"
„Misato…"
„Ja?"
„Sprich so eine Idee bitte nie wieder aus. Du weißt nicht, was du damit vielleicht hervorrufst…"
„Gut, gut… - Wenn dein Wunderknabe also trotz aller Ideen Asuka mit eurer Wissenschaft nicht aus dem EVA bekommt deiner Ansicht nach… warum hast du ihn dann kommen lassen?"
„Erstens erschien es mir unverantwortlich, eine so gute Fachkraft weiter in der deutschen Zweigstelle versauern zu lassen, wenn uns hier Leute an allen Ecken und Enden fehlen – dass er sich um das Bergungsprojekt kümmert, hat Maya und mich gewaltig entlastet. Und zweitens sagte ich ja schon – wenn jemand Asuka emotional erreicht, dann er."
„Wie kommst du auf diese Folgerung?"
„Ich habe Kaji gefragt."
„Dann ist das letztendlich…"
„Genau, ein Szenario unseres Superspions – und der liegt ziemlich oft richtig, ich erinnere dich nur an den Israfel-Zwischenfall und sein Spezialtrainingsprogramm."
„Okaaaay – und was hat er dir gesagt?"
„Dass Jörg Peters Asukas einziger Freund auf dieser Welt wäre. Dass es in seinen Augen niemand anderen mehr gibt, der sie aus dem EVA herauslocken könnte. – Und dass er nebenbei unter Druck Unglaubliches zu leisten imstande wäre, wie wir ja gesehen haben."
„Und jetzt?"
Akagi drehte sich Katsuragi zu und griff nach dem Silberkreuz, das sie um den Hals trug, wog es nachdenklich in der Hand.
„Jetzt wäre der Zeitpunkt, an dem die Gläubigen um ein Wunder zu beten beginnen…"
*** NGE ***
Eine Stunde vor Mitternacht fand Jörg Peters sich wieder in der kleinen provisorischen Kapelle in jedem Bereich wieder, der inoffiziell als die Katakomben bezeichnet wurde.
Zum ersten Mal seit Jahren betete er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Knien um Stärke.
Er bemerkte nicht, dass er von einem Paar roter Augen beobachtet wurde und dass der Beobachter jedes seiner Worte regelrecht in sich aufsog, selbst wenn er ihn nicht verstand.
*** NGE ***
„Ziemlich spät für einen Lagebericht", brummte Ryoji Kaji, als er das Büro des Kommandanten betrat.
„Könnten Sie denn schlafen?" fragte Fuyutsuki zurück.
„Ritsuko versucht gleich, ihr Bergungsprojekt in Gang zu bringen – wenn ich sie richtig verstanden habe, sieht sie den heutigen Termin als letzte Chance. Also – nein – ich könnte nicht schlafen. Und wenn ich ehrlich sein darf, Professor, bin ich ein Nervenbündel und habe Angst, dass wir Asuka endgültig verlieren."
„Hm. Ja. Zu Beginn des Jahres sah alles noch so einfach aus. Wir hatten Rei und obwohl das First Child wie ein Mensch aussah, wie ein Mensch atmete… wie ein Mensch blutete…, konnte ich mich mit dem Gedanken beruhigen, dass wir keine echte Vierzehnjährige in den EntryPlug steckten, sondern ein Kunstgeschöpf ohne eigenen Willen. Als sie dann bei der Aktivierung von EVA-00 derart verletzt wurde, konnte ich die Schmerzen in ihren Augen sehen und wusste, dass ich mich die ganze Zeit über belogen hatte. Aber sie war unsere einzige Pilotin, unser einziger Trumpf im Kampf gegen die Engel, deren Ankunft wir jeden Tag erwarteten. Schließlich überraschte… schockierte Ikari mich damit, dass er Shinji nach Tokio-3 holte. Er war sich so sicher, dass der Junge Rei vorübergehend ersetzen könnte. Ich hatte Vorbehalte, aber wieder weniger, weil mein Gewissen mir zurief, dass es falsch wäre, Kinder als Soldaten einzusetzen. Ich hatte meinem Wunsch zu überleben und eines Tages…"
Der alte Mann hielt inne.
„Ich will sagen, ich verstehe Sie vollkommen. Um unsere Ziele zu erreichen, haben wir schwere Schuld an den Kindern auf uns geladen. Ich finde auch keine Ruhe. Andererseits brauchen alte Männer wie ich ja auch weniger Schlaf."
Kaji grinste.
„Sie wollen sicher hinsichtlich unserer Todesfälle auf den neuesten Stand gebracht werden."
„Bitte."
„Also, Leiche Nummer 2 ist ein Angehöriger der Logistik namens Akira Shirota. Die Leiche wurde in einen Spind gestopft, jedoch sind die meisten Verletzungen älter und wurden ihm vor seinem Tod zugefügt. Der Mörder hat ihn gefoltert – und ich kann nur sagen, dass es sich auch dabei um einen Profi gehandelt hat. Shirota hat keinen heilen Knochen mehr in seinen Armen und Beinen, ich würde auf einen Hammer und einen Meißel tippen. Der Täter hat etwas von ihm erfahren wollen. Shirota war laut seiner Akte unauffällig, daher nehme ich an, dass er nicht lange der Folter standgehalten hat – und der Mörder hat dann weitergemacht, bis es für Shirota zu viel wurde. Todesursache: Herzversagen aufgrund von übermäßigem Stress."
„Zu Tode gefoltert…"
„Ja. Ich bin mit der Methodik rudimentär vertraut und gebe auf dieser Basis meine Beurteilung ab. Eine Analyse der Technik könnte weiterhelfen, ich werde den Bericht einem mir bekannten Experten beim MOSSAD vorlegen. Die Leiche ist knapp drei Wochen alt. Shirota gehörte zu denjenigen, die nach dem Angriff auf NERV vermisst wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass der Mörder ihn fehlende über festgehalten hat."
„Und das direkt unter unserer Nase. Höchst besorgniserregend, Major."
„Wir haben immer noch nicht alle Bereiche wieder unter der Überwachung der MAGI, das Netz der Sicherheitskameras, Bewegungsmelder und sonstigen Sensoren ist immer noch sehr löchrig und wird es auch noch eine Weile bleiben. Meine Leute patrouillieren in Zweiergruppen durch die nicht genutzten Bereiche, aber das ist bei diesem Labyrinth nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Im B-Block müsste man ganze Ebenen eigentlich dichtmachen. Und der nur teilweise ausgebaute C-Block…"
Kaji machte eine abwinkende Handbewegung.
„Kommandant Ikari mochte die Pläne verstanden haben, ich bin der Ansicht, dass die Anlagen in der Geofront sicherheitstechnisch ein Albtraum sind. Aber wahrscheinlich hätte Kommandant Ikari sich mit einem solchen Vorfall auch kaum befasst."
„Die neue Leiche ist also älter als die der Archivmitarbeiterin."
„Genau. Aufgrund von Shirotas Tätigkeitsbereich und seiner Akte gehe ich von folgendem aus: Shirota wusste, wo genau das S2-Organ eingelagert war. Und ihm war der Zugangscode für das Haupttor des Kühlraumes, sowie für den Zugang vom Archiv her bekannt. Der Mörder wollte zum S2-Organ. Hierzu musste er wissen, wo es sich befindet und wie er hineinkommt. Beides hat er von Shirota erfahren und ihn dann in der Fertigungsabteilung entsorgt. Dann musste er feststellen, dass das Haupttor versiegelt war. Blieb also nur der Weg durch das Archiv. Unser Täter ist clever und einfallsreich. Er wartete, bis wir die über dem Archiv liegenden Labortrakte wieder geöffnet hatten und ihm so unwissend den Zugang zum Luftschacht ermöglichten. Von dort aus kletterte er im Schacht auf die Archivebene und drang in diese ein, wo er auf Hanada traf."
„Wenn Sie die Geschichte so erzählen, scheint es zusammenzupassen."
„Ja, muss aber leider auch nicht. An Shirotas Leiche haben wir keine sonstigen Verletzungen gefunden, keine Schnittwunden von einem Messer, keine Spuren von Schlägen oder Tritten. Meine Leute sehen sich gegenwärtig die Bereiche rund um den Fundort der Leiche an, irgendwo muss der Mörder ja ihn festgehalten und gefoltert haben. Angesichts zweier unterschiedlicher Operationsmodi könnte auch meinen, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben, die nicht zwangsläufig in Verbindung stehen."
„Machen Sie weiter."
„Natürlich. Ich gehe davon aus, dass der Täter sich noch im Hauptquartier befindet. Wer zwei Menschen auf solche Weisen tötet, der verschwindet nicht einfach. Zumal jetzt das S2-Organ weitaus besser zugänglich ist. Habe die Bewachung aber verstärkt."
„Es gibt noch weitere S2-Organe im Hauptquartier…"
„Ich weiß. Der Hangar wird von den MAGI jetzt ständig überwacht, das gilt auch für die Genschmiede im TerminalDogma. Und Shinji-kun hat eine ständige Leibwache aus wenigstens zwei Ayanamis. – Denen musste ich die Lage nicht einmal erklären. Ihr Sohn ist ziemlich beliebt bei den jungen Damen."
„Major Kaji…" zischte Fuyutsuki. „Wir waren uns doch einig, dass dies…"
„Entschuldigen Sie, Professor."
Fuyutsuki nickte.
„Schon gut. Wir sind alle ziemlich nervös."
*** NGE ***
Kurz vor Mitternacht begannen die Vorbereitungen für den vierundvierzigsten Anlauf des Asuka-Bergungsprojektes. Wieder waren alle Terminal und Schaltstationen doppelt besetzt. Am Hauptpult saßen Doktor Akagi und Doktor Soryu, während Peters und Ibuki wieder an derselben Station Position bezogen hatten. Aus den Augenwinkeln beobachtete Peters, wie sehr Maya sich strecken musste, um alle Schalter und Anzeigen zu erreichen. Er griff zur Seite und reichte ihr eine zusammengelegte Decke.
„Für Ihren Stuhl", murmelte er, wartete nicht ihr überraschtes „Danke" ab, sondern widmete sich wieder seinen Anzeigen.
„Alle Fremdsignale werden abgeblockt", verkündete Makoto Hyuga. „Wir können jetzt das Fernsehsignal imitieren und die Daten des Bergungsprogrammes huckepack schicken."
Akagi sah sich um. Alle schienen ihr bereit und hochkonzentriert.
„Beginnen Sie, Leutnant Hyuga."
„Signal wird übernommen."
„Ich reguliere die Sendestärke", kommentierte Maya.
„Genetische Matrizen werden überspielt…"
*** NGE ***
Asuka schaltete zwischen den Fernsehkanälen hin und her. Auf allen – auf allen über dreihundert Kanälen – lief dasselbe Programm: Eine Teleshoppingsendung für rote PlugSuits.
„Nein… nein… nein… nein, nein, nein!"
Vehement presste sie den Daumen aus den ‚Aus'-Knopf, doch das Bild blieb. Schnell trat sie an den Fernseher, drückte dort den ‚Aus'-Schalter, doch das Bild blieb. Sie zog den Stecker aus der Steckdose – und das Bild blieb.
Verschreckt rannte sie aus dem Wohnzimmer in den Flur und die Treppe hinauf ins Arbeitszimmer ihres Onkels, prallte zurück, als sie die Tür öffnete – in der Kommandozentrale rotierten holographische Darstellungen von PlugSuits, DNA-Ketten, menschliche Dummymodelle, Bilder von ihr…
Sie lief die Treppe wieder hinunter in ihr Zimmer, schloss hinter sich die Tür ab, warf sich aufs Bett und zog sich die Decke über den Kopf…
In ihrem Kopf hämmerte eine Stimme – Rei Ayanamis Stimme -, die ruhig und doch voller Zorn immer wieder dieselben Worte wiederholte: „Kannst du nur zerstören?"
*** NGE ***
„Matrizen übermittelt."
Hyugas Stimme war ein Aufatmen zu entnehmen. Soweit waren sie bei den anderen dreiundvierzig Anläufen nicht gekommen.
„Die nächste Phase des Bergungsprogrammes sollte jetzt anlaufen…" murmelte Akagi.
„Da passiert überhaupt nichts."
Die Erleichterung war wieder aus Hyugas Stimme verschwunden.
Ritsuko sah Asukas Mutter an.
„Kyoko, Sie müssen jetzt stark sein… - Leutnant, wohin…" setzte sie an, als sie sah, dass Peters den Kontrollraum verließ. „Maya…"
„Ich kümmere mich darum, Senpai."
Peters schritt über die Stege, kletterte Leitern hinauf und hinab, bis er vor EVA-02 auf Kopfhöhe stand.
„Warum?" brüllte er. „Warum versteckst du dich da drinnen? Wir warten alle auf dich, Asuka. Wir…"
Er senkte den Kopf, wog sein Multifunktionswerkzeug in der Hand, während er mit der anderen das Geländer umklammerte.
„Was haben Sie jetzt vor?" fragte Maya leise.
„Ich könnte hiermit die Magnetverschlüsse der Panzerung öffnen, die sonstigen Verbindungen lösen und dann dem Kern des EVAs einen Stromstoß verpassen… den er nicht einmal registrieren würde…"
Er drehte den Kopf.
„Ich kann gar nichts mehr tun. Das eben war der letzte kärgliche Trumpf."
Überrascht registrierte er, dass sie seine Hand drückte, die auf dem Geländer lag.
„Geben Sie noch nicht auf. Durch Ihren Plan haben wir die genetischen Matrizen durchbekommen. Vielleicht braucht EVA-02 nur etwas länger…"
„Nein. Es ist Asuka. Sie versteckt sich… Wissen Sie, Maya-san, sie hat sich schon einmal versteckt. Das war damals während meines Praktikums bei NERV. Ohne besondere Sicherheitseinstufung stand ich die beiden Wochen eigentlich nur im Weg. Ich durfte mir das eine oder andere ansehen, aber nie ohne Begleitung und immer Abstand haltend, bloß nichts anfassen. Als Asuka ein Geschenk zum Geburtstag ihrer Tante besorgen wollte, wurde ich als Aufpasser mitgeschickt. Wir gingen in ein riesiges Kaufhaus – und da entschied sie sich plötzlich, mit mir Verstecken spielen zu wollen, rief, ich sollte kurz warten und sie dann suchen – und weg war sie. Ich nahm natürlich sofort die Verfolgung auf, hetzte durch alle Abteilungen und Stockwerke. Ich fand sie nicht. Damals stieg Panik in mir auf. Ich bedachte nicht einmal, dass Asuka unter ständiger Beobachtung der NERV-Sicherheit stand. – Major Kaji hat sich ziemlich amüsiert… - Schließlich gab ich nach fast einer Stunde die Suche auf und wandte mich an die Information. Der Mann dort forderte über Lautsprecher Asuka auf, sich an der nächsten Kasse einzufinden, ihr großer Bruder mache sich Sorgen. Ja, er unterlag da natürlich einem Irrtum… Asuka meldete sich fast sofort. Auf dem Rückweg machte sie mir Vorwürfe, wie ich mich denn als ihr großer Bruder ausgeben könnte. Sie hätte doch gar keine Geschwister. Ich erklärte ihr, dass der Angestellte des Kaufhauses falsche Schlüsse gezogen hatte. Plötzlich wurde sie nachdenklich. Sie wiederholte, dass sie keine Geschwister hätte… und schob dann hinterher, dass sie gerne einen großen Bruder wie mich hätte. Verstehen Sie, Maya-san, in diesem kurzen Moment hat sie sich geöffnet, konnte ich durch die Wut und die Enttäuschung blicken, die sie sonst meist umgaben wie ein Schild. Ich habe ihr versprochen, nicht noch einmal so rasch aufzugeben, wenn sie verlorengeht… Und…"
Seine Augen weiteten sich.
„Einen Versuch noch!"
Kurz drückte er Mayas Oberarme, dann rannte er zurück in den Kontrollraum.
*** NGE ***
„Sagen Sie es schon", stieß Kyoko Soryu mit unsagbarer müder Stimme hervor. „Sagen Sie, dass es wieder nicht funktioniert hat. Dass wir wieder gescheitert sind…"
„Doktor Akagi?" fragte Leutnant Hyuga.
Akagis Blick war nach draußen gerichtet, auf den roten EVANGELION zu.
„Warten Sie noch… Systeme in Bereitschaft halten!"
„Wofür…"
„Dafür, Doktor Soryu, dafür…"
Die Tür flog auf.
„Hyuga, rekalibrieren Sie das Signal für eine Liveübertragung!"
„Ahm…"
„Los, tun Sie es, Leutnant."
Akagi unterdrückte ein Lächeln. Das war in etwa das, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte – der Versuch, über die Grenzen der Wissenschaft hinauszugehen. Langsam stand sie auf, bemerkte, dass Maya ebenfalls wieder im Kontrollraum angekommen war.
„Leutnant Peters, was haben Sie vor?"
„Ich… ich muss mir überlegen, was ich ihr sagen soll…"
„Ihr? – Asuka?" fragte Soryu mit aufgerissenen Augen.
Langsam ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, presste seine Hände gegen sein Gesicht.
„Ich glaube, wir haben nur noch diese eine Chance. – Mogami, Agano, überprüfen Sie den Zustand der Egoformation, bitte."
„Zustand war die ganze Zeit unverän…"
Aoi Mogami hielt inne, schluckte, überprüfte ihre Werte.
Die jüngere Kaede Agano kam ihr zuvor.
„Zerfall der Egoformation beschleunigt sich…"
„… Wir haben noch einundzwanzig Minuten bis zum Punkt ohne Wiederkehr", übernahm Mogami wieder.
„Nein…"
Aus Doktor Soryus Mund drang ein leiser, langgezogener Schrei.
„Wir sind bereit", vermeldete Hyuga. „Sie können sprechen."
„Gut… Nur…"
Peters ließ die Hände sinken, war überrascht, direkt in Mayas Gesicht zu sehen.
„Sie schaffen das." flüsterte sie eindringlich.
Peters wirkte auf sie müde, unsäglich müde…
Doch dann straffte er die Schultern und trat wieder dieses Funkeln in seine Augen.
„Verbindung öffnen."
Er schluckte, fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich furchtbar trockenen Lippen. Dann schloss er die Augen, erinnerte sich.
„Die kleine Asuka wird gebeten, sich an der nächsten Kasse zu melden. Ihr großer Bruder macht sich Sorgen um sie." sprach er mit beherrschter Stimme auf Deutsch in das integrierte Mikrophon.
Er atmete tief durch, sah zur Seite.
„Leutnant Hyuga, schicken Sie es bitte im dreißig Sekundentakt in den EVA. Keine Änderungen."
„Peters, machen Sie sich über mich lustig?" fragte Soryu. „Was soll diese Botschaft?"
Akagi zog Soryu auf deren Platz zurück, deutete auf den Hauptmonitor des Kontrollraumes.
„Sehen Sie!"
*** NGE ***
Die roten PlugSuits waren überall – ihr Kleiderschrank hing voll von ihnen und Asuka wusste genau, dass sich dort eigentlich Kleider befinden sollten. In der Garderobe hing eine anstelle ihrer Sommerjacke. In der Küche hing ein roter EVA-Pilotenanzug, wo normalerweise die Küchenschürzen hinter der Tür hingen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Strom immer noch und zeigte diese Werbesendung.
Selbst im großen Spiegel neben der Garderobe konnte Asuka eine PlugSuit sehen, die sich flimmernd über ihre eigene Gestalt legte, dann wieder aus der Realität zu blinken schien.
Asuka wich von dem Spiegel zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte.
Sie wollten sie wieder holen. Mehrere Dutzend Mal schon hatten sie es versucht, hatten an den Türen geklopft und durch die Fenster gestarrt, hatten versucht, sich Einlass zu verschaffen. Was wollten sie nur von ihr, warum wollten sie sie aus dieser ruhigen Welt reißen?
Dann hörte sie die Stimme. Sie kam aus dem Fernseher und dem Radio und der Stereoanlage und dem Headset des PCs und dem Radiowecker und dem Herd und dem Abfluss der Spüle und dem Spiegel und… eigentlich kam sie von überall her.
„Die kleine Asuka wird gebeten, sich an der nächsten Kasse zu melden. Ihr großer Bruder macht sich Sorgen um sie."
Mehrere Herzschläge vergingen, dann erklang die Stimme erneut, wiederholte die Worte.
„Die kleine Asuka wird gebeten, sich an der nächsten Kasse zu melden. Ihr großer Bruder macht sich Sorgen um sie."
Asuka stockte der Atem.
Die Stimme war ihr nur allzu bekannt.
In den letzten Tagen und Nächten hatte sie immer wieder ein Flüstern und Wispern gehört, das aus dem Nebel zu dringen schien, hatte geglaubt, vertraute Stimmen zu erkennen – Doktor Akagi, ihre Assistentin Maya, der eine Typ von der Brückencrew, der kleine mit der Brille… doch sie hatte die Stimmen immer als Halluzination und Einbildung betrachtet, zum einen nahm ihr Onkel sie nicht wahr und zum anderen gehörte die Stimme ihrer Mutter zu diesem Chorus. – Und ihre Mutter war tot, konnte also gar nicht zu ihr sprechen. Doch diese Stimme… und dazu diese Worte…
„Jörgi…" flüsterte sie.
Jörg Peters… Jörgi… kam, um sie zu holen…
Sie lief ins Wohnzimmer, presste das Gesicht gegen die Scheibe des großen Fensters, starrte in den Nebel hinaus. Aus den Schlieren schälte sich kurz ein Bild, ein Metallsteg, auf dem eine Gestalt stand. Kurz meinte sie zu hören, wie die Gestalt ‚Warum?' schrie.
Asuka holte tief Atem und kehrte in den Flur zurück, trat vor den Spiegel.
Sie beobachtete, wie die PlugSuit sich an ihrem Spiegelbild manifestierte, wie die Unschärfe und das Flackern nachließen.
„Du hast dich also entschieden."
Sie blickte zur Seite, die Treppe hinauf. Auf der fünften Stufe stand ihr Onkel.
„Es ist Zeit."
„Ich weiß."
„Ich bin bereit."
Mit diesen Worten betätigte sie den Schalter an ihrem Handgelenk und das Material der PlugSuit legte sich hauteng an. Noch einmal sah sie in den Spiegel, bedauerte kurz den Verlust ihres räumlichen Sehvermögens und spürte einen leichten Stich angesichts der leeren linken Augenhöhle, die ihr entgegenstarrte.
Dann nickte sie ihrem Onkel zu und öffnete die Tür, trat aus dem Haus und marschierte in den Nebel hinein.
Hinter ihr verblasste das Haus und wurde von den Nebeln verschlungen…
*** NGE ***
„EVA-02 bestätigt Empfang der genetischen Matrizen. Rekonstruktionsphase wird eingeleitet!" Makoto Hyugas Stimme schien sich zu überschlagen. „5%... 8%..."
„Kontakt zum EntryPlug gestört", verkündete Satsuki Ooi von ihrem Platz aus. „Kein Bild, kein Ton. Signale werden anscheinend aus dem Inneren des EVAs unterdrückt."
„Wir haben Asukas Muster lokalisiert! Separationsvorgang beginnt! "
„Bringe Wellenmuster in Einklang, Senpai."
„10% des Vorganges abgeschlossen! 14%!"
„Die Sonde im Plug übermittelt Daten – immer noch weder Bild noch Ton. Die Zusammensetzung des LCLs verändert sich. Sonde misst strudelartige Bewegungen an."
„16%! – Prozess verlangsamt sich."
„LCL nimmt Körpertemperatur an. – Ich versuche es mit der Wärmebildkamera. Signal auf den Schirm."
Auf dem Monitor wurde ein undeutlicher Schatten abgebildet, der dennoch auch ohne viel Fantasie als Umriss eines Menschen zu erkennen war.
„Sonde übermittelt ein akustisches Signal."
„Laut stellen", wies Akagi an und konnte ein versonnenes Lächeln nicht mehr unterdrücken, als sie das vermutete Geräusch hörte, ein leises Wummern – ein Herzschlag.
„Prozess nimmt wieder Fahrt auf – 20%... 25%..."
„Lebenserhaltungssystem des Plug online. Wir haben einen Herzschlag und Lungenfunktionen! Werte im normalen Bereich."
„33%."
„Synchronverbindung reguliert sich zurück in den Messbereich. 150%... fallend… 140%..."
„Sie kommt zurück… sie kommt zu uns zurück…"
Kyoko Soryu stand auf, trat langsam an die Tür des Kontrollraumes.
„Rekonstruktion zu 40% abgeschlossen."
„Messbare Gehirnfunktionen!"
„EVA-02 hat eben gezuckt!"
Schlagartig hielten alle den Atem an, sahen nach draußen, wo der rote EVANGELION sich in seinem Käfig aufgerichtet hatte. Ein Leuchten ging vom Bereich des zerstörten Auges aus.
„EVA-02 regeneriert Schaden am optischen System."
„Bereithalten, um notfalls Bakelit in den Käfig einzuleiten." wies Akagi an.
„Körperfunktionen werden stärker. Puls messbar. Hirnströme messbar."
Das Bild auf dem Monitor wurde aktualisiert, war nun schärfer, kompakter – im EntryPlug trieb eine menschliche Gestalt!
„Rekonstruktion zu 50% abgeschlossen."
„Synchratio bei 100%. Stabil."
„Scannerfunktionen online. Intakte Oberflächenstruktur. Daten stimmen mit den Daten der Pilotin vor ihrem Verschwinden überein. Knochendichte 50%, steigt. Organe erreichen funktionsfähige Reife."
„Rekonstruktion bei 60%."
„Synchratio 99,5%."
„Alle Werte stabil, Wellenmuster in Einklang. Trennung von Asukas DNA abgeschlossen."
„Rekonstruktion bei 75%, Vorgang beschleunigt sich."
Hyuga ratterte den Fortschrittsbericht wie ein Maschinengewehr hinunter. Nakamura gab Veränderung in der Synchronverbindung an. Maya bestätigte im Minutentakt, dass der Prozess stabil ablief und es keine Probleme gab. Mogami berichtete über die von der Sonde gemessenen Körperfunktionen.
Die Wärmebildkamera zeigte mittlerweile einen voll ausgeformten menschlichen Körper, die angemessenen Werte wurden von Satsuki Ooi beständig verglichen.
„Körpergröße und geschätztes Gewicht stimmen mit dem Pilotin Soryus überein."
„Rekonstruktion bei 99%."
„Synchratio fällt rapide. 75%... 70%..."
Und dann schien sich eine Hand auf die Sensoren der Sonde im Plug zu legen und war auf dem Monitor nur noch Schnee zu sehen.
„Sonde ausgefallen. – Korrektur: Sonde wurde manuell blockiert."
„Versuchen Sie, eine Verbindung in den Plug zu schalten!"
„Ja, Doktor Akagi."
„Und beordern Sie das bereitstehende medizinische Team auf den Zugangssteg."
Die Tür des Kontrollraumes schlug hinter Kyoko Soryu zu, die auf den Laufsteg draußen getreten war.
„Rekonstruktionsphase abgeschlossen."
„Lebenserhaltung vermeldet keine Schäden. Hundertprozentige körperliche Übereinstimmung. Alle Werte im normalen Bereich."
„Synchratio fällt auf Null."
„EVA-02 empfängt Anweisung zum Ausstoßen des EntryPlug. – Anweisung wird offenbar ignoriert."
„Nein…" murmelte Peters. „Der Befehl ist in einer Art Warteschleife geparkt."
„LCL wird aus dem Plug abgepumpt."
„Maya, halt ein Auge auf die Bildschirme und stell sicher, dass die Daten doppelt gesichert werden…"
„Ja, Senpai."
„Hyuga, Nakamura, kommen Sie mit, vielleicht muss der Plug manuell evakuiert werden. Agano, Ooi, Mogami – sobald der Plug ausgestoßen wurde, unterziehen sie ihn und die Systeme einer eingehenden Untersuchung mit Priorität bei der Datensicherung. Peters…"
„Ich gehe Leutnant Ibuki zur Hand, sofern ich beim EVA nicht benötigt werde."
„Tun Sie das…"
Der Raum leerte sich und nur die beiden blieben zurück.
„Das ist unglaublich. – Den Daten aus dem Plug zufolge hat sich Asukas Körper vollkommen…" Maya suchte nach Worten.
„Rematerialisiert?"
„Rekonstruiert?"
„Wahrscheinlich beides. Sie waren doch dabei, als das dem Third Child passiert ist – wurde da kein Begriff für den Vorgang geprägt?"
„Damals ging alles so schnell – und das Bergungsprogramm wurde während der Rekonstruktionsphase von EVA-01 unterbrochen. Senpai sagt, dass Shinji-kun sich selbst rekonstruiert hätte."
„Doktor Akagi wirkt… involviert. Bei Asukas Mutter kann ich es nachvollziehen, aber nach dem, was ich über sie gehört hatte, hatte ich von NERVs Leitender Wissenschaftsoffizierin einen anderen Eindruck."
„Für Senpai Akagi hat das Leben der Piloten einen höheren Stellenwert als die EVAs. – Warum sind Sie nicht ebenfalls auf dem Steg? – Sie haben Asuka zurückgeleitet."
„Dieser Augenblick gehört ihrer Mutter. – Ah, endlich… EVA-02 hat den Evakuierungsbefehl endlich verarbeitet. Jetzt ist es soweit…"
„Sehen Sie…"
Die Verriegelungen im Nacken von EVA-02 lösten sich. Der Plug schoss vom Druck des abfließenden LCL angetrieben auf seinen Führungsschienen aus dem Steuernerv.
Auf dem Monitor, der inzwischen das Bild einer Kamera in der Nähe des Zugangssteges übertrug, konnten sie sehen, dass Ritsuko Akagi und NERV-Technikerin Satsuki Ooi Doktor Soryu davon abhielt, zum Plug zu stürmen, während Hyuga und Nakamura mit Brechstangen auf die Einstiegsluke zugingen, um sie notfalls gewaltsam zu öffnen, dann aber innehielten, als sich das Handrad von selbst zu bewegen begann.
Maya blickte zur Seite, sah, dass Jörg wie gebannt auf den Bildschirm blickte, während sich in seinen Augen Tränen ansammelten.
Die Einstiegsluke schwang auf. Die Kamera hing in einem ungünstigen Winkel und zeigte zunächst nur etwas Rotes. Dann schob sich mit wackligen Knien, als lernte es gerade erst wieder Laufen, ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen in einer NERV-Offiziersuniform aus der Steuerkapsel. Sein rotes Haar hing ihm klatschnass ins Gesicht; das Mädchen war barfuß und die Uniformjacke war falsch geknöpft. Es taumelte, konnte sich noch rechtzeitig am Geländer festhalten, auch wenn Makoto Hyuga einen Sekundenbruchteil später an der Seite des Mädchens war, um es zu stützen.
Die Rothaarige schüttelte den Leutnant unwillig ab, machte unsichere Schritte auf Akagi zu, drückte sich am Geländer in die Höhe, nahm Haltung an.
„Captain Soryu Langley meldet sich vom Einsatz zurück", stieß sie hervor. Ihre Stimme war ein einzige Krächzen und Reiben und zwischen den Worten spuckte sie LCL-Reste aus, die ihr übers Kinn liefen. Dann sah sie die Frau, die sich an Akagi vorbeidrängte, und Asukas rechte Auge weitete sich. „Mama…"
Sie verdrehte ihr Auge und sackte zu Boden. Wieder war Hyuga rechtzeitig zur Stelle, um sie aufzufangen.
Sofort war Doktor Soryu über ihr und zog sie in die Arme, ließ nur widerwillig zu, dass der bereitstehende Arzt Asuka oberflächlich untersuchte. Mit sanfter Gewalt lösten die drei NERV-Technikerinnen Mutter und Tochter, damit letztere auf eine Rollliege angehoben und auf die Krankenstation gebracht werden konnte.
Peters spürte Mayas Hand auf seinem Unterarm.
„Sie haben es geschafft. Sie haben es wirklich geschafft!"
Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick zu heben.
„Nein, ich stand nur auf den Schultern von Riesen."
„Das ist nicht…"
Peters lächelte.
„Auftrag ausgeführt. Das dürfte wohl das Ende meines Gastspiels hier gewesen sein."
Der Griff um seinen Unterarm wurde einen Moment lang stärker, während er Asuka hinterher sah, die aus dem Hangar gebracht wurde.
„Sie glauben wirklich, dass sie zurück nach Deutschland müssen."
„Müssenist ein hartes Wort. Aber meine Abordnung ins Hauptquartier ist zeitlich begrenzt. Und da das Bergungsprojekt erfolgreich abgeschlossen wurde…"
„Wir haben also nicht mehr viel Zeit."
Maya ließ seinen Arm los.
„Wofür…"
Da spürte er ihre Hände auf seinen Wangen und den sanfte Druck, mit dem sie ihn zwang, ihn anzusehen, während sich ihr Gesicht dem seinen näherte. Willig ließ er zu, dass sich ihre Lippen berührten, zog sie schließlich in seine Arme.
Beinahe nebenbei schloss Maya die Datensicherung ab und begann einen Tiefenscan der wieder zugänglichen EVA-Kommandodateien. Dann schoben und zogen die beiden einander auf die Tür zum Verbindungskorridor hin, ohne den Körperkontakt zu unterbrechen, und verschwanden nach einem kurzen Stück in Peters' Arbeitszimmer…
Eine gute Viertelstunde ließen sie schweratmend voneinander ab. Peters lag auf dem Rücken und streckte alle vier Extremitäten von sich, während Maya neben ihm saß und aus den Kleidungsstücken, die sie sich gegenseitig vom Leib gerissen hatten, ihre Kleidung heraussortierte.
„Das war nicht geplant…" flüsterte sie irgendwie betroffen. „Wie die Tiere…"
Wie hatte sie sich nur dazu hinreißen lassen können… Seit der gescheiterten Verabredung mit Shigeru Aoba hatte sie den Vorsatz, sich mit keinem Kollegen einzulassen – und erst recht nicht mit einem rangniederen…
„Es war intensiv."
Er setzte sich auf und legte die Hand auf ihre nackte Schulter.
„Vielleicht sollten wir…"
„Das darf sich nicht wiederholen." stieß sie beinahe panisch hervor. „Wir setzen hier unsere Karrieren aufs Spiel."
Peter schwieg, während Maya sich ankleidete und nach einem Knopf suchte, der an ihrer Uniform fehlte.
„Wir müssen auf unsere Posten zurück…falls Senpai Daten benötigt, oder…"
Sie wurde hektisch.
„Ich verstehe… das hier ist… nie passiert…"
*** NGE ***
Zum Glück hatte Doktor Ritsuko Akagi anderes im Kopf, als sich Gedanken darüber zu machen, ob der Hangarkontrollraum besetzt war. – Zumal die drei NERV-Technikerinnen an ihre Posten zurückkehrt waren und überrascht reagierten, als Maya aus dem Verbindungsgang zum Testcenter kam und hastig erklärte, Daten kopiert zu haben. Dann tauchte Peters aus derselben Richtung auf, erklärte fahrig, er wäre wohl länge im Waschraum gewesen als beabsichtigt. Dass Maya wie Peters dabei rot anliefen, sorgte dafür, dass sich die drei Technikerinnen verstohlene Blicke zuwarfen und die Gerüchteküche in den nächsten Tagen kochen sollte.
Nur Kaworu, der immer noch im EntryPlug von GREMLIN wartete, hatte außerdem noch bemerkt, dass kurzfristig niemand im Kontrollraum gewesen war.
Auf der Krankenstation war Akagi persönlich damit beschäftigt, Asuka zu untersuchen, während Kyoko Soryu unruhig daneben stand. Das männliche Personal hatte Akagi fortgeschickt und Eikyu als Protokollantin hinzugeholt.
„Die Augenhöhle macht mir Sorge… eigentlich hatte ich gehofft, dass Asuka das Auge regeneriert", murmelte Ritsuko, während sie mit einem Scanner über die auf einer Pritsche liegende Asuka fuhr. „Sieht ansonsten aber alles gut aus."
„Und warum ist sie ohnmächtig? Ist sie in einem ähnlichen Schlaf wie Doktor Ikaris Sohn?"
„Scheint mir nicht so. Ich tippe eher auf die Anstrengung, die mit der Neubildung des eigenen Körpers verbunden ist, kombiniert mit der Tatsache, ihrer totgeglaubten Mutter gegenüberzustehen. Das Mädchen ist eigentlich zäh – das haben Sie eben selbst gesehen. Ich bezweifle, dass jemand anders erst unsere Beobachtungssonde lahmgelegt, sich dann angezogen und schließlich auf eigenen Beinen aus dem Plug gekommen wäre."
Akagi griff nach dem bereitliegenden Stethoskop.
„Aber eines will ich noch sicherstellen – auch wenn es extrem unwahrscheinlich wäre…"
Sie knöpfte Asukas Jacke auf, legte den nackten Oberkörper des Mädchens frei.
„Die Koordinationsfähigkeit ist erstaunlich – auch wenn es nur für Hose und Jacke gereicht hat… - Nein, nur ein Herzschlag, keine Manifestation eines S2-Organs oder Kerns wie bei den anderen. – Eikyu, mach eine entsprechende Notiz."
„Ja, Doktor Akagi."
Das Mädchen mit der Brille kritzelte etwas in unleserlicher Schrift auf seinen Notizblock.
Asuka begann sich zu rühren.
Da war etwas Kaltes auf ihrer Brust. Und eine Hand, die ihre Rippen abtastete…
Eine Erinnerung stieg in ihr auf, welche nun bald drei Jahre alt war, die Erinnerung an gierige Hände, die sie begrabschten…
Sie riss ihr Auge auf, ruckte hoch, hob die Arme zur Abwehr, stieß dabei Ritsuko zurück.
„Himmel…" stieß die Chefwissenschaftlerin hervor.
Instinktiv raffte Asuka ihre Uniformjacke vor der Brust zusammen, sah sich dann hektisch um. Ihr in die Höhe geschnellter Puls und ihr rasender Herzschlag beruhigten sich wieder, als sie erkannte, dass sie sich in einem ärztlichen Behandlungszimmer befand.
Dann erkannte sie Doktor Akagi, ließ die immer noch erhobene Hand sinken, blinzelte.
Tränenflüssigkeit verschleierte ihren Blick, als sie die zweite blonde Frau im Raum sah und erkannte.
„Mama…?"
Kyoko Soryu beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und zog sie in ihre Arme.
„Oh, Asuka…"
Das Mädchen ließ es geschehen, starrte mit seinem Auge nur geschockt zur Seite auf ihre Mutter. Dann ließ diese Schockstarre nach, blinzelte Asuka und hob langsam die Arme, um die Umarmung zu erwidern.
Im Hintergrund nannte Akagi Eikyu die Uhrzeit und ließ sie den Vermerk anfertigen, dass das Asuka-Bergungsprojekt im vierundvierzigsten Anlauf von Erfolg gekrönt war, fügte ein paar Stichworte und Gedankenansätze hinzu, um die sich in den nächsten Tagen kümmern wollte, und setzte sich dann auf ihren Bürostuhl, deutete Eikyu, sich auf einen anderen Stuhl zu setzen und einfach nur zu beobachten.
In diesem Moment fühlte sie sich, als wäre eine Tonnenlast von ihrer Brust verschwunden – sie hatte ihr erstes Versprechen halten können…
