Thorns in my chest

Kapitel 1

In einem Punkt waren sich Hermine, Harry und Ron einig: Der Kampf gegen Voldemort hatte sowohl seelische als auch körperliche Narben zurückgelassen. Doch das Ausmaß dessen sollte sich erst nach und nach aufdecken. Die Rückkehr der drei Freunde in den Fuchsbau wurde von Freds Tod überschattet, ebenso wie ein schwarzer Schleier, der sich über die Gemüter der einst so fröhlichen Familie Weasley auszubreiten drohte. Nicht einmal Percys Wiedereingliederung in den festen Familienverband konnte dagegen etwas tun. Und so war die Ratlosigkeit, wie es denn jetzt weitergehen sollte, groß. Einige waren tot, andere am Leben. Notgedrungen versuchten alle, sich zu arrangieren. Doch Mr. Weasley war immer öfter im Ministerium oder in seinem geheimnisvollen Schuppen anzutreffen. Die Arbeit, so vermutete Hermine, war das einzige Mittel gegen den Kummer. Auch an Mrs. Weasley waren die Auswirkungen der stillen Trauer nicht spurlos vorübergezogen. Hermine hatte den Eindruck, dass sie binnen weniger Wochen um Jahre gealtert war. Für sie selbst stand fest: Hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie lieber auf Percy anstatt auf Fred verzichtet. Mit gerunzelter Stirn seufzte sie. Es war nicht fair, so zu denken. Am Ende hätten sie beide Zwillinge verloren, wenn Snape damals nicht zufällig daneben gezielt und George mit seinem Versuch, den Todesser zu treffen, das Ohr verstümmelt hätte.

"Ich weiß genau, was du gerade denkst", sagte Harry brummig. "Aber er ist noch immer ein Weasley."

Verstört blinzelte sie ihn an. "Bist du jetzt plötzlich zum Legilimentiker geworden?" Er schüttelte sanft den Kopf. Seit Voldemort tot war, war eine gewaltige Anspannung von ihm abgefallen, was deutlich dazu beitrug, sein Gemüt zu besänftigen. Immer häufiger ertappte Hermine ihn dabei, wie er schlichtend in die kleinen, zumeist familiären Streitereien der Weasleys eingriff, anstatt die Seite des jungen Mannes durchblitzen zu lassen, der trotzig und verbittert den Tod seiner Eltern rächen wollte. Selbst eine noch so kritische Seite an Hermine kam dabei nicht umhin, ihm anzuerkennen, dass er erwachsen geworden war. "Trotzdem gefällt mir die Sache nicht. Er taucht plötzlich in Hogwarts auf, stellt sich auf unsere Seite und Fred stirbt. Findest du das nicht etwas Seltsam?"

Harry zuckte mit den Schultern. "Fred hat ihm verziehen."

"Sag jetzt bloß nicht, du tust dasselbe. Ausgerechnet du, wo du doch immer so wütend auf ihn warst, weil er sich dem Ministerium angeschlossen hat! Und was ist eigentlich mit Ron los? Seit wir wieder hier sind, verhält er sich total eigenartig."

"Er hat seinen Bruder verloren, Hermine. Was erwartest du da?"

"Ich weiß. Ich sage ja auch nicht, dass ich es nicht verstehen kann, aber ich wüsste langsam gerne, wie es jetzt weitergehen soll. Seit wir hier sind, geht er mir aus dem Weg und hält mich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus! Sind wir jetzt zusammen oder nicht?"

Sichtlich betreten fummelte Harry an seiner Brille herum. "Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich dir diese Frage beantworten kann, Mione. Schau, wir haben einiges zusammen durchgemacht, aber das geht nun wirklich nur euch beide was an."

Hermine wippte nachdenklich mit dem Kopf. "Ich weiß, entschuldige. Du kannst nichts dafür, Harry. Aber ich habe es satt, ständig darauf zu warten, dass er wieder der wird, der er mal war."

"Vielleicht solltest du ihm noch etwas Zeit geben, bis das Auror-Training angefangen hat", gab er zu bedenken. "Ich bin sicher, dass sich dann alles wieder einspielt. Ron braucht Routine, damit er richtig funktioniert."

"Und wenn nicht?"

"Was hast du zu verlieren?"

Sie schnaubte leise. "Sehr witzig! Ich weiß selbst, dass die Typen nicht gerade Schlange stehen, um ein Date mit mir zu bekommen."

"So habe ich das auch gar nicht gemeint", entgegnete er entschuldigend. "Die meisten Männer fürchten sich vor Mädchen wie dir. Du bist einfach zu smart und zu taff für den Durchschnittszauberer."

Hermine rollte mit den Augen und Harry legte beschwichtigend den Arm um ihre Schultern. "Ich wollte damit nur sagen, dass sie Angst haben, in deiner Gegenwart zu versagen."

"Glaubst du, er geht mir deshalb aus dem Weg?", fragte sie verunsichert. "Weil ich anders als die meisten Hexen bin?"

Harry schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. Ron kennt dich besser als sonst jemand. Mit Ausnahme von mir. Aber wenn du willst, werde ich versuchen, mit ihm zu reden ..." Er verstummte, als er die Treppe knarzen hörte. Vorsichtshalber nahm er den Arm von Hermine und rutschte mitsamt seinem Stuhl ein Stück zur Seite. Bei den Launen, die Ron zur Zeit verströmte, konnte man nie wissen, was in ihm vorging. Da wäre es nicht gerade vorteilhaft gewesen, ein neuerliches Eifersuchtsdrama heraufzubeschwören wie damals auf der Flucht vor Voldemort. Keine Sekunde später erschien Rons strubbeliger roter Schopf im Türrahmen.

"Sind noch Eier mit Speck da?"

Harry nickte, den Blick auffordernd auf die schwere Pfanne aus Gusseisen gerichtet, die neben dem Herd stand. "Wenn du Glück hast, sind sie noch warm."

Ron kratzte seine Stoppel am Kinn und setzte sich in Bewegung. Mit langen, laut über den Boden schlurfenden Schritten steuerte er auf den Herd zu und schnappte sich den Griff der Pfanne.

Hermine warf Harry einen verstohlenen Blick zu und flüsterte: "Siehst du? Genau das habe ich gemeint. Er hat mich nicht mal registriert."

xxx

Nachdem Ron in Windeseile die Pfanne leer gekratzt hatte, lehnte er sich träge zurück und ließ den Blick aus dem Fenster gleiten. Die eisige Stimmung, die sich seit seinem Auftauchen in der Küche ausgebreitet hatte, schien ihn nicht zu stören. Vielleicht bemerkte er sie auch gar nicht, Hermine hingegen sehr wohl. In ihr brodelte es. Und zwar gewaltig. Nicht nur, dass er sie ignorierte, ließ ihre Laune sinken. Auch die Tatsache, dass er sich seit Tagen kaum dazu aufgerafft hatte, sich wie ein normaler Mensch gekleidet und gewaschen zum Frühstück zu gesellen, trieb ihre Geduld auf die Spitze. Sie wollte schon Luft holen und sich zum Angriff wappnen, da hörten sie draußen auf dem Hof ein lautes Knarren. Wie elektrisiert starrten alle drei aus dem Fenster und sahen Mr. Weasley dabei zu, wie er in seinem Schuppen verschwand und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Dann wurde es wieder still.

„Lust auf ein Spiel?", fragte Harry völlig unvermittelt. „Die Besen sind etwas eingerostet und könnten Bewegung vertragen."

„Nicht heute, Harry."

„Komm schon! Das sagst du jedes Mal."

Ron sah ihn mit großen Augen an. „Und ich meine es auch so."

„Aber das Wetter ist toll!"

„Es ist zu heiß."

„Na und? Wenn es regnet, hast du auch keine Lust."

„Habe ich auch nicht."

Harry legte den Kopf schief. "Ich denke, es wird Zeit, dass du dich etwas zusammennimmst, Ron. Wir haben jetzt lang genug auf dich Rücksicht genommen. Geh ins Bad und nimm eine kalte Dusche. Die wird dir guttun."

"Was soll das heißen?", knurrte Ron zurück und klang mit einem Mal ziemlich gereizt.

"Dass du nicht der einzige hier bist, der um jemanden trauert."

Das Gesicht des Weasleys verfinsterte sich schlagartig. Er kam auf die Füße und stemmte seine Knöchel auf der Tischplatte ab. Im selben Moment zog Harry seinen Zauberstab aus der Hose und hielt ihn direkt an Rons Halsschlagader.

"Du solltest dich lieber wieder hinsetzen, Ron", sagte er warnend. "Ich tue das nicht gerne, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass du aufhörst, so weiterzumachen. Sieh dich um! Anstatt dafür dankbar zu sein, dass du diese wunderbaren Menschen hier deine Familie nennen kannst, suhlst du dich im Sumpf des Selbstmitleids. Mach endlich die Augen auf! Wir alle haben zusammen gekämpft und gelitten, aber jetzt muss Schluss damit sein."

"Ach ja?", fragte Ron kühl, wobei sich sein Gesicht zu einem Grinsen verzog.

Harry nickte. "Das heißt nicht, dass wir Fred und die anderen vergessen werden. Aber sie würden nicht wollen, dass das aus uns wird." Galant ließ er seinen Zauberstab über Rons Kinn gleiten und drückte ihn zum Ende hin tief in die behaarte Wange seines Freundes.

Rons Grinsen erstarb. Abschätzig in Harrys Augen blickend schluckte er. „Nimm die Hand runter, Harry!"

Hermine, die die ganze Zeit über gebannt den Atem angehalten hatte, schluckte ebenfalls. "Er hat recht, Ron. Irgendwie müssen wir weitermachen. Wir dürfen das Andenken derer, die gestorben sind, um uns dabei zu helfen, Voldemort zu besiegen, nicht beschmutzen. Wir müssen sie in Ehren halten und für sie weiterleben."

Zum erstem Mal seit Tagen schien der junge Mann ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Entrüstet starrte er zwischen seinen langjährigen Gefährten umher. "Raus hier! Raus aus meinem Haus!"

Am Eingang zur Küche war ein abfälliges Schnauben zu hören. "Wie mir scheint, komme ich höchst ungelegen. Aber lassen Sie sich von meiner Anwesenheit nicht stören. Ich bin mir sicher, es dürfte interessant werden, was der Rest der Sippe zu diesem kleinen Aufstand zu sagen hat. Wird Mr. Potter tatsächlich seinen besten Freund ermorden? Ich sehe schon die Schlagzeile im Tagespropheten - Beziehungsdrama im Hause Weasley - Welche Rolle spielen Sie dabei, Miss Granger? Freundin, Verlassene, Geliebte?"

Hermine war so perplex, dass es ihr komplett die Sprache verschlug und so redete der Besitzer der hämisch klingenden Stimme einfach weiter. "Nun, an Ihrer Stelle, Mr. Weasley, würde ich den Mund nicht zu voll nehmen. Mr. Potter zählt inzwischen nicht mehr nur den Expelliarmus zu seinem Repertoire."

Spätestens jetzt lief es Hermine endgültig kalt den Rücken hinunter. Was zur Hölle ihr einstiger Professor in der Küche der Weasleys zu suchen hatte, war ihr ein ebenso großes Rätsel wie der wütende Ausdruck in Harrys Augen. Würde er Ron tatsächlich umbringen? In ihr drehte sich alles. Seit dem Tag in der Heulenden Hütte hatte sie Snape nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dort hatte sie ihn gemeinsam mit Harry und Ron sterben sehen. Erst im Nachhinein waren Gerüchte über sein mysteriöses Auferstehen bekanntgeworden, denen keiner von ihnen so recht glauben wollte, bis eines Tages Molly Weasley bestätigt hatte, dass er am Leben sei. Und nun stand er wahrhaftig hier, das fahle Gesicht mit der markanten Nase von etlichen viel zu langen Strähnen umrahmt und zu allem Überfluss auch noch legere an den Türstock gelehnt, als würde ihn diese seltsame Szene vor seinen schwarzen Augen belustigen wie ein eigens zu seiner Unterhaltung aufgeführtes Schauspiel.

Langsam, die auf seine Worte hin folgende, überaus spannungsgeladene Pause auskostend, löste er seine ineinander gefalteten Arme voneinander los und drückte sich vom Türrahmen weg, bis er zu voller Größe aufgebaut einen Schritt nach vorne tat. Ein leises Rascheln fuhr durch seine schwarzen Gewänder und Hermine begann, insgeheim froh über die Unterbrechung, sich zu fragen, wieso er bei dieser sommerlichen Hitze darauf bestand, seine üblichen Sachen zu tragen.

"Nun, Mr. Potter? Mr. Weasley? Wie wird es jetzt weitergehen?"

Hermine zog die Stirn kraus. "Ich nehme an, Sie wollten Mr. oder Mrs. Weasley sprechen, Sir", brachte sie angestrengt heraus.

Snape ließ seine Augen direkt in ihr Blickfeld gleiten. Das Gefühl, so eindringlich von jemand totgeglaubtem taxiert zu werden, war mehr als befremdlich. „In der Tat. Doch ich denke nicht, dass Sie sich Gedanken darüber machen sollten, Granger. Molly ist bestimmt in der Waschküche anzutreffen, während Arthur sich mit seinem Spielzeug in den Schuppen zurückgezogen hat."

Er hatte noch nicht ausgesprochen, da gab es draußen in der schwülen Luft einen lauten Knall. Snape zog seinen Zauberstab und richtete ihn aus dem Fenster. Harry ließ von Ron ab und auch Hermine war sofort bereit, sich jedem Eindringling, der es wagen sollte, sich ungeladen dem Haus zu nähern, entgegenzustellen - die Erlebnisse in den vergangenen Monaten hatten alle Anwesenden gelehrt, vorsichtig zu sein. Selbst Ron wirkte wie wachgerüttelt, die Augen ungläubig in den gleißenden Himmel gerichtet. Jedes laute Geräusch, das an eine Explosion erinnerte, wurde unausweichlich zur Bedrohung deklariert.

Fast zeitgleich spielten sich außerhalb der Küche ähnliche Dramen ab. So sprang die Tür des Schuppens auf und heraus trat, ebenfalls mit dem Zauberstab bewaffnet, Mr. Weasley. Nur Sekundenbruchteile später war zu hören, wie in den oberen Stockwerken des Hauses der Reihe nach sämtliche Bewohner des Fuchsbaus zu den Fenstern stürmten, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging.

Ein weiterer Knall folgte, dann ein Knattern. Von oben war ein Schrei zu hören – zweifelsohne Mrs. Weasley: „Arthur! Raus da!"

Mr. Weasley zögerte nicht länger und machte einen beherzten Satz nach vorn, bäuchlings in das verdorrte Gras hinein; gerade noch rechtzeitig, ehe ihm die Trümmerteile des Schuppens um die Ohren flogen.