Harry Potter

und das Land der Verlorenen

September

Er war an einem Fenster stehen geblieben und sah nun hinaus, wo dichter Nebel um die nassen Dächer und Türme hing. Noch war die Dämmerung kaum angebrochen. Er hatte gehofft, irgendein Überbleibsel des Feuerwerks zu entdecken – ein paar Fünkchen in den Bäumen vielleicht –

Aber das Fest war vorbei. Zwanzig vor sieben an einem Montagmorgen war es, und auch hier im Gang unangenehm klamm und kalt. Außer ihm schien niemand wach zu sein, nicht einmal die Bewohner der Gemälde ringsum. Aber als er sich dem Treppenhaus näherte, klangen Schritte auf. Hastig drückte er sich in die nächste Nische, doch Sekunden später sah er sie eine Treppe ganz in seiner Nähe hinuntergehen: Professor McGonagall, die ihm einen strengen Blick zuwarf; Minister Scrimgeour, der ihn nicht beachtete, und zwischen ihnen, hinkend und mit versteinerter Miene, Hogwarts' ehemaliger Zaubertranklehrer Severus Snape.

Harry Potter sah der stummen Gruppe nach, bis sie in der Eingangshalle unten verschwand. Als er hörte, wie das Hauptportal geöffnet wurde, wusste er auf einmal, dass auch er hier fertig war. Heute. Jetzt.

ooOoo

Er schrieb die Briefe im Gemeinschaftsraum, der um diese Zeit still und verlassen war. Dort kauerte er auf der Fensterbank, den Bogen Pergament gegen die Beine gedrückt, und suchte nach den richtigen Worten – während etwas in ihm die ganze Zeit über darauf wartete, dass doch noch irgendwer früh genug aus den Federn fand. Ihn entdeckte und vielleicht von dem abhielt, was er tun musste.

Aber das passierte nicht. Bis auf das Knistern der Flammen im Kamin blieb alles still, und als er um fünf nach sieben aufsah, war die graue Dämmerung bis dicht an das Fenster herangekrochen.

Die Briefe zu schreiben, war schwer genug gewesen, aber was nun kam, war noch schwerer.

Harry schlüpfte in seinen Schlafsaal. Es war ziemlich dunkel darin, und auch hier lag noch alles in tiefem Schlaf. Er lehnte die beiden Briefe an Rons Kopfkissen – den an Hermione auch, denn natürlich konnte er nicht zum Mädchenschlafsaal hinauf, und im Gemeinschaftsraum wollte er ihn keinesfalls liegen lassen. Dann zog er den Rucksack, den er gestern schon gepackt hatte, unter seinem Bett hervor und kramte so leise wie möglich darin herum. Endlich bekam er zu fassen, was er suchte.

Nachdenklich hielt er den Tarnumhang in den Händen. Das letzte Geschenk seines Vaters. Verloren und wieder gefunden. Wie glücklich war er gewesen, als er ihn dank Luna zurückbekommen hatte!

Er konnte das einfach nicht. Nicht den Umhang!

Also stopfte er ihn wieder zurück zwischen die anderen Sachen. Dann hockte er reglos vor seinem Bett. Grübelte.

Nein. Es hatte keinen Sinn. Er hatte keine Verwendung mehr dafür, und der Umhang war zu kostbar, um als reines Andenken in seinem Besitz zu bleiben. Vermutlich konnte einem so ein Ding gar nicht wirklich gehören.

Langsam zog er das Gewebe wieder aus dem Rucksack. Dann stand er abrupt auf und ging zu Rons Bett hinüber, wo er den Umhang zusammengefaltet unter die beiden Briefe schob. Jetzt schnell hinaus, bevor er sich noch etwas anders überlegen konnte.

Er war schon an der Tür, als Ron sich grunzend auf die andere Seite drehte. Harry erstarrte.

„Ischschon Zeit fürs Früh-"

„Schlaf weiter!", flüsterte Harry. „Ich – äh – geh nur mal aufs Klo." Er wartete ab, ob Ron etwa doch noch richtig wach werden würde. Als alles still blieb, verließ er leise den Schlafsaal.

Da hatte er sich doch einen würdigen Abgang verschafft, fand er.

ooOoo

Um zwanzig nach sieben – zu derselben Zeit, als der von Scrimgeour aus dem Ausland herbeorderte Legilimens Brian Skanne in London eintraf – gelangte Harry Potter unbemerkt und unbehelligt von Sicherungszaubern welcher Art auch immer durch die Außentore von Hogwarts. Ohne sich noch einmal umzusehen, ließ er seine Welt hinter sich.

Und lief los.


Diese Geschichte schließt unmittelbar an Harry Potter und die Goldene Festung an. Besser formatiert und mit einem Vorwort versehen ist die PDF-Fassung, die ihr bei Harry-auf-Deutsch im Download-Bereich (unter Mitmachen/Downloads) findet.