Ungehörtes Flehen – Anokata's Geheimnis

Mit einem lautlosen Seufzen lehnte der Mann, den seine Gefolgsleute nur angstvoll und ehrfürchtig zugleich Anokata nannten, sich zurück.
Endlich hatte er den letzten Bericht gelesen und die letzte Antwort verfasst, die letzte Anordnung gegeben.
Er war müde.
Seine Hände schmerzten, seine Augen brannten.
Wie schon so oft wünschte er sich, er könnte dem endlosen Papierkram genauso leicht ein Ende bereiten, wie dem Leben eines Feindes.
Wenn nur…
Fatale, ungewollte Gedanken.
Ja, wenn er nur…
Nutzlose, sehnsüchtige Gedanken, die ihn schon so lange verfolgten.
Anders sein.
Das verlachte, ungewollte Kind.
Früher war es sein sehentlichster Wunsch gewesen, normal zu sein, so wie all die anderen.
Nur für einen Tag, eine Stunde, ein Lied.
Aber das war unmöglich.
Später hatte er sich gesagt, wenn er schon anders sein müsste, dann würde er außergewöhnlich sein, brennen, mit schwarzer Flamme, dunkler als die schwärzeste Nacht.
Und doch hatte etwas tief in ihm immerzu gefleht, nur für ein Lied, nur ein einziges…
Ja, seine Kindheit hatte ihn zweifellos geprägt.
Mit den Erinnerungen kamen auch die Kopfschmerzen, eines so unerwünscht wie das andere.
Anokata fuhr sich mit den Händen durch das schüttere, weiße Haar, massierte sich die Schläfen, bis ihn ein stechender Schmerz zwang, aufzuhören, die Hände herunter zu nehmen.
Arthritis.
Ein verbitterter, alter Mann, der bald endgültig verstummen würde.
Aber jetzt noch nicht. Noch nicht.
Er drückte den Knopf, der seinen persönlichen Diener, seine rechte Hand, seine Stimme und sein Gesicht in der Organisation, herbeirufen würde.
Der eine Mann, der sein Geheimnis kannte.
Der eine Mann, der ihm vollkommen ergeben war.
Die Tür öffnete sich und ein, auf eine unauffällige Art nett aussehender, junger Mann im schwarzen Anzug trat herein.
Seine Hände tanzten durch die Luft.
Gesten, die für Nichteingeweihte rätselhaft blieben, in denen seine Verfolger wohl einen geheimnisvollen Code vermutet hätten und die in Wahrheit so viel harmloser waren: Gebärdensprache.
Denn Anokata war seit seiner Geburt vollkommen gehörlos.
Mit seinen Händen hatte seine Stimme ihn gefragt, was er wünsche.
Ein Ritual, das Anokata so schon mit dem Vater und dem Großvater des jungen Mannes durchgeführt hatte.
Er wies auf die Akten, die Befehle.
„Sei meine Stimme", gebärdete er.
Der junge Mann nickte, verneigte sich leicht, dann nahm er die Papiere und zog sich zurück.
Die Tür schloss sich.
Anokata lehnte sich zurück, lies den Blick durch sein Büro schweifen.
Und blieb wie so oft an dem Radio auf seinem Schreibtisch hängen.
Strich mit den Fingerspitzen über die glatte, staubfreie Oberfläche.
Streichelte beinahe zärtlich den Power-Knopf, ohne ihn jedoch zu drücken.
Nicht ein Lied hatte er je bekommen. Nicht eines.
Dafür hatte er sich alles andere genommen.
Er war Anokata geworden.
Er Vater, der das Flehen seiner Kinder nicht hörte.
Genauso wenig, wie sein Flehen gehört worden war.
Nicht ein Lied.
Er drückte den Knopf.
Musik schallte durch das Büro, Musik, die Anokata niemals hören würde.
Nicht ein einziges Lied.
Nicht einen Ton.
Stille.