Nemesis. Laut griechischer
Mythologie die Personifikation des „gerechten Zorns". Sie ist die
Rachegottheit, die besonders die menschliche Selbstüberschätzung,
die Missachtung von Recht, sowie „herzlose Liebende" bestraft. „Herzlose Liebende" – ein
Oxymoron. Oder? Wie kann jemand der liebt, herzlos sein? Wie kann
jemand, der herzlos ist, lieben?
So steht's im Lexikon.
15. März 1998
Die
Klappe unten in der Tür öffnete sich mit dem schrillen
Kreischen ungeölter Scharniere.
Es folgte das Scharren von
Metall auf Stein, das verriet, dass ein Tablett in die Zelle
geschoben wurde.
Dann ein leiser, dumpfer Schlag, ein Rascheln:
Die Zeitung, das Privileg, das vor langer Zeit für diesen
speziellen Inhaftierten durchgesetzt worden war.
Die
Ausdünstungen, die dem Blechnapf auf dem Tablett entstiegen,
lösten bei Gellert heftigen Brechreiz aus, der sofort in
heftiges Husten überging. Der Geruch verriet ihm, dass
Donnerstag war.
Irgendein Donnerstag irgendeines Jahres.
Bohnensuppe, gab es immer an diesem Wochentag.
Gellert blieb
weiter zusammengekrümmt auf der Pritsche liegen, bevor er sich
endlich dazu überwinden konnte, aufzustehen.
Zitternd in der
dünnen Gefängniskleidung schlurfte er die wenigen Schritte
zur Tür, musste sich bücken, um an Wasserkrug und Zeitung
zu gelangen.
Der Blechnapf war gefüllt mit einem dampfenden,
zähflüssigen Etwas, das aussah, als stamme es direkt aus
der Kloake. Aus dem grün-braunen Mus ragten Stücke
gallertartigen Fetts, die auf einer Seite noch mit borstiger, brauner
Schwarte bedeckt waren.
Vergeblich versuchte Gellert, den Atem
lange genug anzuhalten. Er würgte erneut, und der sich
unausweichlich anschließende Hustenanfall war so heftig, dass
er ihn in die Knie zwang. Er schaffte es, nach dem Krug zu greifen
und das Tablett mit dem Napf durch die Klappe zurück auf den
Gang zu stoßen. Der Geruch verflüchtigte sich nicht –
das würde er bis zum Rest der Woche nicht gänzlich – aber
Gellert konnte immerhin wieder atmen, ohne gegen Brechreiz kämpfen
zu müssen.
Mit rasselndem Atem richtete Gellert sich
schließlich auf. Er warf die zusammengerollte Zeitung auf die
Pritsche, um eine Hand frei zu haben, mit der er sich an der Wand
abstützen konnte. Er kam auf die Beine und kämpfte gegen
den aufkommenden Schwindel an, um den Krug zum Bett tragen zu können,
ohne ihn fallen zu lassen, oder etwas zu verschütten.
Sein
Arm zitterte unter der Anstrengung, das Halbliter-Gefäß zu
heben, einen Teil des Inhalts in den zerbeulten Zinnbecher zu gießen.
Doch er schaffte es; kein Tropfen der knapp bemessenen Ration ging
verloren.
Gellert trank. Das Wasser war eisig, und er musste es
im Mund behalten, um es aufzuwärmen, es würde ihn
andernfalls von innen auskühlen und ihm Magenkrämpfe
bereiten, wenn er es, kalt wie es war, schluckte. Man musste es wohl
als Vorteil ansehen, dass ihm der Skorbut vor Monaten auch den
letzten Zahn geraubt hatte: Wenn die Kälte des Wassers mit einem
Zahn in Berührung gekommen war, hatte das immer heftige kleine
Schmerzenspfeile bis unter die Schädeldecke gejagt.
Der
faulige Geschmack nach Blut und Schimmelsporen, der sich dauerhaft in
seinem Mund eingenistet zu haben schien, wurde kurzfristig abgelöst
vom metallisch-bitteren des Wassers.
Gellert streifte die
Banderole von der Zeitungsrolle, wühlte sich zurück in das
Nest aus verschlissenen Decken und Papier, und breitete auch den
neuen, noch nach Druckerschwärze riechenden Daily Prophet
über sich aus.
Er las die Zeitung nicht. Das tat er nicht
mehr seit Juni letzten Jahres. Seit der Ausgabe, auf deren Titelseite
das Bild gedruckt gewesen war: Jenes Bild mit dem neon-grünen,
riesigen Totenschädel über einem Turm, an dessen Fuße
sich eine Menschenmenge um eine reglose Gestalt versammelt hatte.
Gellert schloss die Augen, versuchte zu schlafen.
Es ging
nicht. Ihm war zu kalt, zudem war er nicht müde genug, da es ihm
bereits gelungen war, den Vormittag zu verschlafen.
Er schlug die
Augen wieder auf. Die blasse, kalte Märzsonne warf die Schatten
der Gitterstäbe an Decke und Wand. Gellert starrte auf den
abbröckelnden Putz über sich, dessen Landkarte aus Rissen
und Flecken er auswendig kannte: Wenn das langgezogene Rechteck, das
die Schatten der linken beiden Stäbe bildeten, den Fleck, der
wie ein siebenbeiniger Krake aussah, genau umschloss, wäre es
viertel nach fünf.
Eine ebenso sinnlose, bedeutungslose
Information, wie das Wissen, dass heute Donnerstag war.
Gellert
fror, und aus diesem Grund meditierte er über Feuer, er stellte
sich all die Variationen vor, in denen dieses Element auftrat: Die
rote, wabernde Glut von Kohle, das Flackern von Holzfeuer, knackend
und funkensprühend, mit dichtem, grauem Rauch, wenn die Äste
feucht waren. Die blendendweißen Flammen eines Schmiedeofens,
das zähe rote Fließen von Lava, der harzige, beißende
Teergeruch von billigen Fackeln, der süße, leichte
Honigduft von Bienenwachskerzen, schrumpelndes Papier, wenn die
Flammen es so schnell fraßen, dass man kaum zusehen
konnte...
Gellert war sich nicht sicher, ob er nicht in einem
schwachen Moment bereit gewesen wäre, sein Nest aus Zeitungen zu
verbrennen, den Schutz, den es bot, für einen kurzen Moment
richtiger Wärme zu opfern.
Aber der Gedanke war müßig,
denn er war nicht in der Lage, ein Feuer zu entzünden.
Feuer
machen – diese Fähigkeit, die ihn nie mehr Aufmerksamkeit oder
Mühe gekostet hatte, als ein Blinzeln. Doch die Fessel mit der
schweren Eisenkette um sein Fußgelenk verhinderte, dass er die
elementarste Magie ausführen konnte: Keine spontane, ungelenkte
Aufwallung arkaner Kräfte, keinen zielgerichteten Zauber,
nichts. Gar nichts.
Als sein Rücken unter dem reglosen
Liegen auf der harten Pritsche zu schmerzen begann und Gellert sich
auf die Seite drehte, rutschte die Zeitung von seinen Schultern.
Gellert musste eine Hand aus seiner Achsel lösen und sie unter
der Decke hervor in die Kälte der Zelle strecken, um die Zeitung
wieder zurecht zu schieben. Er kam dabei nicht umhin, die große
Schlagzeile auf der Frontseite zu lesen. Irgendetwas über
Askaban, wo jetzt Halbblüter inhaftiert wurden, unter der
Anklage, sie hätten Zauberern ihre Kräfte gestohlen.
Was
für eine absurde Behauptung.
Gellerts Lippen verzogen sich
zu einem humorlosen Grinsen. Die Halbblüter unter diesem Vorwand
austilgen zu wollten, hieße einzugestehen, dass sie stärker
waren als Reinblüter. Ein kompletter Narr musste sich das
ausgedacht haben.
Askaban.
Askaban, auf seiner felsigen
Insel in der Nordsee. Das einzige Hochsicherheitsgefängnis der
Zaubererwelt, in dem man Dementoren als Wächter einsetzte, jene
Kreaturen, die den Gefangenen alle glücklichen Erinnerungen
nahmen.
Er selbst war bei der Planung Nurmengards nie auf die
Idee gekommen, den Insassen diese Gnade zu gewähren. Ja, Gnade.
Es waren die glücklichen Erinnerungen, die einem die Existenz
zur Hölle machten.
Was würden Gitterstäbe bedeuten,
ohne die Erinnerung, jemals frei gewesen zu sein?
Was würde
es schon bedeuten, von einem Fraß, den selbst ein verhungernder
Straßenköter verschmähen würde, am Leben
gehalten zu werden, wenn man sich nicht an unzählige
kulinarische Köstlichkeiten erinnern könnte?
Was würde
einem Kälte und Schmutz bedeuten, ohne die Erinnerung an ein
heißes Bad, ein sauberes Bett?
Was zusehen zu müssen,
wie der eigene Leib zerfiel, man Haare und Zähne verlor, die
Haut von schorfigen, nässenden Stellen bedeckt wurde, wenn man
sich nicht daran erinnerte, einst so stark und gesund gewesen zu
sein, dass man die Funktionen seines Leibes als
Selbstverständlichkeit betrachtet hatte?
Was bedeutete diese
völlige Ohnmacht, so magielos zu sein wie ein Muggel, wenn man
nicht all das Wissen darüber gehabt hätte, wozu man in der
Lage wäre ohne die Fessel, die einen hemmte?
Was bedeutete
Einsamkeit...?
O Merlin, was würde er nicht alles dafür geben, um frei zu sein von Erinnerungen!
