Insbesondere am Anfang gibt es viele elbische Phrasen. Die Übersetzungen sind jeweils am Ende des Kapitels. Herzlichen Dank an meine Betafeen Müpfo und Allosaurus!


»Scheiße«, murmelte Eri O'Kelly immer wieder vor sich hin, während sie in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel kramte. »Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße. Scheiße!«

Eri hasste es, wenn Dinge nicht so liefen, wie sie sollten, wenn Leute nicht taten, was sie ihnen gesagt hatte. Es ging um Geld, verdammt, viel Geld! Immer ging es um Geld, natürlich, das war überhaupt das wichtigste. Und darum war es auch so wichtig, dass die Leute taten, was sie ihnen aufgetragen hatte.

Taten sie es nicht, machte das Eri wütend. Sehr wütend.

Schnaubend pfefferte sie ihre Handtasche auf den Boden und fischte ihr Smartphone aus der Jackentasche. Als sie schon die Nummer ihrer Haushälterin wählen wollte, sah sie den Schlüssel, der aus der Tasche gefallen war.

»Scheiß Teil!«, knurrte sie. »Sei gefälligst sofort da!«

Es war albern und kindisch, sie wusste das. Und dennoch war sie gerade auf den Schlüssel wütend. Sie wollte einfach irgendeinen Sündenbock für den miesen Arbeitstag bei Saunders, der Bank, in deren Vorstand sie saß. Also rammte sie den Schlüssel gröber, als notwendig in das Schloss ihrer Haustür.

Als sie eingetreten und die Tür hinter ihr wieder zugefallen war, ließ sie die Tasche erneut auf den Boden fallen und lehnte sich mit einem Seufzen gegen die Tür.

»Jetzt ein Scotch …«, murmelte sie.

Mrs. Heatherton, ihre Haushälterin, hatte mit Sicherheit ein Glas für sie an der Bar bereitgestellt, nachdem sie, wie jeden Tag für Ordnung im Haus gesorgt hatte, ehe die Hausherrin heim kam. Vielleicht trank Eri zu viel (»Ein kleiner Whisky am Morgen hat noch nie jemandem geschadet.«), aber es war ihr eigentlich egal. Alkohol beruhigte ihre Nerven, und das war es, worauf es ihr ankam.

Sie hatte zwei Bars im Haus, und außer der in der Küche brauchte sie die zweite im Keller eigentlich so gut wie nie. Sie wohnte allein in dem Haus in der Park Street – sah man einmal von ihrem Goldfisch Max ab – und eigentlich hatte sie dieses Haus ohnehin nicht benötigt. Aber sie wollte es einfach haben, also hatte sie es gekauft. Und man wusste ja nie, wann man einmal eine große Party schmeißen wollte, um die Kollegen zu beeindrucken.

Eri schüttelte den Kopf. Zeit für den Scotch, eindeutig. Sie stieß sich von der Tür ab und begab sich in Richtung ihrer Küche.

Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie an diesem Abend noch andere Probleme haben würde, als nur einen langen und anstrengenden Arbeitstag, den sie als recht desaströs endend empfand.

Wie es heutzutage chic und modern war, hatte sie eine Küche einbauen lassen, die zu ihrem Wohnzimmer hin offen war. Irgendwie mochte sie es, beim Kochen (oder das, was sie kochen nannte, wenn sie nicht gleich beim Lieferservice bestellte) Max zu beobachten, wie er in seinem Glas neben dem Fernseher im Wohnzimmer umher schwamm. Daher fiel gewohnheitsgemäß ihr erster Blick auf die Bar, die an die Küche angeschlossen war und wo freilich ein Scotch bereit stand, und dann in Richtung Sofa und Fernseher. Und so sah sie auch sogleich, dass sie nicht allein war.

Ein Mann saß, nein, hing vielmehr auf ihrem Sofa und hob nun den Kopf, als er bemerkte, dass jemand den Raum betreten hatte. Ihr erster Gedanke war, die Polizei zu rufen. Ihr zweiter, dass der Typ sonderbar gekleidet war. Sie konnte einen Schrei nicht mehr unterdrücken.

»Was zum Henker?! Raus aus meinem Haus!«, zeterte sie. »Was fällt Ihnen ein! Hausfriedensbruch! Hilfe!«

»Elio anim!«, sagte der Fremde, und seine Stimme klang erschreckend schwach.

Eli erstarrte. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. Der Typ trug diese seltsamen Klamotten, die sie an Mittelaltermärkte erinnerte, und das, was er da gerade sagte, war definitiv kein Englisch. Aber … was war es dann gewesen?

»Was?«, brachte sie nur hervor.

»Elio anim!« Nun klang es drängender und flehender.

Erst dann bemerkte sie das Blut auf ihrem Sofa, und es war nicht wenig. »Scheiße!«, entfuhr es ihr entsetzt, und sie schlug eine Hand vor den Mund. Nein, so sollte ein Feierabend definitiv nicht aussehen. Irgend so ein irrer Typ hatte ihre Alarmanlage überwunden, war in ihr Haus eingebrochen und blutete ihr jetzt ihr Alcantara Sofa voll.

Und dann noch das, was er gesagt hatte. Elio anim. Und mit einem Male fiel der Groschen.

Ihre Kollegen wussten nicht, dass sie tief in ihrem Herzen ein ausgemachter Geek war. Sie sahen in ihr nur die Businessdame, deren einziger Lebenszweck darin bestand, die Karriereleiter zu erklimmen. Eri war darauf bedacht, nicht heraushängen zu lassen, dass sie sehr gern die ganzen dicken Schwarten von Tolkien und Martin las und dass sie durchaus ein wenig Elbisch gelernt hatte. Das, was der Mann zu ihr gesagt hatte, war Sindarin.

Hilf mir.

Ja, Hilfe schien der Irre auf jeden Fall zu gebrauchen. Sie bald auch, wenn das so weiter ging.

»Scheiße«, wiederholte sie nur. »Das ist doch jetzt alles nicht wahr.« Ratlos fuhr sie sich durch die Haare. »Hilfe. Hilfe. Scheiße, Erste Hilfe Kurse waren mir immer so egal!«

Der Fremde verfolgte jede ihrer Bewegungen aufmerksam, während er selbst immer verzweifelter und hilfloser wirke. Er schien nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. Verstand er sie überhaupt? Eri bezweifelte es. Sie kramte tief in ihrer Erinnerung und holte die wenigen Brocken Elbisch hervor, an die sie sich noch erinnern konnte. Es kam ihr so albern vor, aber ihr fiel einfach nichts besseres ein.

»Äh, dar, nein, daro«, stammelte sie. »Warten Sie hier. Ich suche den Erste Hilfe Kasten.«

Seine Augen leuchteten auf, als er zumindest etwas zu verstehen schien.

»Limann!«, drängte er.

Sie kannte das Wort nicht, aber dennoch war ihr irgendwie klar, dass er sie zur Eile drängte. Nachdem sie erkannt hatte, dass er ihr bereits das ganze Sofa vollgeblutet hatte und sie sich wahrscheinlich ein neues würde kaufen dürfen, war ihr das allerdings selbst klar.

Warum also zögerte sie, einen Krankenwagen zu rufen? Irgendetwas war an der Sache nicht ganz richtig, das spürte sie. Das plötzliche Auftauchen, die komischen Klamotten, diese seltsame Sprache … Ein Krankenwagen würde zu viele Fragen aufwerfen, Fragen, die sie nicht beantworten wollte – nicht einmal beantworten konnte.

Der Erste Hilfe Kasten befand sich im Keller. Er war schon etwas angestaubt, und eigentlich hätte sie ihn schon längst erneuern müssen, aber für's Erste würde er reichen müssen. Hoffte sie zumindest. Diese Menge Blut machte ihr Angst. Du meine Güte, sie war Bankmanagerin und kümmerte sich um Börsengeschäfte und päppelte keine Junkies oder was auch immer auf ihrem Sofa wieder auf!

Jack. Jack! Ja, Jack war die Lösung!

Er war ein alter Studienfreund von ihr, der Medizin studiert hatte und nun seine Karriere als Notfallarzt im Krankenhaus durchzog. Und außerdem die einzige ihrer Affären, die nicht in Schimpf und Schande und zerbrochenen Vasen geendet war. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Was jedoch noch viel wichtiger war: Jack war Vollblutnerd. Sie hatten sich damals bei einer Runde Tabletop kennengelernt (es musste wohl ganz klischeehaft Dungeons & Dragons gewesen sein) und irgendwie hatte ihre Freundschaft bis heute überlebt. Jack hatte sie zu Tolkien gebracht und Jack war es auch, der sie dazu gedrängt hatte, Elbisch zu lernen. Sie hätte nie gedacht, dass ihr das mal irgendwie nützlich sein würde.

Erst einmal würde sie es mit dem Gröbsten versuchen. Dann würde sie Jack anrufen und darauf hoffen, dass er keinen Bereitschaftsdienst im Krankenhaus hatte und so schnell wie möglich zu ihr kommen konnte. Sie konnte das arme Schwein in ihrem Wohnzimmer doch nicht verbluten lassen – schon allein deswegen nicht, weil sie die Sauerei dann irgendwie erklären musste, und das würde sie höchstwahrscheinlich Kopf und Kragen kosten. Jack musste einfach helfen!

Der Fremde hing immer noch auf ihrem Sofa. Natürlich, wo sollte er auch sonst hin? Er sah nicht aus, als würde er überhaupt aus eigener Kraft irgendwo hin kommen. Das alles war übel, wirklich richtig übel, und sie bezweifelte, dass sie hier das Richtige tat.

»Los, Eri, du schaffst das«, murmelte sie vor sich hin. »Du schaffst es tagtäglich, dich gegen die Wölfe von Wall Street zu behaupten, da wirst du wohl noch 'nen Junkie wieder aufpäppeln können.«

Auch wenn er wirkte, als würde er jeden Moment wegtreten (und das wäre höchstwahrscheinlich gar nicht gut), verfolgte er jede ihrer Bewegung mit all der Aufmerksamkeit, die er noch aufzubringen in der Lage zu sein schien. Verwirrung und Angst standen in seinen Augen, und offenbar verstand er genauso wenig wie sie, was hier gerade passierte, vielleicht sogar weniger.

Eri besah sich das Desaster und wusste sogleich, dass ein paar alte Mullbinden hier herzlich wenig ausrichten könnten. Irgendetwas hatte den Fremden vom Scheitel bis zur Sohle aufgeschlitzt. Nun, vielleicht übertrieb Eri es mit ihrer Einschätzung, aber ob es nun wirklich vom Scheitel bis zur Sohle oder nur die Flanke war, schien für sie gerade kein Unterschied zu machen.

»Das passiert hier alles nicht wirklich, ich will doch einfach nur meinen verdammten Feierabend-Scotch«, sagte sie sich, während sie wiederholt den Kopf schüttelte und versuchte zu retten, was mit ein wenig Mull und Druckkompressen zu retten war.

Der Fremde sah sie für einen Moment stirnrunzelnd an, dann begann er zu reden. Wieder das, was sie für Sindarin hielt, so bekloppt es ihr auch erschien. Sie verstand kein Wort. Jacks Unterricht war einfach zu lange her.

»Sei still, das tut dir nicht gut«, sagte sie, und als sie merkte, dass das etwas zu schroff klang, fügte sie an: »Ich, ähm, ú-peú-pedin, äh, scheiße … ú-pedin, ah! Ú-pedin edhellen. Scheiße, ist das bescheuert.«

»Ú?«, wiederholte er und klang enttäuscht. »Ú-beth?«

Sie verstand schon wieder nichts; sie war ja schon von sich selbst erstaunt, dass sie überhaupt noch genug für einen gestammelten Satz zusammenbrachte. Dennoch schüttelt sie den Kopf.

Das schien ihn auf eine Idee zu bringen, und er sagte wieder etwas. Dieses Mal konnte sie es jedoch nicht mehr als Sindarin erkennen. Sie konnte nicht einmal erahnen, mit welcher Sprache das jetzt Ähnlichkeit haben könnte. Etwas ratlos wiederholte sie daher einfach ihren zusammengestoppelten Satz, um zu verdeutlichen, dass sie immer noch keinen blassen Schimmer hatte, was er da eigentlich von sich gab.

Das schien vollends zu entmutigen. Er sackte noch mehr als ohnehin schon in sich zusammen und legte den Kopf auf die Sofalehne. Nun beobachtete er nicht einmal mehr, was sie tat, und starrte einfach nur mit leerem Blick in den Raum. Irgendwie tat er ihr leid.

Die Mullbinden halfen nicht viel, ganz wie sie erwartet hatte. Nachdem sie alles getan hatte, was sie konnte, stand sie auf und ging in die Küche, um sich das Blut von den Händen zu waschen und ihm ein Glas Wasser zu bringen.

»Im Legolas«, sagte er, als sie ihm das Glas reichte, und deutete mit schwacher Geste auf sich.

»Nimm einfach das nächste Mal nicht die Pillen, die sie dir im Klub andrehen«, entgegnete sie. »Dann passiert so ein Desaster nicht und du halluzinierst nicht, dass du ein Elb wärst. Ich rufe jetzt Jack an. Mellon elia, ja? Er kann helfen. Hoffe ich. Ähm, und ich, nein, im Eri. Irrer Typ.«

»Eri?«, wiederholte er, als müsse er sich an den Klang des fremden Namens gewöhnen. »Estadh chen dail.« Er versuchte sich an einem Lächeln, was jedoch aufgrund der Schmerzen, die er leiden musste, eher in einer Grimasse endete.

»Jaja, und jetzt sei still und lass mich Jack anrufen«, wimmelte sie ihn ab, ohne wieder einmal verstanden zu haben, was er gesagt hatte. »Sonst hast du mir am Ende noch um sonst mein Sofa ruiniert, und das wollen wir ja nicht.«

Sie lief in den Flur zurück und holte ihr Handy aus der Tasche. Dann wählte sie Jacks Nummer und begab sich wieder zurück ins Wohnzimmer. Da bemerkte sie, dass der Fremde wegzutreten drohte.

»Scheiße!«, fluchte sie wieder einmal – sie fluchte eindeutig zu oft an diesem Abend – und sprang an seine Seite. Etwas unsanft schlug sie gegen seine Wange. »Hierbleiben, ja?!« Panik schwang in ihrer Stimme mit.

In dem Moment hob Jack ab. »Hey, Eri, was gibt's? Selten genug, dass du dich meldest.«

»Jack, ich hab hier einen ärztlichen Notfall!« Sie hoffe, dass sie sich noch genug zusammen nehmen konnte, um Jack die Dringlichkeit ihrer Notlage und auch deren Schwierigkeit zu verdeutlichen.

»Was? Dann ruf doch das nächste Krankenhaus aus! Ich bin zu Hause und nicht auf Arbeit!« Er klang nun ganz nach dem Notfallarzt.

»Kann ich nicht, keine Zeit zu erklären. Ich glaub, er stirbt mir hier weg! Komm einfach so schnell wie möglich!«

»Eri, ganz ruhig. Tief durchatmen. Welche Art von Lebensbedrohung liegt vor?«

»Schnittverletzung oder so. Viel Blut. Gott, so viel Blut! Vielleicht ist der Typ in irgendwas Spitzes gefallen, ich weiß nicht.«

»Okay, ich komme. Aber ich verlange eine Erklärung dafür. Das ist so gar nicht typisch für dich.«

»Jaja, komm einfach!«

Bis jetzt hatte sie irgendwie die Fassung wahren können, trotz der fremden Person auf ihrem Sofa, dem ganzen Blut und dieser furchtbaren Verletzung. Aber jetzt, wo der Fremde wegzutreten drohte, begann ihre Fassade doch zu bröckeln. Sollte sie ihm einfach einen Kaffee geben? Blödsinn! Dumme Idee, Eri, ganz dumme Idee, schalt sie sich selbst.

Sie hasste Hilflosigkeit. Nichts tun zu können und aus eigener Kraft nicht weiter zu kommen, war etwas, das ihr ganz und gar widersprach. Wenn sich nur Jack beeilen würde …

Es dauerte über zwanzig Minuten, bis sie Reifen vor ihrer Einfahrt quietschen hörte. In Anbetracht des Londoner Stadtverkehrs war Jack erstaunlich schnell zu ihr gekommen, und dennoch gehörten diese zwanzig Minuten wohl zu den nervenaufreibendsten in Eris Leben. Sie war in der Zeit bei dem Fremden geblieben und hatte versucht, ihn bei Bewusstsein zu halten. Zwar hatte sie nicht viel Ahnung von Medizin, aber sie ahnte, dass es nicht gut sein könnte, wenn er wirklich wegtreten würde. Jedenfalls taten sie das immer in den Arztserien …

Zumindest hatte sie nun erst einmal genug Zeit, um den Fremden genauer in Augenschein zu nehmen. Seiner Kleidung, die sie bisher nur mit einem flüchtigen Gedanken bedacht hatte, widmete sie dabei besondere Aufmerksamkeit. Sie war wirklich seltsam, als käme er direkt von einem dieser Mittelaltermärkte, die es manchmal in der Stadt und im Umland gab. Er war ganz in grünes und braunes Leder gekleidet, das kunstvoll mit zarten Goldfäden bestickt war. Auch seine Stiefel passten zu seinem Mittelalter-Look, und sie sahen zudem nicht einmal billig aus, sondern vielmehr, als wären sie eine aufwendige Maßanfertigung. Wenn er Cosplayer war, dann ein ziemlich guter.

Das brachte sie auf die Idee, in seinen Taschen nach irgendwelchen Papieren zu schauen. Wenn er ihr schon das Sofa vollblutete, dann wollte sie wenigstens wissen, wer er war! Im Legolas, so ein Blödsinn … Da er momentan nicht in der Lage schien, ihr irgendeine Antwort zu geben, beschloss sie einfach, dass es akzeptabel wäre, wenn sie selbst auf die Suche ging.

Zu ihrer Überraschung fand sie jedoch nichts weiter als ein Messer, dass der Fremde sich an seinen Stiefel gebunden hatte. Sie nahm es ihm rasch ab; ein Bewaffneter in ihrem Haus bereitete ihr noch einmal erheblich mehr Unwohlsein. Der Umstand, dass er keine Papiere bei sich trug, bereitete ihr allerdings ebenso erhebliche Sorgen. Es würde Fragen aufwerfen, Fragen, die sie nicht wollte, käme das jemals an die Öffentlichkeit.

Als sie das Auto in ihrer Einfahrt hörte, sprang sie sofort auf und eilte zur Tür. Jack kam nicht einmal zum Klingeln, da hatte sie schon geöffnet.

»Schnell!«, drängte sie, doch es war nicht nötig.

»Wo hast du ihn?«, fragte Jack, während er sich an ihr vorbei drängte. Er hatte einen Koffer bei sich, den Eri als einen handelsüblichen Verbandskasten aus dem Auto erkannte. Es wäre nicht viel, wurde sich Eri bewusst, und wieder kamen die Zweifel auf, ob sie das Richtige tat, nicht beim Krankenhaus anzurufen und stattdessen Jack um verschwiegene Hilfe zu bitten.

»Im Wohnzimmer«, antwortete sie.

Er nickte und ging voran.

»Wie heißt er? Hatte er irgendwelche Papiere bei sich, die ihn identifizieren?«, fragte er weiter.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist alles sehr seltsam, ich verstehe das auch nicht ganz«, erwiderte sie. »Aber das kann wohl erst einmal warten. Es sieht echt übel aus, glaube ich.«

Als sie das Wohnzimmer traten und er sich ein erstes Bild der Situation machen konnte, nickte er grimmig. »Oh ja, das kannst du laut sagen.« Mit wenigen großen Schritten war er bei dem Verwundeten und besah sich den Schaden.

»Seltsam«, murmelte er. »Das sieht aus wie eine Schnittverletzung von einer großen Klinge. Aber vielleicht war es ja auch nur ein Metallsplitter, Bauschutt auf einer Baustelle oder so. Im Krankenhaus könnte ich besser untersuchen, ob innere Organe verletzt sind …«

»Guck dir die Klamotten an«, wies Eri ihn darauf hin. »Vielleicht hat er mit seinen Kumpels Ritter gespielt.«

»Ist jedenfalls erst einmal egal, zuerst müssen wir die Wunde reinigen und dann nähen«, wechselte Jack das Thema. »Eri, du musst mir helfen und mir einen Topf Wasser aufkochen. Darin kochst du die saubersten Tücher aus, die du hast, und sterilisierst eine Nähnadel in einer Kerzenflamme. Eri, du hast doch sicher Wodka oder einen anderen möglichst hochprozentigen und klaren Alkohol im Haus, ich kenn dich doch. Bring ihn mir. Damit reinigen wir die Wunde und sterilisieren den Faden. Heilige Scheiße, muss ich so etwas echt mit einem Haushaltsfaden nähen?«

Zuerst verzog sie das Gesicht, doch dann nickte sie und ging zur Küche. Erst da bemerkte sie den Scotch, der noch immer in der Bar stand, ganz einsam und verlassen. Wenn sie selbst ihren Scotch vergaß, dann stand es übel um ihre Nerven. Sie griff zum Glas und stürzte es hinab. Ihre Strafe war ein Keuchen und Brennen in der Kehle. Keine gute Idee.

Sie machten sich gemeinsam an die Arbeit. Eri war es nicht gewohnt, dass man ihr sagte, was sie machen sollte, aber sie konnte nicht bestreiten, dass sie dieses Mal froh darum war. Jack war ein guter Arzt, der nicht nur mit seinen Patienten Erfolg hatte, sondern auch sehr wohl wusste, wie er mit den Leuten umzugehen hatte, die dem Unfall beiwohnten. Eine Fähigkeit, die er sich in seinen Jahren als Notfallarzt angeeignet hatte und sich immer wieder als nützlich erwies. Er sagte ihr sogar offen, dass es eigentlich nicht nötig war, die Tücher auszukochen, aber sie so zumindest etwas zu tun hatte und es ja nicht schaden konnte.

Er stellte vorerst keine weiteren Fragen und konzentrierte sich auf seine Arbeit, die er mit routinierten und geübten Handgriffen ausführte. Eri tat, was er ihr auftrug, und fühlte sich doch irgendwie nutzlos. Sie versuchte sich damit abzulenken, indem sie überlegte, wie sie dieses Sofa, wenn das alles vorbei war, durch ein neues ersetzen könnte, ohne groß Fragen aufzuwerfen. Wahrscheinlich war die Lösung nur ein saftiger Aufpreis an die Entsorgungsfirma, die sie engagieren musste.

»Wie sieht's aus?«, fragte sie irgendwann, als sie es nicht mehr aushielt. Eigentlich sorgte sie sich ja doch um den Fremden und nicht um ihre Möbel, wenn sie ehrlich war.

»Es wäre besser gewesen, wenn du beim Notdienst angerufen hättest, da ich nicht prüfen kann, ob Organe verletzt sind«, sagte Jack. »Aber ich glaub, wir flicken ihn wieder zusammen, wenn er etwas Glück hat. Mit Nadel und Fanden zum Socken stopfen … Übrigens ist nicht alles Blut von ihm. Da ist auch welches mit ungewöhnlicher dunklerer Farbe.«

Mittlerweile war die Wunde geschlossen und Jack machte sich daran, die Infusion mit isotoner Kochsalzlösung vorzubereiten, um den Blutverlust wieder auszugleichen. Eri hatte keine Ahnung, warum man so etwas im Auto hatte und spontan hervorzaubern konnte, wenn man nicht einmal sterile und selbstauflösende Nähfäden dabei hatte. Ärzte halt.

»Meinst du, es gab eine Schlägerei oder so, wo er mitgemacht hat?« Wieder dieses ungute Gefühl.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Jack. »So eine Färbung habe ich noch nicht gesehen, und ich glaube auch nicht, dass es Tierblut ist. Dieser Typ ist ein einziges Rätsel. Wie kam er überhaupt in dein Haus? Hast du ihn hier abgeladen?«

»Was? Nein!«, rief sie aus. »Ich kam nach Feierabend Heim und fand ihn genau so auf meinem Sofa. Das Komischste ist ja, dass die Alarmanlage nicht ausgelöst wurde.«

Jetzt, wo das Schlimmste überstanden schien, ging ihr selbst auf, wie seltsam dieser Umstand war. Sie stutzte. »Ich sollte sie überprüfen lassen«, schloss sie.

»Dazu würde ich dir raten«, erwiderte er. »Also, was denkst du von der ganzen Sache? Sein Auftauchen, die Verletzung, die Klamotten. Und Papiere hat er auch nicht, sagtest du?«

»Ja, und dieses Messer hatte ich an seinen Stiefel gebunden gefunden«, sagte sie und hielt ihm die Waffe hin. »Das sieht fast aus wie was aus dem Weta Workshop.«

»Und das aus deinem Mund …«

»Jetzt halt dich fest: Er spricht Sindarin.«

»Eri, was war in dem Scotch da gerade?« Jack musterte sie scharf.

Sie erwiderte den Blick empört. »Du weißt, dass ich in meinem Leben nicht immer ganz mit den Normen konform gehe, aber ich habe noch nie, ich wiederhole, nie Drogen genommen, die über Alkohol und Zigaretten hinausgingen. Na ja, und das eine oder andere Aufputschmittel im Studium. Aber das ist Jahre her! Ich sag dir, er spricht Elbisch. Das war ehrlich gesagt der Hauptgrund, warum ich dich angerufen habe, Jack, weil du das schon immer viel besser konntest als ich.«

»Eri, ich bitte dich, das glaube ich dir nicht. Er will wirklich kein Englisch verstehen?« Jack sah sie mit einem ungläubigen Blick an. »Andererseits bist du nicht der Typ Mensch, der seine Freunde einfach so mit einer dämlichen Geschichte hinhält.«

»So, da haben wir's«, sagte sie triumphierend. »Denn du kennst mich ja gut genug dafür. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass es so ist und ich nicht glaube, dass er Englisch versteht. Vielleicht hat er ja zu oft irgendein Zeug genommen, während er Herr der Ringe geguckt hat.«

»Was hat er denn gesagt, fragen wir so«, wollte Jack nun wissen, offenbar die Sache wieder etwas rationaler angehend.

»Das weiß ich nicht«, gestand Eri. »Wie gesagt, du kannst das viel besser als ich. Das einzige, das ich zweifelsfrei verstanden habe, war Im Legolas, und das auch nur, weil die Einführungsszene von Arwen im Film für mich so markant ist.«

»Was? Er hält sich für Legolas? Wie Orlando Bloom sieht er aber nicht gerade aus.« Jack warf einen skeptischen Blick auf den Fremden, welcher nun, nachdem Jack ihn sediert hatte, um die Wunde zu versorgen, mit ruhigem Atem auf dem Sofa schlief und vorläufig aus dem Gröbsten heraus zu sein schien.

»Gemäß des hypothetischen Falles, dass Legolas wirklich vor meiner Tür aufploppt, hätte ich auch ehrlich gesagt nicht erwartet, dass er wie Orlando Bloom aussieht«, bemerkte Eri. »Aber zurück zum Thema: Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Erst einmal sollten wir ihn in ein Bett verfrachten, wo er bequemer liegt als auf deinem Sofa – zumindest für's Erste«, schloss er. »Danach stehen noch ein paar Fragen an.«

»Dann bring ihn in das Gästezimmer hier im Erdgeschoss«, legte sie fest.

»Ich hätte fast damit gerechnet, dass du jetzt einfach einen Schlafsack aus der Kammer holst«, bemerkte er trocken.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und dann? Beim Frühstück immer über ihn drüber steigen? Ist eh schon genug eingesaut hier, da macht das auch keinen Unterschied mehr.«

Jack grinste. »Wie du meinst. Hilfst du mir?«

Gemeinsam schafften sie den Fremden in Eris Gästezimmer. Einer Laune folgend zog sie ihm sogar noch die Stiefel aus und stellte sie neben das Bett. Dann verließen sie den Raum wieder. Eri wollte schon zurück ins Wohnzimmer, doch dann fiel ihr das ruinierte Sofa ein und sie ließ es. Stattdessen blieben sie schlicht im Flur stehen.

»Also: Warum wolltest du nicht ein Krankenhaus anrufen?«, wollte Jack nun wissen.

Eri machte eine unbestimmte Gestik. »Ich dachte, das wäre dir jetzt klar?«, sagte sie. »Stell dir mal vor, ich hätte einen Krankenwagen gerufen. Die hätten sehr gern gewusst, wer er ist und wie er zu mir kam. Und so ein komischer Typ, der auf einmal bei mir auftaucht, wirft doch Fragen auf. Ich bitte dich. Wie hätte ich das verantworten können?«

Er sah sie streng an. »Ist dir klar, dass das ein Menschenleben hätte kosten können?«, sagte er und klang wenig erfreut. »Ich habe zu Hause auch kaum mehr medizinische Ausrüstung als der normale Bürger auch, weißt du. Dass ich wenigstens das Sedativum hatte, war Zufall; so etwas hat man nicht mal eben im Nachttisch. Und das hier ist eigentlich ein Fall für die Notaufnahme, bei dem ich nicht sicher bin, dass ich allein mit dem wenigen, das ich hier habe, genug ausrichten kann. Zumal auch die Polizei mit Sicherheit Interesse an dem Fall hätte. Irgendetwas ist da im Busch. Seltsamer Typ taucht plötzlich in deinem Haus auf, er ist verletzt, redet wirr … Wirklich, Eri, ich glaube, du handelst hier falsch, nur um deinen Namen rein zu halten. Mach das nicht.«

Sie knirschte mit den Zähnen. »Was würdest du denn machen?«, fragte sie und wusste selbst, dass ihr Ton zu kühl war. »Du bist ein guter Arzt, ich vertraue dir und dem Typen scheint es ja bald wieder besser zu gehen. Dann kann er ja wieder verschwinden, und alle sind glücklich. Ende der Geschichte.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Aber du bist eine erwachsene Frau, Eri. Mach, was du willst.«

Sie atmete mehrmals tief durch und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Was für ein Feierabend«, seufzte sie. »So hab ich mir das nicht vorgestellt.«

Jack wirkte mit der Gesamtsituation nicht sonderlich glücklich, aber er schien auch nicht gewillt, Eri weiter ins Gewissen zu reden. »Dann … lass ihn erst einmal einfach schlafen und pass auf, dass er nicht aufsteht. Ich komme morgen wieder und schaue, ob ich etwas aus der Klinik mitbringen kann. Zumindest vor allem einen ordentlichen Faden zum Nähen.«

»Und was kann ich derweil machen?«, fragte sie. Jetzt wieder mit diesem Typen allein gelassen zu werden, behagte ihr nicht ganz. So ganz wollte sie es nicht wahrhaben, aber ein wenig fühlte sie sich von der Situation überfordert.

»Noch einen Scotch trinken und aufpassen, dass er brav liegenbleibt. Ach, und dein Sindarin auffrischen«, war Jacks schlichte Antwort.

»Wow, hilfreich.«

Er zuckte nur mit den Schultern. »Mehr ist momentan schlicht nicht möglich. Der Arzt in mir sträubt sich allerdings dagegen. Meine Güte, das mit einem stinknormalen Haushaltsfaden nähen zu müssen, ist scheußlich.«

»Zumindest scheint er nicht gefährlich«, sagte sie, wenn auch mehr zu ihrer eigenen Beruhigung. »Jedenfalls momentan nicht.«

»Behalt das Messer«, riet er ihr. »Besser ist. Ansonsten hatte er ja nichts bei sich, das als Waffe dienen könnte, oder?«

»Nein, gar nichts. Nur der leere Köcher, aber einen Bogen hab ich jetzt auch nicht gesehen, und auch keine sonstigen Waffen, auch wenn es aussieht, als könnte er noch ein Messer an dem Köcher befestigt haben.«

»Mann, ey, ist das alles verrückt«, seufzte Jack. »Ich glaub einfach nicht, dass das wirklich passiert.«

»Denkst du, mir geht es besser?«, erwidere Eri. »Ausgerechnet mir! Ich fasse es einfach nicht.«

»Ganz ehrlich: Warten wir einfach morgen ab. Dann ist alles etwas ruhiger und wir schauen, wohin das ganze führt.«

Das erste Mal an diesem Abend lächelte sie. »Mensch, Jack, manchmal bin ich echt froh, dass ich dich kenne«, sagte sie.

»Ich sag's ja immer: Es hat einen Grund, dass ich der einzige Kerl bin, den du damals nicht mit 'nem Arschtritt aus der Tür befördert hast!« Er grinste frech.

Sie seufzte, jedoch nur gespielt genervt. »Wenn du nicht willst, dass ich das noch nachhole, hältst du jetzt lieber den Mund.«

»Die Chefin hat gesprochen!« Er stand stramm. »Dann halte ich mich besser dran. Die Chefin sollte dennoch ihre Hausaufgaben machen und ihre Sindarin-Lektionen wiederholen.«

»Haha. Total lustig.« Sie lachte trocken auf.

»Pass auf, am Ende hat dir wirklich ein Elbenprinz dein Sofa ruiniert.«

»Provozierst du den Tritt?!«

Nun musste er herzhaft lachen. »Weißt du, Eri, ich hab es immer an dir gemocht, dass ich dich so leicht reizen kann. Komm schon, das ist lustig.«

»Nein, ist es nicht!«, protestierte sie.

Er wurde wieder ernst. »Hm, gut. Hast eigentlich Recht. Nicht lustig. Nun ja, dann mach ich mich wieder heim. Wenn was sein sollte oder sich sein Zustand verschlechtern sollte, ruf mich sofort an.«

»Nur gut, dass morgen Wochenende ist.«

»Und ich keinen Dienst habe.«

Sie begleitete ihn zur Tür und bedankte sich für eine Hilfe. Dann verabschiedeten sie sich.

Eri würde es natürlich niemandem sagen, aber an diesem Abend kramte sie in der Tat ihre alten Elbisch-Unterlagen hervor.


Im Legolas – Ich bin Legolas, Sindarin

Elio anim! – Hilf mir!, Sindarin

Daro – warte, Sindarin

Limann – schnell, Sindarin [abgeleitetes Adverb von lim]

Ú-bedin edhellen – Ich spreche kein Elbisch, Sindarin [Von Eri fälschlicherweise ohne Lenierung realisiert]

Ú? Ú-beth? – Nicht? Kein Wort?, Sindarin

Mellon elia – Ein Freund hilft, Sindarin

Estadh chen dail. – Ihr nennt Euch schön/lieblich., Sindarin